Für mich bleibt ein wichtiger Aspekt – nämlich der „soziale Kit“ in der Gesellschaft – bei der Debatte häufig unberücksichtigt. Einige Gedanken:
Seit heute ist in Berlin PrioGruppe 3 freigegeben. Dadurch bekam ich mit, wie in einzelnen Berufsgruppen – ich bin Rechtsreferendar – eine kreative Auslegung der Priorisierungsbestimmungen angegangen wird. Dabei wurde mir klar: Spätestens jetzt beginnt die Zeit der „Findigkeit“, noch ärger wird es, wenn die Priorisierung ganz fällt, Impftermine aber gleichzeitig noch begrenzt sind. Dann gilt: Wer kennt einen Hausarzt wie gut? Wer hat Zeit auch 20 Ärzte abzutelefonieren? Wer kann es sich leisten in eine Nachbarstadt zu fahren um sich dort impfen zu lassen usw.
Es wird hartnäckige Personen geben, und es wird Personen geben, die mal beim Hausarzt anrufen und dort erfahren, dass aktuell nichts frei ist und sie werden es dann in einem Monat nochmal versuchen.
Meine Vermutung ist: Der hartnäckige Teil der Bevölkerung bzw. jener, der die überobligatorischen Bemühungen (s.o.: Zeit, Fahrtwege, Bekanntschaften) erbringt, ist tendenziell der „privilegierte“ (untechnisch) Teil der Gesellschaft. Überspitzt ausgedrückt: Von nun an werden sozial Bessergestellte geimpft, sozial benachteiligte Gruppen (Stichwort z.B. auch Deutschkenntnisse) erst, wenn es wirklich (!) niedrigschwellig Impftermine gibt (Juli? September?). Was hat das mit der Rückgewähr von Freiheitsrechten zu tun?
Nun: Der Staat gewährt Freiheitsrechte dann vornehmlich folgenden zwei Gruppen zurück: 1. vulnerable Bevölkerung (bis jetzt geimpfte Personen) und 2. hartnäckige privilegierte Personen ohne Impf-Prio. [vereinfacht, medizinisches Personal etc. hier mal ausgeklammert, da derartige Gruppen für die Gesamtbevölkerung nicht zu stark ins Gewicht fallen dürften]
Wenn nun ein Rechtsreferendar einer Wirtschaftskanzlei (derzeit Home-Office), weil er über drei Ecken persönlich einen Hausarzt kennt, eine Impfung erhält, eine Person im Lager von Amazon aber online nur die Ausbuchung der Impfzentren angezeigt bekommt und keinen wohlgesonnenen Hausarzt hat, dann bekommt die „Rückgewähr von Freiheitsrechten-Debatte“ einen anderen Zungenschlag finde ich. Für den „sozialen Kit“ ist diese Situation nicht förderlich. Umso weniger, wenn sich ungeimpfte Personen für das Ausleben von Freiheitsrechten von Geimpften in die Gefahr einer Ansteckung begeben. Hier geht es ja nicht mehr darum eine Runde Bridge im Pflegeheim zu ermöglichen, sondern darum, dass eh schon privilegierte Teile der Bevölkerung (ohne aus irgendeinem Grund ein Vorrecht zu besitzen) früher in den Genuss ihrer Freiheitsrechte kommen, während eh schon benachteiligte Gruppen bei ihrer (nicht vorwerfbaren) Beschreitung des regulären Wegs mit ihrem Impftermin und damit auch ihren Freiheitsrechten (noch weiter) nach hinten gedrängt werden.
Gewiss: Diese Strapazen für den sozialen Kit in der Gesellschaft lassen sich schwer in eine rechtliche Dimension gießen.
Und es gibt auch eine Lösung: Wirklich ganz aktiv in die Breite gehen mit den Impfungen. Erste Impf-Teams in sozialen Brennpunkten (dort ohne Priorisierung) sind ein guter Beginn. Ebenfalls ist zu hoffen, dass Ärztinnen und Ärzte auch die sozial benachteiligten Gruppen auf dem Schirm behalten.
Anderenfalls habe ich die Sorge, dass in den Sommermonaten „die Upperclass“ (nicht mal unbedingt finanziell qualifiziert) ihre Freiheitsrechte feiert, während die eh schon stärker abgehängten wegen ihrer Informations-, Zeit- und anderer Ressourcendefizite in die Röhre gucken, bis ein tatsächlich breitflächiges Impfangebot besteht.