Perspektiven-Vielfalt bei ökonomischen Themen / Interview-Partner:innen / De- und Postgrowth-Forschung in wirtschafts- und klimapolitischen Debatten

Als langjähriger und begeisterter Lage-Hörer und Doktorand in den Wirtschaftswissenschaften möchte ich gerne die konstruktive Kritik einbringen, dass mehr Vielfalt bei ökonomischen Themen wünschenswert wäre, insbesondere aus dem Bereich Degrowth / Postgrowth (Postwachstum) (siehe gesonderter Themenvorschlag).

** Begründung allgemein zu mehr ökonomischer Pluralität:**

Die Ökonomik ist in Theorie und Forschung sehr vielfältig. Diese Vielfalt spiegelt sich jedoch oft wenig in der VWL-Lehre in Deutschland wider und entsprechend auch (zu) wenig in öffentlichen Debatten in vielen Medien (und z.T. eben auch in der Lage). Vermutlich ohne dies bewusst zu tun, bringen Journalist:innen oftmals relativ verengte ökonomische Einschätzungen ein, die nur von einem (dominanten Teil) der Wissenschaft geteilt wird (sog. ökonomischer Mainstream). Dies zeigt sich auch daran, dass es medial eine starke Fokussierung auf wenige (meist männliche) Ökonomen von bestimmten Forschungsinstituten gibt, während Kontroversen oftmals unter den Tisch fallen (oder sich innerhalb des Mainstream-Paradigmas abspielen). (Natürlich gibt es Ausnahmen wie Isabella Weber, die nun sehr bekannt ist, aber von einigen Mainstream-Ökonomen stark angegriffen wird).

Der Befund der mangelnden Pluralität ergibt sich aus einer ganzen Reihe empirischer Forschung der letzten Jahre. Hier nur zwei Studien als Hinweise:

• Das aktuellste Überblicks-Paper zum empirischen Forschungsstand zur deutschen Wirtschaftswissenschaft: Rommel, Florian; Urban, Janina (2022): A Survey of German Economics.

Studie (von mir) 2021 für die Otto-Brenner-Stiftung (OBS), die aufzeigt, dass in journalistischen Ausbildungen /Studiengängen in Deutschland kaum plural-ökonomische Inhalte vermitteln werden. (Ich verweise anfangs auf zahlreiche Diskursstudien). Hier eine Kurz-Zusammenfassung.

… sowie der Hinweis auf relevante Akteure:

• Das bundesweite Netzwerk Plurale Ökonomik (gestartet als studentische Initiative) setzt sich für mehr Pluralität in der wirtschaftswissenschaftlichen Lehre ein, verweist auf Forschung und hat eine große Datenbank aufgebaut.

• Deutschsprachige Economists for Future – 2020 mit einem Aufruf, dass eine Reform ökonomischer Bildung zentral sei, da wegen mangelnder Vielfalt die sozial-ökologischen Krisen nicht adressiert werden (können).

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Die Forschungserkenntnisse aus diesen Bereichen sind insbesd. bei wirtschafts- und klimapolitischen Themen zentral.

Vorweg: De- und Postgrowth wird medial häufig falsch dargestellt als „Schrumpfung“, „Rezession“ etc. oder als „links“, „fortschritts- oder technikfeindlich. Dabei ist De- und Postgrowth inzwischen ein internationales, transdisziplinäres Forschungsfeld: es gibt für nahezu jedes Politikfeld Artikel in high gerankten Peer-Review Journals und wissenschaftliche Konferenzen. Es geht um eine (Wirtschafts-)Politik innerhalb plantarer Grenzen, um neue Wohlstandsindikatoren (BIP ergänzen/ersetzen), um selektives Wachstum, die institutionelle Unabhängigkeit von Wachstum, die Identifizierung von (schädlichen) Wachstumstreibern und Barrieren der Transformation, um Suffizienz, transformative Unternehmensmodelle u.v.m.

Wenn konservative und z.T. progressive Ökonom:innen das Narrativ reproduzieren, wir brauchen Wirtschaftswachstum, um aus den Krisen zu kommen o.Ä. ist das eine sehr verengte und streitbare Perspektive:

• Es gibt schlicht keine wissenschaftliche Evidenz für sog. Grünes Wachstum (vgl. Vadén et al. 2022; Parrique et al. 2020).

• Die aktuellste Studie (Vogel/Hickel 2023) zeigt: Eine Strategie des „grünen Wachstums“ für Länder des globalen Nordens ist nicht (mehr) kompatibel mit dem Pariser Klimaabkommen.

Diese Sichtweise ist übrigens längst keine Nischen-Position mehr:

IPCC-Report 2022: Erstmals Kapitel zu Degrowth und Suffizienz.

• Stellvertr. Vorsitzende des Weltklimarates (Diana Urge-Vorsatz) hielt Eröffnungsvortrag auf internationaler Degrowth-Konferenz 2023 und plädiert für Abkehr vom Wachstumsparadigma.

• Internationale Studie in nature sustainability (King et al. 2023): Von 800 Klimawissenschaftler:innen haben über 70% inzwischen eine Green Growth Position ab und befürworten Agrowth (agnostisch gegenüber Wachstum, aber Unabhängigkeit) oder Degrowth (Energie- und Materialverbrauch senken durch umfassende Transformation). Sogar 65% der Ökonom:innen.

• Claudia Kemfert (die ja schon in der Lage war) befürwortet inzwischen eine vorsorgeorientierte Postwachstumsökonomie; eine Position, die das Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) (z.B. Ulrich Petschow) 2018 entwickelt hat.

Für Rückfragen (oder Empfehlungen für Interview-Partner:innen oder Literatur) stehe ich gerne zur Verfügung.

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Anlässlich des Interviews mit dem Ökonomen Jens Südekum möchte ich gerne den Impuls für mehr ökonomische Perspektivenvielfalt einbringen. Denn: Auch wenn Herr Südekums Einschätzungen im aktuellen realpolitischen Geschehen sicherlich relevant sind, so reproduzieren sie dennoch unhinterfragt ökonomistische Narrative einer (BIP-)wachstumsabhängigen Ökonomie bzw. einer klimapolitischen Strategie des „Grünen Wachstums“. Hier braucht es mindestsens mehr Kontroversität.

Es gibt nämlich keine wissenschaftliche Evidenz für sog. Grünes Wachstum (vgl. Vadén 2022; Parrique 2020).

(Der Verweis auf Erfolge der Entkoppelung des BIP von CO2 und Umweltbelastungen in westl. Industrieländern, mit denen Green Growthler:innen z.T. argumentieren, sind irreführend und verkürzt: Sie blenden Externalisierungen in den globalen Süden aus & beziehen Indikatoren wie den Material Footprint (MF) sowie historische Emissionen nicht ein; die Modellierungen, mit denen Green Growth noch klappen sollen, haben utopische Annahmen von technolog. Innovationen und ihrer Skalierung, die so nicht existieren und zudem Fragen der globalen Gerechtigkeit (Landnahme etc.) und andere ökologischer Krisen verschärfen würden (z.B. Biodiversiätsverlust)).

Die aktuellste Studie (Vogel/Hickel 2023) zeigt: Eine Strategie des „grünen Wachstums“ für Länder des globalen Nordens ist nicht (mehr) kompatibel mit dem Pariser Klimaabkommen.

Eine etwas ausführlichere Begründung mit Hinweisen zu aktueller De- und Postgrowth-Forschung siehe hier im Lage-Themenvorschlag.

Zur allgemeinen Begründung, warum es wichtig ist, plural-ökonomische Perspektiven verstärkt aufzugreifen, siehe hier im Lage-Themenvorschlag.

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Spricht mir aus der Seele. Ja, bei dem Südekum-Interview hatte ich wieder dieses Gefühl im Magen, als hätte mir jemand reingehauen. Wobei ich Südekum durchaus sympathisch finde. Aber dieser quasi Grundsatz, als müsste DE in irgendwas führend sein, egal ob es so widersinnige Produkte wie riesige E-Autos sind (nur etwas weniger widersinnig als riesige Verbrenner) oder sonst etwas, was zwar ein wenig nach „Klimaneutralität“ ausschaut, aber weiter an den Ressourcen und der Biodiversität frisst, ohne dass es der Menschheit (ich meine ALLE Menschen) auf lange Sicht nützt - da wird mir fast übel. Danke, dass du hier die Quellen reinstellst, grossartiger Beitrag!

Warum sagt man nicht einfach: Jetzt schauen wir, dass wir das Notwendige tun, um Klimawandel zu bremsen und die Ausrottung von Tieren und Pflanzen zu stoppen, und die Lebensverhältnisse überall auf der Welt angleichen, und dann sehen wir, ob ggf. eine Art von Wachstum danach übrigbleibt oder eben eine Schrumpfung von irgendwelchen Komponenten des bisherigen Wirtschaftens. Von vornherein „grünes Wachstum“ als Voraussetzung für politisches Handeln festzulegen, ist eine Theorie im luftleeren Raum, ein Wunschdenken, das 1000 notwendige Korrekturen ausschliesst. Man legt damit das „Ergebnis“ eines Experiments mit noch unbekannten Prozessen fest, und verdirbt damit das Experiment, das gar keins mehr ist, weil ideologisch eben vorbestimmt.

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Ich finde riesige E-Autos fast noch schlimmer als riesige Verbrenner, da man mit dem kostbaren Strom und der Reichweite sorgsam umgehen sollte.
Diese Dinosaurier-Autos wirken auf mich wie aus der Zeit gefallen.

Es gibt doch einen Thread zur Diskussionskultur. Für mich gehört da auch dazu einfach mal technische Sachverhalte zu akzeptieren, wenn sie runter und rauf diskutiert wurden.
Für mich gehört da auch dazu Fragen zu stellen wenn man sich nicht auskennt, statt die Menschen zu diffamieren, welche die Mobilitätswende voranbringen.

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Wollte einfach nur @rlinner bestätigen, dass sehr große, immer größer werdende Autos keinen Sinn ergeben.
Mobilitätswende kann doch nicht nur heißen, dass alle Verbrenner durch E-Autos ersetzt werden. Sie müssen auch wieder weniger und kleiner werden.
Aber egal. Der Thread hat ein anderes Thema.

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Den gibt es, und ich verfolge ihn aufmerksam. Missachtet einer der bisherigen Beiträge hier die Regeln einer guten Diskussionskultur? Wenn ja, wo genau?

Wo ist der Zusammenhang? Was ist der technische Sachverhalt, der hier nicht akzeptiert sein soll?

In welchem Punkt siehst du Nichtwissen?

In welchem Punkt siehst du Nichtwissen in Bezug auf welches Wissensgebiet? An welcher Stelle werden Menschen diffamiert?

Aber zurück zum Thema. Es ist doch perfekt, um die grosse Frage „grünes Wachstum“ einzukreisen. Quellen dazu stehen ja genug oben.

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Soll den hier jetzt etwas diskutiert werden? Oder nur der Themenvorschlag, sich auch mal mit Degrowth zu beschäftigen?

Mir ging es um zwei Anliegen:

  1. grundsätzlich mehr Vielfalt bei ökonomischen Perspektiven/Interview Partner:innen (z.B. auch Vertreter:innen der Modern Monetary Theory, feministische Ökonomik etc.)

  2. De-/postgrowth Forschung einbeziehen / diskutieren und nicht Wachstumsparadigma/„Grünes Wachstum“ stillschweigend voraussetzen.
    Kann man als „Thema“ sehen - ist aber eigentlich Querschnittsthema, was für jedes Politikfeld relevant ist, besonders jedoch im Kontext Klima- und Wirtschaftspolitik.

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Um hier nicht nur die Nerds anzusprechen :wink: Für eine allgemeinverständliche Einführung zum Thema würde ich das hier empfehlen:

Schmelzer, Matthias/Vetter, Andrea (2019). Degrowth/Postwachstum zur Einführung. Hamburg, Junius.

oder auf Englisch:

Schmelzer, Matthias/Vetter, Andrea/Vansintjan, Aaron (2022). The future is degrowth. A guide to a world beyond capitalism. London/New York, Verso.

Oder die Kurzvorträge von der letzten Beyond Growth Konferenz (2023) im EU Parlament in Brüssel: https://www.youtube.com/playlist?list=PLCsKDAfAp2L1V3CyZokKQbfCJRZ7hldh7

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Die Antwort ist ganz einfach: es führt im Endeffekt zum Ende des Kapitalismus.

Etwas was nicht sein darf, Kapitalismuskritik jedweder Art ist auf politischer Ebene verpönt.

Wenn man das so eindimensional sieht, dann wäre das so. In der ct war gerade ein interessanter Artikel über Japan. Dort gibt es angeblich seit 20 Jahren kein Wachstum mehr. Sozialistisch sind die glaub ich nicht gerade.

Hier im Forum :joy:

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Ist es dann opportun eine Gruppe von Menschen als Neandertaler zu bezeichnen, nur weil die Größe ihrer Autos nicht deiner Vorstellung entspricht?

Lukas hat schon mehrfach erklärt, warum das Gewicht bei BEV eine untergeordnete Rolle spielt.
Diese „Behauptung“ lässt sich in der Praxis einfach belegen.
Margarete topt das noch mit der Ansage, lieber Verbrenner die 30 l verbrauchen (die Zahl hab ich hinzugefügt, damit wir über konkretes sprechen), als ein BEV, welches umgerechnet 1,5 l verbraucht.

Finde ich auch. Kannst du Thesen und Beispiele benennen?

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Das habe ich nicht im Entferntesten gesagt. Dass ich E-SUVs als widersinnig bezeichne ist nicht weil ich sie einfach nicht leiden kann, sondern weil sie unnötig Ressourcen in der Herstellung verschwenden. Und schau nur die Reifen, die so viel Gummi zu Feinstaub zerreiben, der als Mikroplastik am Ende im Meer landet, und das jeden km den sie fahren. Der Rollwiderstand ist auch grösser, also auch unnötiger Energieverbrauch, Luftwiderstand ebenfalls. Und grosse E-Autos machen Lärm, die flüstern nicht wie die Kleinen, Das Fahrgeräsuch ist bei 100 km/h von einem Verbrenner-SUV nicht zu unterscheiden würde ich ohne Beleg schätzen.

Die hat @Ilja im ersten Post aufgelistet.

Ähm. Nein. Ganz gewiss nicht. Verbrenner sollten so schnell, wie möglich, nicht mehr hergestellt werden.
Ich sehe nur keine Lösung darin, alle Verbrenner durch BEV zu ersetzen (Herstellung, Batterie und damit Ressourcenverbrauch + Reifenabrieb + Raumverbrauch), zumal die Autos mittlerweile viel zu groß geworden sind.
Mein Vorschlag: Teilen auch beim Thema Auto. Nachbarschaft, Dorf, carsharing, Fahrgemeinschaften.
Und aufhören, immer ein passendes Auto zu einem bestimmten Zweck haben zu wollen (es geht auch mit Leihe :wink: ) und Autos als Statussymbol zu sehen.

Wenn Kinder sich nicht mehr frei bewegen können, wenn sie Abgase einatmen, weil sie sich auf Höhe der Auspuffe bewegen (Verbrenner). Wenn Parkplätze vergrößert werden sollen, weil die Autos immer größer werden… läuft dann nicht vielleicht doch etwas schief?

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Du machst es doch aber gerade vor.

Sobald von Kapitalismuskritik die Rede ist taucht jemand auf und spricht von Sozialismus, als ob das die einzige Alternative wäre.

Dann werde doch mal konkret. Was genau schwebt dir vor, wenn du vom

sprichst?

Um es kurz zusammenzufassen:
Es ist in der Diskussion nicht zielführend, Mobilitätswende gegen Antriebswende auszuspielen. Es ist denke ich allen Beteiligten klar, dass diese Dinge ineinander greifen müssen. Viele Leute arbeiten jeden Tag ambitioniert daran bessere Lösungen für die Zukunft zu entwickeln. Den meisten ist gar nicht klar, dass eine Antriebswende auch erfolgen muss, um den ÖPNV zu decarbonisieren. Elektrische Busse, LKW uvm.

Es ist wirklich sehr ermüdend als erste Reaktion auf Themen der Antriebswende immer direkt die „Aber wir brauchen weniger und kleinere Autos“ Keule zu schwingen. Das hat wirklich jeder der ernsthaft über das Thema diskutiert verstanden. Dass Antriebswende aber mehr ist als E-SUV scheint da aber dann schnell wieder vergessen zu werden.

Auf die technischen Details hat @LeoWom schon hingewiesen, die habe ich an anderen Stellen bereits ausführlich erklärt. E-Autos sind für die Umwelt besser als Verbrenner, auch große Autos, auch mit deutschem Strommix. Die Diskussion ist durch.

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Werden die Autos etwa nicht immer größer?
Geht es in diesem Thread nicht um Degrowth?