Sehr informative und kompakte Zusammenfassung. Auch klare Worte (wie gewohnt) von Norbert Röttgen.
Nun kann man ja zur Unterstützung der Ukraine im Verteidigungskampf gegen Russland unterschiedliche Meinungen haben, von sehr pazifistisch bis sehr militärisch geprägt.
Doch was mir immer noch völlig unklar ist:
Was ist das Ziel des Westens und hier speziell der deutschen Regierung?
Die Ukraine soll nicht verlieren und Russland nicht gewinnen, so war eine Aussage.
Heißt das im Umkehrschluss, Russland darf nicht verlieren und die Ukraine nicht gewinnen?
Also ist das Ziel „inoffiziell“, beide Seiten ausbluten zu lassen, bis man sich an den Verhandlungstisch setzt und die Ukraine dauerhaften Gebietsabtretungen zustimmt, Russland weitere militärische Aktionen verspricht zu unterlassen (wie glaubhaft?), um dann wieder weitermachen zu können wie vor 2022?
Ist das Scholz Kalkül?
Also ich sehe (wie in Afghanistan) keinen wirklichen Plan oder eine Idee, wie man sich das langfristig vorstellt. Nur ein reaktives situatives Handeln, häppchenweise und immer darauf bedacht, sich nicht zu sehr festzulegen oder Russland auf die Füße zu treten.
Marina Weisband hat sich diese Woche bei Maybrit Illner getraut zu sagen, was die ganzen Politiker und Experten sich nicht zu sagen trauen: Es gibt keine Strategie des Westens - jedenfalls keine einheitliche. Und vor allem gibt es keine ehrlichen Ansagen, was man eigentlich will - und was nicht.
Die verschiedenen Interessen unterschiedlicher Staaten bzw. Regierungen lassen sich daher nur aus deren Handeln rekonstruieren.
Bei den USA scheint das Hauptinteresse zu sein, dass die russischen Streitkräfte sich in der Ukraine möglichst stark und lange zermürben.
Deutschland scheint vor allem das Interesse zu haben, sich nicht mehr als nötig gegen Russland zu stellen.
Für Polen, Tschechien und die baltischen Länder ist die All-in-Unterstützung für die Ukraine sowohl eine Selbstverständlichkeit als auch ein Muss (weil sie sich potenziell in derselben Situation sehen).
Die Taurus Diskussion fühlt sich an wie die Panzerdiskussion vor gut einem Jahr. Was hören wir heute über die Panzer? Und auch die Aussagen der Politiker dazu (und auch die von Phllip und Ulf) sind wieder dieselben. Vermutlich auch hier wieder mit demselben Ausgang.
Überhaupt nicht geredet wird darüber, wer das alles bezahlt. Schulden sind es nicht, also wird alles über den ohnehin strapazierten Haushalt bezahlt. Und neue Wege auf der Einnahmenseite werden auch nicht erschlossen, dank der FDP. Also bezahlen wir es mit Kürzungen woanders. Größtenteils im Sozialbereich. Sprich, die Schwächsten der Gesellschaft bezahlen die Waffen an die Ukraine. Das war aber leider kein Thema in dem Kontext.
Wenn ich den Aussagen von Carlo Masala, die ich hier mal zusammengefasst habe
folge, dann erscheint das Afghanistanszenario tatsächlich als logisches Ziel. Russland muss erkennen, dass es keine langfristigen Gebietsgewinne mehr erreichen kann. Die Ukraine darf aber nicht so stark werden, dass sie Krim und Donbass zurückgewinnen kann, sonst verringert das den Verhandlungsspielraum und könnte Putin innenpolitisch ins Wanken bringen.
Es ist schrecklich für die Ukraine, aber die Strategie wäre nachvollziehbar.
Sicher hat @flixbus aber recht, dass die Strategie bestimmt nicht unumstritten wäre und die osteuropäischen Staaten wohl eher auf einen fulminanten Sieg der Ukraine setzen. Nur sind die innerhalb der NATO nur eine relativ kleine Stimme.
Zum Thema Verhandlungen:
Dem Wall Street Journal wurde der Entwurf für einen Friedensvertrag zwischen Russland und der Ukraine vom 15. April 2022 zugespielt. Ein Artikel (https://www.wsj.com/world/russia-ukraine-peace-deal-2022-document-6e12e093) fasst die Inhalte des 17-seitigen Dokuments zusammen. Die wesentlichen Punkte:
Die Ukraine darf EU-Mitglied werden
Die Ukraine soll ein „dauerhaft neutraler Staat“ bleiben, der „sich nicht an Militärblöcken beteiligt". Eine NATO-Mitgliedschaft wird explizit ausgeschlossen.
Auf dem Gebiet der Ukraine sind keine ausländischen Waffen erlaubt „einschließlich Raketenwaffen jeglicher Art, Streitkräfte und Formationen“
Das ukrainische Militär soll auf eine bestimmte Größe reduziert werden. Erlaubt sein sollen nur noch 85.000 Soldaten, 342 Panzer und 519 Artilleriegeschütze (Die ukrainischen Unterhändler wollten 250.000 Soldaten, 800 Panzer und 1.900 Artilleriegeschütze durchsetzen). Ukrainische Raketen sollten eine maximale Reichweite von 40 Kilometern haben.
Die Krim bleibt weiter unter russischer Kontrolle.
Die russische Sprache soll überall in der Ukraine in Regierung und vor Gerichten gleichberechtigt mit der ukrainischen Sprache verwendet werden (der Klausel stimmte die Ukraine nicht zu)
Die Zukunft der seit 2014 von Russland besetzen Gebiete in der Ostukraine erwähnt der Entwurf nicht. Sie sollte in persönlichen Gesprächen zwischen Putin und Selenskyi geregelt werden
Der Vertrag sollte von ausländischen Mächten garantiert werden. Namentlich genannt werden die USA, Großbritannien, China(!), Frankreich und Russland(!).
All diese Länder sollen sich verpflichten, „internationale Verträge und Vereinbarungen zu kündigen, die mit der ständigen Neutralität der Ukraine unvereinbar sind“ – das schließt explizit auch bilateraler Militärhilfe mit ein.
Außerdem wollte Russland, dass sich im Falle eines Angriffs auf die Ukraine alle Garantiestaaten auf eine Reaktion einigen müssen. Im Klartext: wenn Russland selbst angreift, gibt es keine Reaktion.
Die Ukraine wollte für den Fall eines Angriffs eine Schließung des ukrainischen Luftraums – dem wollte Russland nicht zustimmen. (1/2)
Das WSJ schreibt dazu: „Das Dokument zeigt, welche weitreichenden Zugeständnisse die Verhandlungsführer der ukrainischen Seite in Erwägung zogen, als Kiew in den ersten Wochen des Krieges Schwierigkeiten hatte.“ Die Verhandlungen seien sogar noch bis Juni 2022 fortgesetzt worden, bevor sie endgültig scheiterten.
Die Zeitung zitiert Keir Giles, Direktor des Conflict Studies Research Centre – eines britischen Thinkstanks, der sagt, so ein Abkommen „überlässt das Land der Gnade Russlands, wenn sich die Invasion in Zukunft wiederholt“. Er weist auch darauf hin, dass Russland seit 2014 nach Angaben des Thinktanks Chatham House mehr als 400 internationale Verträge und Konventionen verletzt habe. Auch frühere Waffenstillstände oder Friedensverträge Russlands mit/in Georgien, Syrien und der Ukraine seien immer wieder gebrochen worden.
Spannend ist auch, was Russland zu diesem Leak sagt: Laut Moscow Times (Kremlin Says Will Not Reveal Details of ‘Obsolete’ 2022 Ukraine Peace Deal - The Moscow Times) bestätigt Kreml-Sprecher Peskow, dass es sich um einen Text handelt, auf den sich beide Vertragsparteien geeinigt hätten. Dieser sei jedoch nicht mehr aktuell, da die Regionen Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson inzwischen laut Verfassung Teil Russlands seien – sprich: einen „Frieden“ bietet Russland nur unter der Bedingung an, dass die Ukraine sich quasi dauerhaft entwaffnen lässt und 6 ihrer 24 Regionen an Russland abtritt. (2/2)
Hinsichtlich möglicher Verhandlungen hiesse das, alle möglichen Lösungen, die mit Russland in Frage kämen, gingen auf jeden Fall zu Lasten bzw. zum Nachteil der Ukraine aus. Im besten Fall Abtretung von ukrainischen Gebieten dauerhaft an Russland und dem ständigen Ausgeliefert sein der Gnade Putins.
Aus Russlands Sicht ginge es eher um die Auflösung der Ukraine zugunsten Russlands.
Wenn also Verhandlungen nicht zielführend (?) sind, man aber auch keine eindeutige militärische Lösung will, drängt sich schon der Verdacht auf, das man die Gelegenheit nutzt, um wieder üppig aufzurüsten. Also zugunsten der Rüstungsindustrie.
Aber das wäre wieder zu platt gedacht, oder?
Sicherlicht gibt es Leute - nicht zuletzt in Kreisen von Militär und Rüstungsindustrie, die es gerne sehen, wenn wieder sehr viel mehr Geld in Rüstung und Militär fließt. Aber die entscheidende Frage bleibt doch: wozu? Wenn Deutschland jetzt nicht willens ist, tatsächlich das zu tun, was in all den Sonntagsreden seit zwei Jahren beteuert wird („Putin darf damit nicht durchkommen…“), welchen Grund gibt es dann, anzunehmen, dass Deutschland künftig willens sein wird, das zu tun? Ganz abgesehen davon, dass Aufrüstung alleine m. E. noch lange nicht bedeutet, dass Europa ohne die USA wirklich militärisch schlagkräftig ist.
Eben.
Auch da fehlt mir die langfristige Strategie.
Das Sondervermögen für die Bundeswehr hat mittlerweile des Beigeschmack, im Lichte des Ukraine Konfliktes politisch Punkte zu sammeln. Trotz der Zusage von Scholz, auch künftig das 2% Ziel der NATO zu halten (wie genau verrät er nicht), hat man nicht den Eindruck, das es Scholz tatsächlich um eine nachhaltige Verteidigungsfähigkeit Deutschlands geht.
Oder welches Maß an militärischen Fähigkeiten man für notwendig hält.
Es wirkt alles so unentschlossen und parteitaktisch motiviert. Die SPD als Friedenspartei, die sich aber Russland weiter warm halten will.
Skurril.
Edit: Das Putin kurz nach der Wahl von Scholz zum deutschen Bundeskanzler in die Ukraine einmarschiert, ist auch ein interessantes Timing.
Hält er Scholz für das schwächste Glied in der Kette westlicher Staatslenker?