Bodycount-Kalkulationen als alleiniges Kriterium für die richtige Impfstrategie sind fragwürdig.
Bedürftigkeit ist kein objektives Kriterium, sondern wird oft eher so über den Daumen gepeilt. Inzwischen weiß man z.B., dass Asthmatiker, die man ja in Prio 2 einsortiert hat (!), vor schweren Verläufen von Corona sicherer sind als Gesunde. (zB hier). Hat das Auswirkungen auf die „Bedürftigkeit“? Nein. Und das sind 8 Millionen Menschen! Man müsste auf Grundlage wissenschaftlicher Daten also direkt ein Viertel der Risikopatienten wegstreichen und zwei Priorisierungen tiefer einsortieren. Und da haben wir uns die anderen „Risikogruppen“ noch gar nicht angeschaut. Gleichzeitig sind einige Risikofaktoren überhaupt nicht berücksichtigt: zB Geschlecht obwohl von Anfang an bekannt war, dass Männer ein in der Größenordnung von 1.5 bis 2 mal höheres Risiko haben an der Erkrankung zu sterben als Frauen.
Ich als Entscheider würde Impfungen komplett auslosen mit der Möglichkeit das Gewinnerlos zu übertragen.
Das Problem ist auch, dass der Nachweis der Impfberechtigung als Kontaktperson einer pflegebedürftigen Person (zumindest hier in Hamburg) Par. 3 (1) 3. a) CoronaImpfV weder geprüft noch dokumentiert wird. Da kann Oma mir Pflegestufe oder einer der Krankheiten gem 2. a) - k) hunderte von Kontaktpersonen benennen, ohne dass das jemals auffällt. Ich schätze, dass ist auch der Weg, wine Impftermine über ebay verkauft werden können.
Das ist in BaWü genau so. Zwischenzeitlich war man dazu übergegangen, einen Nachweis der Pflegekasse zu fordern, hat das aber wieder zurückgenommen, sodass für Kontaktpersonen für Ü70-jährige wieder ein Altersnachweis reicht. Vermutlich ist bei den Nachweisen der Pflegebedürftigkeit irgendwas nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick scheint.
Ich stimme zu, dass es auch insgesamt Probleme bei der Prio-Gruppeneinteilung gibt. Dass es dabei auch umstrittene Entscheidungen gibt, wie Peter sie beschreibt, sehe ich auch. Aber genau deswegen sollte man mmn. auch eigene Verantwortung übernehmen und überlegen, ob man nicht noch einen Monat oä warten kann. Bei 10-20.000 jeden Tag neu dazu kommenden Infizierten, macht das einen Unterschied.
Wie ich geschrieben habe, meine ich nicht die jungen Menschen, die wirklich häufig Kontakt zu besonders gefährdeten haben.
@max1 s Meinung kann ich nachvollziehen, denke aber nicht, dass nur weil manche Menschen sich weniger solidarisch verhalten, ich dadurch aus meiner eigenen Verantwortung entlassen bin.
Und ich kann auch verstehen, dass die Leute keine Lust mehr haben zu warten und das Gefühl haben, sie müssten die Dinge selbst in die Hand nehmen. Aber wie @LukasW21 schreibt, gründet sich die Entscheidung meiner Meinung nach häufig auf die Fehlannahme, dass die gefährdeten längst geimpft sein. Deshalb fände ich es gut, wenn dieser Punkt noch mehr kommuniziert würde, zum Beispiel in der Lage.
Ich würde mir wünschen, dass man sich vor der Impfung fragt: Brauche ich die Impfung im Homeoffice arbeitend wirklich zurzeit dringender als der_die 59jährige Person mit leichten Vorerkrankungen, die noch nicht an eine Impfung kommt? Oder kann ich noch ein paar Wochen warten?
Der Nachweis für „pflegebedürftig“ ist eigentlich ziemlich klar: Entweder Bestätigung der Pflegestufe durch die Pflegeversicherung (ist ein Standardformular) oder ein ärztliches Attest über eines der Krankheiten in der Liste gem. § 3 (1) 2. a) - k) CoronaImpfV. Allerdings stecken bei letzterem die Massenverwaltung in den Impfzentren die Flügel, weil sie das nicht beurteilen können (daher sollte das Attest idealer Weise die jeweilige Formulierung der Verordnung übernehmen).
Viel kritischer ist die formlose Benennung der Kontaktpersonen. Zwei Kontaktpersonen darf pflegebedürftige Person benennen, die dann impfberechtigt (Prio 2) sind. Aber niemand kann aktuell prüfen, wie viele Kontaktpersonen die pflegebedürftige Person bereits benannt hat. Theoretisch müssten diese Kontaktpersonen erfasst werden und wenn dann eine 3. Kontaktperson aufschlägt, müsste im Impfzentrum und bei den Hausärzten „ein rotes Lämpchen aufleuchten“. Und das Bundesländer-übergreifend. Das wäre der deutsche Perfektionismus, den wir aktuell für die Geschwindigkeit opfern müssen. Mit der Folge, dass es Menschen gibt, dies das auszunutzen wissen und sich vordrängeln.
In „Freiheiten für Geimpfte“ hatte @Valle s Kommentar auch relevante Überlegungen angestoßen. Die verlinke ich mal. Auch um das Thema insoweit hierherzuholen.
Mir fehlt hier aber noch die Plausibilität (empirischer Nachweis scheint mir gerade schwierig), welche nahelegt, dass die individuelle Entscheidung junger Menschen überhaupt aber auch relativ zu den anderen Akteuren zu einem relevanten Problem macht. Die gesellschaftliche Stellung, wie Ressourcen junger Menschen legen dies nicht nahe.
Andernfalls ist es eine abstrakte Tugenddiskussion, die man privat führen kann aber als öffentliche Diskussion bestenfalls irrelevant ist, schlimmstenfalls von anderen problematischeren Akteuren ablenkt. Außerdem schließt es bissle (jetzt nicht du persönlich du verweist ja auch Erfahrungen) an langweilige Klischees gegenüber jungen Leuten an.
Die Plausibilität kann ich wie du schreibst natürlich auch nicht bewiesen empirisch untermauern. Mein Punkt ist ja auch nicht, dass sich alle jungen Menschen zurzeit vordrängeln, sondern vielmehr geht es mir darum, dass man öffentlich darüber diskutiert, ob jede Möglichkeit an eine Impfung zu kommen zurzeit auch genutzt werden sollte und dass die Gegenargumente (Vor allem: Es gibt noch nicht genug Impfstoff) noch einmal breiter bekannt oder bewusst gemacht werden.
Ansonsten kann ich zu der Plausibilität anführen, dass es wie Til beschreibt, recht einfach möglich ist, sich diese Bescheinigung von den Großeltern oä ausstellen zu lassen. Das können junge Menschen relativ leicht, soweit sie darüber informiert sind, die sprachlichen Möglichkeiten haben und eben Kontaktpersonen im Land haben, die sie darum bitten können.
Das ist auch kein Bedienen „langweiliger Klischees“ über junge Menschen. Ich finde es natürlich auch problematisch, wenn sich Ältere nicht an die Reihenfolge halten. Der Unterschied ist aber, dass junge Menschen ein sehr geringes Risiko haben schwer zu erkranken und deswegen mmn .den Entscheidungsraum haben, jetzt noch zu warten ohne selbstaufopferisch zu agieren.
Aber wenn der Nachweis über eine Pflegebedürftigkeit so trivial möglich wäre, verstehe ich nicht, warum BaWü wieder davon abgekommen ist, diesen zu fordern. Denn die Möglichkeit eines Attests besteht ja weiterhin und wird dann auch im Einzelfall vor Ort geprüft. Wenn die Bestätigung der Pflegestufe ein Standardformular ist, wäre das ja kein Problem.
Ich kann mir vorstellen, dass es einen großen Bereich an tatsächlich pflegebedürftigen Personen gibt, die ohne ihre Kontaktpersonen zwar aufgeschmissen wären, aber keine Pflegestufe haben und deshalb durchs Raster fallen würden. Oder man möchte bewusst eine Lücke an der Priorisierung vorbei offenhalten, aus welchen Gründen auch immer. Denn dass das passiert muss ja bekannt sein, sonst hätte es nicht zwischendurch die Nachweispflicht gegeben.
Im Endeffekt ists aber ne sehr deutsche Diskussion, wie überall in dem Faden hier. Die Gruppen, die aktuell impfberechtigt sind, unterscheiden sich doch in ihrem individuellen Risikoprofil eigentlich nur noch marginal. Und um Nachweise kümmern muss sich ja auch nur noch wer keinen guten Draht zu einem niedergelassenen Arzt hat.
@Blackfire Ich kann es auf einer individuellen Ebene auch verstehen, dass man das macht. Aber wenn man die Minimierung des eigenen, sowieso kleinen Risikos und die Möglichkeit mal wieder Essen zu gehen, über die Minimierung des Risikos anderer stellt, schwer krank zu werden, muss man sich mmn. im Klaren sein, dass man unsolidarisch handelt
Wenn wir mit großem Tam-Tam eine Priorisierung festgelegt haben, dann ist es nicht nicht in Ordnung, wenn sich Leute mit fragwürdigen „Nachweisen“ „vordrängeln“ - egal, ob sie privilegiert oder jung sind oder nicht - oder Ärzte disee Priorisierung einfach ignorieren.
Das Argument „es ist doch gar nicht nachgewiesen, dass die zahlenmäßig nicht ins Gewicht fallen“ entspricht nicht meinem Verständnis von Rechtsstaatlichkeit.
… ne, die CoronaImpfV verlangt keine Pflegestufe. Pflegebedürfnis ist ein Terminus Technicus aus dem Sozialrecht, also Pflegestufe oder Pflegebedürfnis wegen der Krankheiten im Verordnungs-Katalog § 3 (1) 2. a) - k) CoronaImpfV.
Sind wir jetzt vom individuell moralischem Argument zum Gesellschaftsverfall gekommen. Ich mein Rechtstaatlichkeit ist schon ein schwerer Begriff für etwas das legal ist und bei dem nicht ganz klar ist warum die Menschen im Einzelfall geimpft werden.
Deutschland wird am Impfzentrum verteidigt ^^
Egal wie marginal der Einfluss von Gruppen mit wenigen oder keinen Ressourcen ist egal, wie die Gesellschaft mit ihnen umgeht, wer gegen die Prio verstößt ist moralisch gleich zu verurteilen ?
ich mein mit diesem Argument braucht man gar nicht darüber diskutieren, wie es um sozial wirklich benachteiligten Gruppen bestellt ist…
zu mal man sich auf fragt wie solidarisch und moralisch es von den älteren ist die kein AZ wollen und damit Impfsystem und Herdenimmunität verlangsamen
Nein, da handelt es sich um zwei unterschiedliche Fälle und zwar auf zwei Ebenen:
Erstens ist das Argument bei der Diskussion um Freiheit für Geimpfte „immer und immer wieder“, dass man ja niemandem etwas weg nimmt, wenn man als geimpfte Person weniger Einschränkungen hat. Eine noch nicht geimpfte Person hat nichts davon, wenn ich dann auch nicht nach zur Ausgangssperrenzeit aus dem Haus darf.
Hier liegt der Fall aber so, dass ich sehr wohl jemandem etwas weg nehme. Die Personen, die eigentlich an der Reihe wären geimpft zu werden, müssen anlasslos länger darauf warten, geimpft zu werden, wenn ich mir eine Impfung genehmige.
Zweitens, und auch das wird ja immer wieder gesagt, geht es ja bei den Grundrechten immer um eine Abwägungsfrage - hier Recht auf Leben vs. Freiheitsrechte etc. In dieser Abwägung hat sich der Gesetzgeber darauf verständigt, dem Recht auf Leben in gewissem Maße und für gewisse Zeit das Vorrecht zu geben. Deswegen haben wir ja die Priorisierung.
Meiner Meinung nach ist mit der Rücknahme von Einschränkungen für Geimpfte die Zeit der Solidarität jetzt vorbei.
Wir sitzen eben nicht mehr alle im selben Boot, in wenigen Wochen wird ein Drittel der Bevölkerung wieder halbwegs zur Normalität zurückkehren können und der Rest kriegt zwar ein Impfangebot, aber ist dann eben erst frühestens zum Ende des Sommers durch.
Der allgemeine Tonus (auch in der Sendung) ist ja „muss man aushalten“ und „sind Grundrechte, die man nicht aus Solidarität einschränken darf“, bis hin zur Verfassungsklage. Da tut man sich dann aber auch schwer mit moralischen Appellen, jetzt doch anderen den Vortritt zu lassen. Wofür?
Was für eine Solidarität denn und mit wem? Die mangelnden Hilfen für für sozial schwache und die kulturindustrie? Die mangelnde Beratung und Therapie bei psyschichen Erkrankungen? Die Präsenzschule mit hohen Infektionsraten ? Die Kapitulation des Bildungsbetriebes vor der Herausforderung des Digitalbetriebes ? Diese gesamtgesellschaftliche Solidarität gab während der gesamten Pandemie nicht.
Die grundsätzlichen und älteren Probleme der jetzigen Systeme sind sicherlich kein Produkt der jungen Generation.
Das individuell moralisch Argument lässt sich ja noch nachvollziehen aber Solidarität oder Rechtstaatlichkeit wird als Argument wirklich absurd. Es geht mir nicht darum hier zu argumentieren, dass man ja machen könne was man will, aber als Vorwurf taugt es nur, wenn man alles ignoriert und sich nur auf die Impfung versteift (und selbst da. Wo ist denn die Solidarität alter Menschen mit jungen Frauen, wenn die sich AZ verweigern ?) und als gesamtgesellschaftliche Verantwortung wird es besonders lächerlich, wenn man sich die jetzige wie zukünftige Situation junger Menschen anschaut. Solidarität gerne aber nicht als nationaler Imperativ…
Gesellschaftlicher Frieden scheint wohl kein wesentlicher Wert zu sein. Auch die Kopplung der Aufhebung an Pflichten scheint wohl Niemandem einzufallen. Das könnte zum Bumerang werden, wenn jetzt eine Escape Mutation käme, dann dürfte man wohl kaum mit der Solidarität der sich jetzt verraten Fühlenden rechnen.
Kleiner Hinweis: Für kleine Kinder gibt’s (ohne zu Erkranken und zu Genesen) keine Aussicht auf einen freien Sommer. Nichtmal auf ein freies Weihnachten 2021. Für die geht es nicht um mal wieder schön Abendessen gehen (oder mit welchen anderen Trivialfreiheitsbeispielchen man sich die Situation aus der Außenbootperspektive Schönargumentieren kann)
Den Beispielen kann ich gut folgen, nicht aber der Schlussfolgerung. Meiner Wahrnehmung nach gab es eine umfassende gesellschaftliche Solidarität zu Pandemiebeginn: Nämlich als klar wurde, dass zum Schutz einer Minderheit nun Alle deutliche Verhaltensänderungen zeigen müssten. Das wurde zum nationalen Imperativ und der hat bisher auch einigermaßen gut funktioniert (bspw. Maskendisziplin).
Danke fürs tone policing (dein Satz klingt viel weniger herablassend ^^) und das polarisieren meiner Position auf „für und gegen“ Prio. Das hab ich nicht geschrieben. Im letzten Teil steht sogar explizit dass das es nicht so verstanden werden soll. Ich weise lediglich darauf hin, dass die Priogruppen nicht so universell sind, wie behauptet und die Umsetzung längst nicht so strikt ist, wie behauptet. Dass man aus dieser ohnehin komplexen Lage nicht so einfach moralische Urteile treffen kann, sollte eigentlich evident sein. Entsprechend unverständlich wird dann dann der Vorwurf einer Unterwanderung der Rechtstaatlichkeit… Diese Begriff haben schon eine Definition, Kontext und Bezugsrahmen eine Überdehnung führt nur dazu das der Begriff selbst völlig nutzlos zur Projektionsfläche eigener normativer Prämissen und Emotionen wird.