Ich möchte mal einen eigenen Thread zu einem Thema anfangen, das ich hier im Forum schon verschiedentlich angerissen habe:
— Vorbemerkung —
Ich weiß, dass das hier zu diskutierende „Politik- und Systemversagen“ sehr nach einem AfD- oder Stammtisch-Narrativ klingt. Um es gleich mal aus dem Weg zu räumen: Ich meine mitnichten, dass die AfD die Lösungen hätte. Im Gegenteil: Das, was die AfD an Lösungen anbietet, reitet uns nur noch sehr viel mehr in die Sch***e.
Aber, nur weil die AfD oder „der Stammtisch“ etwas sagt, ist es nicht per se falsch. Diese ad-hominem-Argumentation darf uns doch nicht daran hindern, zu sagen, was ist. Die Realität anzuerkennen. Es ist doch in diesem Fall die Schlussfolgerung der AfD, die grottenfalsch ist, nicht die Feststellung des Problems.
Nicht nur das hier zu postulierende Versagen der Politik, sondern auch die Verweigerung der Realitäts-Ankerennung, wenn sie nicht ins eigene ideologische Weltbild passt, ist doch etwas, was die Leute umtreibt.
— Ende Vorbemerkung —
Bei den vielen Baustellen, die die Politik in den letzten Jahrzehnten liegen gelassen hat, gibt es einen sehr weitverbreiteten Pessimismus, dass die Politik das einfach nicht mehr „im Griff“ hat.
- Wohnen
- Pflege
- Gesundheitssystem
- Renten
- Infrastruktur (Instandhaltungs- und Modernisierungstau von Bahn, Straßen, Wasserstraßen, Mobilfunk, Internet)
- konsequente Integration („Migration“), auch als Mittel gegen
- Fach- und Arbeitskräftemangel
- Strukturelle wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit (Zuversicht, Planungssicherheit, Strompreise, Steuern, Bürokratie/Regulierung, …)
- Digitalisierung
- Bildung einschl. KiTas
- Vermögensverteilung, Armut (Kindergrundsicherung), …
- Lobyismus
- ach ja, das war noch was: Klimaschutz
… und noch viele, viele mehr!
Ich habe bislang fünf Ursachen ausgemacht, warum die Politik in diesen Fragen nicht handelt:
- Die Lösung vieler unsere heutigen großen Probleme wurden seinerzeit aufgeschoben, weil man es im neoliberalen Wahn für wichtiger hielt, Haushalte zu sanieren, Schulden abzubauen und den Staat aus möglichst vielen Dingen herauszuhalten (Nachtwächterstaat - weil der Markt die Dinge doch besser richten würde), weshalb man den Staat in ein viel zu enges Korsett der Schuldenbremse eingeschnürt hat.
- Die Lösungen dauern lange, bis sie wirksam und spürbar werden - wenn sie überhaupt wahrgenommen werden (Präventionsparadoxon). Die Politiker, die die richtigen Weichen gestellt haben, werden auf der Länge der Legislaturperioden den Dank (= Wiederwahl) dafür nicht erhalten. In unserem politischen System „rechnet“ es sich für Politiker nicht, große Probleme strukturell zu lösen. Da wird ein wenig am System ‘rumgeflickt - mehr nicht.
- Viele dieser Probleme und die Lösungen sind zu komplex, um sie den Wählern zu erklären (denken zumindest die Politiker). Und die richtigen Lösungen sind mit größeren Veränderungen verbunden und „tun“ oft „weh“. Mit jedem Lösungsvorschlag würde man sich aus der Deckung wagen und Populisten eine offene Flanke bieten für wüste Angriffe.
- „Typ Politiker“: mangelnder Gestaltungs- und Führungswillen, mangelnde Kommunikationsfähigkeit und/oder -bereitschaft.
- Zwang zu Koalitionen (bis hin zur Stimmung des Bundesrates, die Ulf immer mal wieder anspricht), die zu völlig verwässerten, ineffektiven Kompromiss-„Lösungen“ führen
Was können / sollten wir an den Strukturen und Abläufen unserer parlamentarischen Demokratie renovieren, um dieser negativen Anreizstruktur entgegenzuwirken, damit sie wieder effektive Lösungen für die großen Probleme der Gesellschaft ermöglicht?
Leider habe ich darauf noch keine sinnvolle Antwort gefunden.
Zum 2. und 3. Punkt:
Politik glaubt meist, auf den Stammtisch hören zu müssen. Wenn das tatsächlich so wäre, können wir von einer Demokratie, die vom Volke und damit maßgeblich vom Stammtisch ausgeht, nicht erwarten, dass sie die großen, schwierigen Probleme lösen können. Bedauerlicherweise ist das auch die fehlgeleitete Schlussfolgerung vieler Nicht- oder AfD-Wähler.
Ich dagegen bin überzeugt, dass sehr viele Menschen sehr gerne Politiker wählen, die Gestaltungs- und Führungswillen mit einer konsequenten Haltung verbinden und bereit sind, ihre Lösungskonzepte auch dann konsequent umsetzen, wenn die (vermeintliche) Mehrheit dagegen wäre (Opferbereitschaft). Der (vermeintliche) Mehrheitswille ist nämlich noch meiner Überzeugung ziemlich instabil. Wenn sich der durchschnittliche Bürger am Tag max. 5 Minuten mit Nachrichten und Politik beschäftigt, kann das gar nicht anders sein.
Leider ist der Reflex, dem Populismus klein beizugeben, offenbar immer stärker als so eine Haltung.