Ich bin beim Thema Lieferung schwerer Waffen ja weiterhin überrascht, wie sicher viele Menschen sich in ihrer Einschätzung sind und wie schnell manche Menschen (sowohl in der Öffentlichkeit als auch im Bekanntenkreis) ihren Standpunkt massiv verschieben, ohne, dass sie dabei merkbar nachdenklich werden. Vielleicht ist das die „Selbstgewissheit“, die Habermas kritisiert hat. Falls ja kann ich das gut verstehen.
Nach etlichen Diskussionsrunden wird auch für mich das Bild eindeutiger. Klar ist für mich inzwischen, dass die Frage nach den schweren Waffen eben keine ist, die an grundlegenden moralischen Standpunkten hängt, sondern einzig an der Einschätzung der Lage. Sehr überzeugend haben das m.E. Ranga Yogeshwar und Marina Weisband trotz ihrer sehr verschiedenen Positionen übereinstimmend herausgearbeitet.
Waffenlieferungen in Krisengebiete grundsätzlich abzulehnen hat als Position genauso wenig eine absolute Gültigkeit, wie die Forderung, dass die Ukraine „nicht verlieren darf“. Mit anderen Worten: sowohl die grundlegenden moralischen Positionen der Befürworter als auch der Ablehner der Lieferung von schweren Waffen sind im Allgemeinen gleichsam sinnvoll. Allerdings ist eine rein gesinnungsethische Position immer sinnfrei. Zielführender wäre dagegen eine verantwortungsethische Position, die sich nach dem Lagebild richtet. So trivial das vielen erscheinen mag, hat es für mich vieles klarer gemacht.
Gut ausgedrückt hat das auch nochmal die Konfliktforscherin Nicole Deitelhoff, indem sie sagte, dass sich beide Positionen gleichermaßen auf Spekulationen berufen. Spekulationen nicht zuletzt auf Putins Verhalten, das niemand wirklich einschätzen kann.
Damit kann man beide Positionen ad absurdum führen. Beispiele:
Position Pro (Lieferung schwerer Waffen) sagt, dass man Waffen liefern muss, weil die Ukraine nicht verlieren dürfe. Nur – was passiert denn, wenn die Ukraine trotz Waffenlieferung zu verlieren droht? Ein militärisches Eingreifen der NATO wird auch diese Gruppe nicht fordern. Am Ende hätte man also dasselbe Ergebnis nur mit signifikant mehr Leid und Kriegsverbrechen.
Position Kontra sagt, dass man den Konflikt durch Waffenlieferung nuklear eskalieren könnte und sich Verhandlungsoptionen verbaut. Aber was, wenn Putin jegliche Verhandlung ablehnt? Dann haben wir ihm nur den Durchmarsch einfacher gemacht und die nukleare Drohung kann er dann beim nächsten Einmarsch wieder aus der Tasche ziehen (hat ja gut funktioniert).
Das Spiel kann man mit allen Aspekten der Diskussion durchspielen und man wird sehen, dass am Ende immer eine nicht verifizierbare Spekulation steht. Den Schritt kann man also überspringen.
Im Gegensatz zur Corona-Krise, bei der sich ebenfalls die Welt auf eine völlig neue Situation einstellen musste, werden die so essentiellen Erkenntnisse viel weniger öffentlich gewonnen, sondern vielfach durch Geheimdienste und nicht öffentliche bilaterale Gespräche (aus z.T. guten Gründen). Während ich mir bei Corona sehr wohl zugetraut habe, Politikern konkrete Vorwürfe in der Sache zu machen, finde ich das hier deutlich schwieriger. Nicht nur, weil sie einen Informations-Vorsprung haben, sondern auch, weil sie ihre Verhandlungspartner z.B. in Russland z.T. selbst am besten kennen und einschätzen können.
Ich kann Olaf Scholz wohl für seine schlechte Kommunikation kritisieren, aber für seine Entscheidung? Woher weiß ich denn auf welcher Grundlage er sie getroffen hat? Tatsächlich gehen die Berichterstattungen nun auch vermehrt in diese Richtung.
Die Entscheidung ist Pro schwere Waffen gefallen und das erscheint sinnvoll. Aber das Dilemma ist damit nicht vorbei. Nach Einschätzungen von US-Geheimdiensten nimmt das Eskalationspotential des Konfliktes weiter zu. Wir werden also wohl wieder an einen Punkt kommen, an dem wir folgenschwere Entscheidungen fällen müssen. Ich hoffe, dass wir dann als Gesellschaft sofort auf Basis von Lageeinschätzungen und Unterstützungsbereitschaft / Güterabwägung diskutieren und uns nicht wieder grundlegende moralische Standpunkte um die Ohren hauen.