Liebes Forum,
nach der LdN 420 habe ich mich entschieden, mich hier anzumelden - ich höre bereits seit Jahren die Lage.
Ich möchte gerne eine alternative bzw. ergänzende Erklärung des Erfolgs der AfD anbieten, der nach meinem Eindruck in der Lage so noch nicht kam: der Rückzug der Mitte-Links Parteien vom „starken Staat“ und dem „Klassenkampf“.
Wie in der LdN analysiert ist die Überforderung mit den Transformationsprozessen und das Abwandern von Arbeitern & Arbeitslosen zur AfD Kernelement. Dass diese Veränderung im Osten stärker als im Westen ist hat sicher auch kulturelle Gründe, lässt sich aber imo primär damit erklären, dass es dort mehr Menschen gibt auf die beide Punkte oben zutreffen.
Nach meinem Eindruck kann man zwei Ursachen dafür anführen:
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Der Starke - oder Schlanke - Staat
Die Überforderung mit Transformationsprozessen ist menschlich. Aber wir wissen, dass sie durchaus adressiert werden kann - auch mit politischen Mitteln. Die Mitte-Links Parteien, va SPD, haben aber mit dem am Aushöhlen der staatlichen Leistungsfähigkeit das Gegenteil getan - und damit Menschen auf sich selbst zurückgeworfen. Veränderung lässt sich besser aushalten, wenn sie in Gemeinschaft passiert und wenn man Sicherheitsnetze hat, wenn mal etwas schief geht. All das haben wir in den letzten 30 Jahren abgebaut im Sinne eines „schlanken Staates“. Agenda 2010 und die Sparpolitik der letzten Jahrzehnte stehen dafür exemplarisch. Dadurch entsteht der Eindruck, dass jede*r allein ist in der Transformation - und das macht Menschen Angst und führt zu Abwehrkämpfen um Veränderung aufzuhalten. Da diese aber an vielen Stellen nicht aufzuhalten (Klimakrise, Digitalisierung) und an anderen erforderlich (Migration weil Demographie) sind, sieht man immer aggressivere Abwehrmechanismen: Menschen sehen sich mit einer unaufhaltsamen Veränderung konfrontiert, der sie allein und ohne Hilfe ausgesetzt sind und über die weder sie, noch der Staat die Kontrolle haben. An diesen Abwehrkämpfen kann eine reaktionäre Partei wie die AfD hervorragend anknüpfen, und zwar noch besser als eine konservative (s. Migration als „Kontrollverlust“). -
Klassenkampf von links - oder von rechts.
Die AfD als neue Arbeiterpartei (und Arbeitslosenpartei) erinnert an den Aufstieg der NSDAP - und zeigt ein Problem der Parteienlandschaft: Links hat den Klassenkampf aufgegeben. Die zunehmende Ungleichheit, sichtbar in der Prekarität von Arbeit, ganzer Bevölkerungsgruppen ohne Vermögen bei gleichzeitig explodierender Vermögenswerte und -gewinne (eigentlich Steilvorlage für z.B. SPD), kann/will von dieser wegen der Neoliberalisierung und GroKos nicht adressiert werden (vgl. Weimarer Republik). Sie kämpft zwar immer wieder symbolisch dagegen (z.B. Mindestlohn), ist aber für alle sichtbar desinteressiert & wirkungslos. Das eröffnet ein riesiges Potenzial für den Klassenkampf von rechts, der zwar völlig andere Ziele verfolgt als der linke (Ungleichheit nicht reduzieren sondern selbst neue Elite werden, s. USA, s. NSDAP), aber mit seiner fundamentalen Elitenkritik auf das gleiche Instrument setzt - und deshalb in Abwesenheit eines linken Klassenkampfs massive Zustimmung erfährt. Die Verteidigung der Institutionen durch Mitte-Links ist dann die Kirsche, weil sich der politische Gegner selbst mit der verhassten Elite assoziiert. Zusätzlich hat der rechte Klassenkampf die widerliche Eigenschäft Schuldige festzulegen (z.B. Ausländer), damit er davon ablenken kann, dass er eigentlich gar nichts gegen Ungleichheit tut. Diese kann man dann als Sündenbock nutzen.
Diese beiden Problemfelder beantworten imo den größten Teil des Aufstiegs der AfD. Sie nutzt rassistische Denkmuster, diese sind aber nicht die eigentliche Ursache des Erstarkens. Das Kernproblem ist, dass Mitte-Links Parteien sich dem neoliberalen „jeder für sich“ angeschlossen haben und damit Menschen auf sich selbst zurückwerfen in Zeiten massiver Disruption, und, dass sie den Klassenkampf als Kampf gegen Ungleichheit mit seiner enormen politischen Energie liegen gelassen, oder eher: aktiv verhindert haben.
Was man aus diesen Erkenntnissen als Handlungsoptionen ableiten kann ist denke ich teilweise offensichtlicher, teilweise weniger. Einiges hat die Linkspartei scheinbar (intuitiv oder analytisch) verstanden. Und natürlich ist das ein ein jahrelanges politisches Projekt.
Aber ich bin überzeugt, dass diese Perspektive eine deutlich realistischere Einschätzung der Ursachen - und damit auch der Lösungen - des Aufstiegs der AfD darstellt. Und das völlig unabhängig davon, ob man selbst politisch links steht.
Und es ist eine Perspektive, die den Rechtsruck weniger unausweichlich macht: wir kämpfen in erster Linie nicht gegen Windmühlen tief verankerten Rassismus, sondern gegen sehr reale - und damit auch lösbare! - Probleme: Menschen mit Veränderung nicht alleinlassen, und radikaler Kampf gegen die Ungleichheit.
Wall of Text. Vielleicht liest & kommentiert es ja trotzdem jemand!
Schöne Grüße,
Jakob