Der Grund dafür ist in diesem Fall, dass die Leute, die man so beneidet, in aller Regel entweder deutlich näher an ihrem Lebensende als man selbst sind oder alternativ das letzte Jahr über erheblich mehr Risiko, ernsthaft an Corona zu erkranken, übernommen haben.
Genau diese Argumentation ist es doch aber, warum die Emotionen bei diesem Thema so hochkochen. Während der gesamten Pandemie war unser Ansatz ja immer, dass wir Lebensjahre und Lebensqualität einzelner Personen nicht gegeneinander aufrechnen, und das aus gutem Grund. Denn sonst hätte man sich doch von Anfang an fragen müssen, ob es okay ist, jungen Menschen zwei Jahre ihrer Jugend zu klauen, oder mittelständische Existenzen zu vernichten, um damit 92-jährige Krebspatienten noch ein paar Monate am Leben zu halten (ich überspitze). Das haben wir nicht getan, sondern wir haben in ganz überwiegender Mehrheit gesagt, dass wir uns solidarisch einschränken.
Auch würde ich mich nicht entscheiden wollen, ob es jetzt die Intensivkrankenschwester härter getroffen hat als den Gastronom, der vor einem Scherbenhaufen steht, oder den Studenten, der mittlerweile sein viertes Semester alleine im Wohnheimzimmer hockt. Mein Kollege hat mir vorhin erzählt, dass sein (motorisch eingeschränkter) Sohn mittlerweile merklich schlechter Schreiben kann, weil ihm in den letzten Monaten so viel Bewegung und Therapie entgangen ist. Wie hat man das jetzt auf unserer Skala des getragenen Risikos zu bewerten?
Wenn du jetzt argumentierst, dass die Risikogruppe schlechter dran war als der Rest und deshalb gewissermaßen Lockerungen verdient hat, stellst du das zentrale Argument der Pandemiebekämpfung auf den Kopf. Denn es war ja nie die Absicht hinter der Impfpriorisierung, besonders betroffene Gruppen zu bevorzugen, sondern vielmehr wollte man jedes Leben schützen, unabhängig von den individuellen Umständen. Das Geimpfte jetzt so hopplahopp nach der Impfung noch ein zweites Privileg erhalten sollen ist es ja gerade, was die Leute kritisch sehen, die betonen, dass Solidarität keine Einbahnstraße sei.