Dass es wieder etwas juristisch wird, tut mir schon im Vorfeld leid, doch sprechen wir hier von einer ziemlich umfassenden Reform der Allgemeinheit der Wahl, da muss man sich einfach aus einer Verfassungsrechtlichen Sichtweise nähern. Ich sage aber auch noch etwas zu der praktischen Umsetzung, denn ich bin hier in vielen Punkten bei @Daniel_K .
Ich möchte nochmal meinen Punkt von meinem vorherigen Kommentar verdeutlichen, und da das Thema des Wahlrechts für behinderte Menschen angesprochen wurde, ist es eine gute Idee, dies nochmal zu betrachten, da sich die Argumentation davon gut auf das Familienwahlrecht übertragen lässt.
Ich stelle jetzt kurz ein Urteil des BVerfG dar – erstmal nur den blanken Inhalt und dann, was es für das Familienwahlrecht bedeutet. Ich verlinke das Urteil unten, da es aber sehr lang ist (aber unbedingt lesenswert!) zitiere ich wesentliche Passagen und schreibe die Randnummern dazu.
Das BVerfG (BVerfG, Beschluss vom 29.Januar 2019 – 2 BvC 62/14) hat sich mit § 13 Nr. 2, 3 BWG der alten Fassung (a.F.) auseinandergesetzt. Dort war ein ziemlich kategorischer Wahlrechtsausschluss für Behinderte, die einen Betreuer nach § 1896 BGB benötigten und zweitens Straftäter, die nach § 63 in Verbindung mit § 20 StGB aufgrund von Schuldunfähigkeit in einem psychiatrischen Krankenhausuntergebracht sind, vorgesehen. Beide Normen wurden, richtigerweise, vom BVerfG damals als verfassungswidrig betrachtet (und finden sich deswegen nicht mehr im Bundeswahlgesetz vor).
Art. 3 III 2 GG sieht nicht nur ein umfassendes Diskriminierungsverbot für Behinderte, sondern auch ein Bevorzugungsgebot vor. Dies, in Verbindung mit dem demokratietragenden Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl, Art. 38 I 1 GG, knüpft enorm hohe Anforderungen an Wahlausschlüsse an. Kurz gesagt: Der Grund, warum ein dermaßen kategorischer Ausschluss der besagten Gruppen verfassungswidrig war, ist der, dass sie zu sehr über einen Kamm geschert wurden; Im Beschluss finden sich Belege für zu große Verallgemeinerungen in der Rechtspraxis, medizinisch nicht indizierte Schlussfolgerungen usw. Folge: Es handelt sich um verfassungswidrige Normen, da sie willkürlich und nicht verhältnismäßig waren.
Aber: So enorm wichtig dieses Urteil für die Gleichheits- und besonders Behindertenrechte war, hat das Bundesverfassungsgericht folgendes unmissverständlich deutlich gemacht:
Es ist die Aufgabe des Gesetzgebers, die Allgemeinheit der Wahl so inklusiv wie möglich zu gestalten. „Doch auch der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl unterliegt keinem grundsätzlichen Differenzierungsverbot“ (Rn. 43). Und nun bestätigt den BVerfG das, was ich im vorherigen Kommentar dargestellt habe in den Randnummern 44 und 45:
„Zu den Gründen, die geeignet sind, Einschränkungen der Allgemeinheit der Wahl und mithin Differenzierungen zwischen den Wahlberechtigten zu legitimieren, zählen insbesondere die mit demokratischen Wahlen verfolgten Ziele der Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes […]. (Dazu) gehört die Sicherung der Kommunikation der Wahl.
Dem liegt zugrunde, dass die Demokratie, soll sie sich nicht in einem rein formalen Zurechnungsprinzip erschöpfen, freie und offene Kommunikation zwischen den Regierenden und den Regierten voraussetzt. […]. Nur auf dieser Grundlage kann der Wahlakt die ihm zugedachte integrative Wirkung entfalten*. Ein Ausschluss vom aktiven Wahlrecht* kann daher verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein, wenn bei einer bestimmten Personengruppe davon auszugehen ist, dass die Möglichkeit der Teilnahme am Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen nicht in hinreichendem Maße besteht."
Konkret heißt dies: Wir haben auf der einen Seite die Anforderungen an den Gesetzgeber, durch einfache Gesetze (vgl. dazu Art. 38 III GG) die Allgemeinheit der Wahl zu gewährleisten, und zwar so inklusiv wie möglich. Bei Behinderten tritt Art. 3 III 2 GG als besondere Anforderung hinzu.
Auf der anderen Seite aber steht der dargestellte Charakter der Wahl, dazu das obige Zitat aus dem Beschluss des BVerfG.
Im Bezug auf Behinderte hat der Gesetzgeber mit § 13 Nr. 2, 3 BWG a.F. also eine rote Linie überschritten, da er nicht differenziert hat, ABER: Dass Behinderte deswegen nun generell und immer wählen dürfen, heißt dies in der Konsequenz eben nicht. Denn wie das Urteilsagt, kann auch bei manchen Personengruppen ein Wahlrechtsausschluss gerechtfertigt sein. Auch bei Behinderten kann dies der Fall sein, denn wie das BVerfG in Rn. 58 sagt:
„Ein zwingender Grund [zur Einschränkung des Wahlrechts] liegt vor, wenn einer Person gerade aufgrund ihrer Behinderung bestimmte geistige und körperliche Fähigkeiten fehlen, die unerlässliche Voraussetzung für die Wahrnehmung eines Rechts sind.“
Deswegen möchte ich deinen Punkt aufgreifen, @ThorstenIb , und dir Recht geben: Diese Argumentation würde in der Tat völlig zusammenbrechen, wenn Behinderte wählen gehen können und das tun sie dank des Urteil ja glücklicherweise auch in einer viel inklusiveren Weise. Aber mit dieser sehr wichtigen Differenzierung: Bei aller Stärkung der Allgemeinheit der Wahl und Erstreckung dieser auf Behinderte steht auf der anderen Seite der dargestellte Charakter der Wahl, welcher seinerseits auch Verfassungsrang hat. Und eine Einbeziehung von Menschen, wie sie das BVerfG in Rn. 58 des Beschlusses (vgl. oben) dargestellt hat, würde wiederum diesen Charakter letztlich verletzen können.
Das BVerfG greift dann noch kurz die Argumentation des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf, welcher sagt, vgl. dazu Rn. 81 f., dass ein legitimes Ziel der Einschränkung des Wahlrechts in der Beschränkung auf Menschen besteht, die die Folgen ihres Handelns zu beurteilen vermögen. Dieses zugegeben sehr vage Urteil wird vom BVerfG im Anschluss, Rn. 82, so zusammengedampft, dass auch der Rechtsprechung des EGMR kein absolutes Wahlrechtsverbot für Menschen mit Behinderung entnommen werden kann.
Wendet man diese Rechtsprechung analog für das Familienwahlrecht an, ergibt sich folgendes. Die „Personengruppen“ (welche das BVerfG mit dieser Formulierung bewusst sehr allgemein gefasst hat), die aufgrund all der oben genannten Gründe eben nicht Teil dieses demokratischen Integrationsvorgangs der politischen Willensbildung des Volkes sind (vgl. dazu nochmal Rn. 44, 45), zählen auch Babys und Kleinkinder. @Daniel_K , ich gebe dir ja völlig recht. Die Fiktion, so wie du sie darstellst, ist in der Tat völlig weltfremd. Aber es stand mit keinem Wort von mir zur Debatte, ob Kinder mit 16, 14 oder von mir aus auch 12 Jahren nicht wählen sollen. Im Gegenteil habe ich doch gesagt, dass Grenze, die zwischen der Allgemeinheit der Wahl (und hier konkret nur auf das Wahlalter bezogen) und des besagten Charakters der Wahl (Rn. 44, 45) durch den Gesetzgeber durchaus beeinflusst werden kann, ich bin da doch völlig bei dir. Die Frage, die sich hier aber stellt ist, und hier wird das oben dargestellte Urteil wichtig:
Wie weit kann man das Wahlalter der Menschen herabsetzen, bis die Schwelle überschritten ist, bei der man von einem Menschen sprechen muss, von denen das BVerfG spricht, wenn es sagt, dass jene Menschen die Möglichkeit der Teilnahme am Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen (nicht haben). Für die ganz konkrete Formulierung siehe nochmal Rn. 58, oben zitiert.
Wendet man diese Formel nun auf unsere Debatte an, kommt man zu folgenden Ergebnissen:
Wahlrecht für…
- 16-jährige? Auf jeden Fall!
- 14-jährige? Hell yeah!
- Zwölf-jährige? Und wie!
- Babys? Nein.
Babys, und diese sollen nach deinem Vorschlag @ThorstenIb, ja mit einem Wahlrecht (treuhänderisch durch die Eltern ausgeübt) ja ausgestattet werden, sind genau die Personengruppe, von denen das BVerfG spricht, wenn es sagt, dass unerlässliche geistige und körperliche Fähigkeiten zur Ausübung eines Rechts fehlen. Dann würden diese Stimmen nämlich genau dazu degradiert werden, was das BVerfG in Rn. 45 sagt: Einer Erschöpfung der Stimmen in einem reinen Zurechnungsprinzip.
Ich hoffe, meinen Punkt deutlich gemacht zu haben. Wie gesagt lässt sich aus dieser Argumentation des BVerfG nicht ableiten, dass meinetwegen Jugendliche nicht wählen dürfen. Die Frage ist aber, wie weit man die Schwelle nach unten schieben darf, bis es verfassungswidrig wird. Und diese ist bei Babys und Kleinkindern, mithin bei diesem umfassenden Familienwahlrecht, definitiv erreicht.
https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2019/01/cs20190129_2bvc006214.html
Zur Praktischen Umsetzung folgt ein eigener Kommentar, in dem ich aber @Daniel_K in seinen Gegenargumenten zum Familienwahlrecht vorbehaltlos zustimme.