Große Staatsreform

Ich möchte gerne noch einmal das Thema aufgreifen.

Anlass war eine Wahlkampfveranstaltung von Wolfgang Schmidt, Kanzleramtsminister, der für den Wahlkreis Eimsbüttel (Hamburg) erstmalig in den Bundestag einziehen möchte. Moderiert wurde die Diskussion durch Ulrich Wickert, der relativ schnell begriffen hatte, dass das Publikum kein Interesse hatte an Herrn Schmidts Vergangenheit als Landesschulsprecher (Herr Wickert wollte sich wohl über die persönliche Historie an Herrn Schmidt heranrobben), sondern lieber ein paar nachvollziehbare Antworten zu brennenden Fragen hören wollte. Also entstand eine lebhafte Diskussion zwischen dem Publikum und Herrn Schmidt und Herr Wickert hat sich flugs zu einem „Sie da mit dem grünen Hemd“-Moderator degradiert.

Zwei Dinge sind mir nachhaltig in Erinnerung geblieben:

  • Im Publikum, überwiegend Bürgerliche > 50 aus den wohlhabenderen und gebildeteren Vierteln Hamburgs, war eine große Unzufriedenheit bis hin zu Wut und Aggression zu spüren. Aber nicht einfach die konservative Haltung gegen „RotGrün“ oder „die Ampel“. Sondern gegen die Politik als Ganzes. Der Kanzleramtsminister, über dessen Tisch ja sämtliche Probleme des Landes laufen, war da genau der richtige Ansprechpartner.
  • Herr Schmidt, sehr beeindruckend detailfest und klar, konnte bei allen Fragen, warum die Dinge so sind, wie sie sind, gut und überzeugend antworten: Zähes Aushandeln zwischen den Regierungskoalitionen, ebenso zähe parlamentarische Abläufe, um Mehrheiten zu erreichen, zähe Abläufe bei der Zustimmung des Bundesrats, zähes Ringen mit dem Ministerpräsidenten, Abstimmungen mit der EU, …
    Herr Wickert hat zweimal nach einer großen Staatsreform gefragt, die die aufgezählten Hürden beseitigen könnte. Darauf hatte Herr Schmidt keine Antworten außer [paraphrasiert] „Demokratie ist mühsam und es gibt nicht den einen Zauberstab, um das zu ändern“.
    Nur: Die Menschen wollten nicht hören, warum das, was sie immer stärker vermissen (s.u.), „halt nicht so einfach, nicht so schnell geht“. Beim herausgehen habe ich in viele enttäuschte und frustrierte Gesichter geschaut und habe mich ebenso gefühlt.

Was an unserem Staat, an unserer parlamentarischen Demokratie, am Föderalismus (vgl. Kapitel „Mehr Macht wagen“ von den „Baustellen der Nation“ - aber das ist nur ein Punkt), … müssen wir dringend reformieren, ändern, modernisieren, damit die Politik nicht länger ohne Ergebnisse bleibt und die AfD immer stärker wird?

Was wir m.E. brauchen, ist:

  • Mehr Accountability / Verantwortlichkeit, weniger Verwässerung durch zu weitgehende Kompromisse. Wir müssen Wege finden, damit Politiker mehr „durchregieren“ können (bewusst überspitzt formuliert, bitte nicht dran aufhängen). Derzeit wird doch innerhalb der Regierungskoalition, im Parlament und im Zusammenspiel mit Bundesrat und Ländern die ursprünglich geplanten Lösungen so sehr durch Kompromisse verwässert, dass keiner mehr verantwortlich ist und die Ursprünglichen, die die Lösung konzipiert und vorgeschlagen haben, meist mit fug und recht, sagen können: „Na ja, hätten wir das mal so gemacht, wie wir das vorgeschlagen haben“. Wenn das gewünschte Ergebnis nicht herausgekommen ist oder die Lösung dem Volk zu weit geht, können sie das ja bei der nächsten Wahl korrigieren, in dem jemand andere die Möglichkeit bekommt, die Probleme zu lösen.
    In manchen Staaten bekommt die größte Fraktion zig Sitze „obendrauf“, um genau das zu erreichen (ob das die Lösung ist?).
  • Mehr Gestaltungs- und Führungswillen, mehr Risikobereitschaft der Politiker, aber auch der Ministerial- und Verwaltungsbürokraten/-beamten. Was könnte man systemisch ändern, damit wir das bekommen?
  • Dazu ein riesiges Change-Programm für alle deutschen Beamten- und Verwaltungsangestellte: „Ihr sollt ermöglichen, nicht verhindern. Dabei dürft Ihr Risiken eingehen und Fehler machen_!“
  • Weniger auf den Stammtisch hören, mehr Anspruch, proaktiv die Deutungshoheit über die Stammtische zu erlangen.
  • Irgendwie (hat jemand einen Vorschlag, wie?) Anreize setzen, damit Politiker bereits die Problem proaktiv angehen, wenn sie sich am Horizont andeuten - und nicht erst, wenn das Haus brennt.
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Dazu:

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Vielleicht könnten Volksabstimmungen auf Bundesebene auch dazu dienen, verkrustete Parteipolitik aufzubrechen, wenn diese von einer sachlichen und faktenbasierten Informationskampagne begleitet wären.

Mehrheiten z.B. für ein Tempolimit oder eine Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in den ersten 12 Wochen gäbe es längst.
Wenn man es richtig anstellt (Positivbeispiel Schweiz, Negativbeispiel Brexit), könnte man vielen Populisten den Wind aus den Segeln nehmen, und das Vertrauen in die Demokratie stärken.

Ich bin bei Volksabstimmungen zumindest vorsichtig. Siehe Brexit.

Wenn man es falsch anpackt bzw es medial einseitig framed, bekommt man Mehrheiten für „aktuell wichtige“ Themen, die man aber dauerhaft so gar nicht will. Oder wo die Informationen erst nach einer Abstimmung vollständig sind.

Nur als Gedanke. Menschen können da wankelmütig sein

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Wie geht man mit Volksabstimmungen um, die dem Grundgesetz oder den europäischen Verträgen zuwider laufen? Soll das jedes Mal vorher das BVerfG prüfen? Was ist mit Fragestellungen, deren Ausgang den Austritt aus der EU erfordern würden („Soll Deutschland weiterhin jedes Jahr Milliarden nach Brüssel überweisen?“).

Darüberhinaus: Wo ist das Parlament dann einzuordnen? Spielt das dort dann keine Rolle mehr? Wenn das Volk entscheidet, dass die Bundeswehr in Polen einmarschieren soll?

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Das Bundesverfassungsgericht kann Anliegen vor und nach einer Abstimmung auf Verfassungsmäßigkeit prüfen. Auch der Bundestag wird immer wieder korrigiert (siehe z.B. Nachtragshaushalt oder Wahlrechtsreform).

Man könnte eine Abstimmung auch nur als Willensbekundung des Volkes definieren. Der Gesetzgeber wäre dann mit der Prüfung der Durchsetzbarkeit beauftragt. Der Bundestag könnte dann immer noch entscheiden, dass ein Tempolimit aufgrund eines Mangels an Schildern quasi physikalisch nicht möglich sei oder dass Vertreter von Lobbyorganisationen zahlreich€ überzeugende Einwände gegen eine Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen vorgebracht hätten.

Sprich letztlich völlig wirkungslos, wodurch das Vertrauen in die Demokratie weiter erodiert.

Letztlich ist der Abgeordnete niemandem verpflichtet, außer sich selbst. In der Praxis kommt Fraktionszwang zuerst.

Entweder die Volksentscheide werden unmittelbar Gesetz (und wir schaffen die parlamentarische Demokratie wie wir sie kennen ab), oder das ganze wird eine Farce.

Erinnert sich noch jemand an das Volksbegehren in Berlin?

Das wird mir hier zu polemisch. Auch die Schweiz hat eine funktionierende, parlamentarische Demokratie. Volksentscheide sind nicht dafür gedacht, komplizierte Gesetzespakete mit Einzelfallbetrachtung zu erörtern, sondern richtungsweisende Leitlinien zu geben und mehr politische Partizipation zu ermöglichen.
Ein selbstgebackener Kuchen schmeckt subjektiv besser, ebenso wird ein Windpark oder eine Bahntrasse viel wohlwollender aufgenommen, wenn man als Bürger am Entscheidungsprozess eingebunden war. Diese lokalen Erfahrungen lassen sich auch auf Bundesebene übertragen.

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Vielleicht nicht gleich Volksabstimmungen, aber Volksbefragungen, zu konkreten Themen, was weiß ich zwei mal im Jahr, wo man ein ganzes Paket an Fragen hat die über die man „abstimmt“ und so dem Parlament den „Volkswillen“ zeigen kann.

Wenn dann das Parlament wirkloch weiß was das Volk will, können sie ja in dienentsprechende Richtung laufen.

Man muss ja nichtmal wirklich bis in’s letzte Detail durchdekliniert haben, aber grobe Details zwei drei mögliche Lösungswege und schon hat man was konkreteres als ein paar Umfrageergebnisse aus der „wissenschaftlichen Glaskugel“

Die Abstimmung in der Schweiz sind aber häufig über einzelne Projekte und in sich widersprüchlich. Dazu kommt das Fehlen eines Verfassungsgerichtes und eine Regierungszusammenstellung nach der Zauberformel. Die Beteiligung bei den meisten Abstimmungen ist erschreckend niedrig.

Die Schweiz ist ein hervorragendes Beispiel. Wenn die Initiative „Keine 10 Millionen Schweiz“ durchkommt, droht die Schweiz ihre Verträge mit der EU aufkündigen zu müssen. Wenn die Befürworter von „Allianz Kompass Europa“ durchkommt, kann die Schweiz ihre aktuellen Verhandlungen zur Neuordnung der Verträge mit Brüssel quasi beerdigen.

In der Schweiz werden hochkomplexe Themen mit für den Bürgern kaum absehbaren Weiterungen und Auswirkungen für Dekaden auf einfache „Ja/Nein“ Fragen beschränkt, während die Debatten darum von Milliardären dominiert werden. Das ist 1:1 Brexit all over again.

In einer parlamentarischen Demokratie werden Gesetze, die die Richtung unserer Politik vorgeben, von Abgeordneten in Parlamenten bestimmt. Nicht vom Volk direkt. Unser politisches System ist völlig inkompatibel mit Volksbegehren. Deswegen nochmal der Verweis nach Berlin: dort gab es ein klares Ergebnis und es hat nichts gebracht, weil man Abgeordnete nicht zwingen kann sich bei Abstimmungen zu Gesetzen an das Votum zu halten. Wenn man will, dass die Begehren umgesetzt werden, muss man die Macht der Abgeordneten beschränken - und damit ein Kernelement unseres politischen Systems begraben.

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OK, Volksbefragungen und -abstimmungen auf Bundesebene könnten ein Element einer großen Staatsreform sein, ebenso wie Bürgerräte.

Mich treibt eher die Frage um, was wir an unserer Staatsverfassung reformieren sollten, um

  1. die Accountability / Verantwortlichkeit wieder herzustellen,
  2. die Politiker anzureizen, Gestaltungs- und Führungswillen zu zeigen und Risiken einzugehen
  3. und dabei versuchen, das Narrativ „an den Stammtischen“ zu bestimmen.
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Ich glaube tatsächlich, dass das ein großer Hebel wäre, dass wieder viel mehr Menschen den Staat als funktionierend und als vertrauenswürdige Instanz wahrnehmen würden.

Aus meiner Sicht haben wir genau diese Personen mit einem Bestimmungswust so eingeengt, dass sie dazu eigenlich gar nicht mehr in der Lage sind. Weil wir versuchen alles so exakt zu regeln, dass man den Verwaltungsgestellten eigentlich durch eine logische Software ersetzen könnte. Wenn → dann.

Aber dieses Wenn->Dann führt halt oft in ein nichts oder hat noch ein loses Ende. Und es ist so kompliziert, dass es zu Fehlern kommt, die dann Gerichte beschäftigen.

Beispiel Heizungsgesetz: Kompliziert, angreifbar, erzeugt u.U. Härtefälle.
Warum trauen wir uns nicht Regelungen mit klarer Definition des Zieles, aber mehr offenen Enden zu treffen. Das würde genau den Verwaltungsangestellten zwar mehr Verantwortung zuschustern, aber auch Entscheidungsfreiheiten und Ermessensspielraum. Das könnte Bürokratie verringern und Vertrauen stärken. Es würde auch Lösungen erlauben, die mehr auf den einzelnen Bürger zugeschnitten sind.

Gleichzeit bedeutet es auch, dass die Gesetzgebung ein Stück einfacher wird, weil man nicht mehr jeden Einzelfall schon im Parlament berücksichtigt haben muss.
Es bräuchte dann schnelle Rückkopplungsschleifen, wenn man merkt, dass die gewünschten Effekte ausbleiben oder Bedarf steht nachzuschärfen.

Beruflich bin ich gerade mit dem Thema „agile Entwicklung“ beschäftigt. Und für den Maschinenbauingenieur, der gewohn ist, in Projekten zu denken, wo alles vorher bis ins kleinste definiert wird, fällt das schonmal schwer. Aber so ein Ansatz in iterativen Schleifen schnell vorwärts zu kommen, Dinge auch mal schnell zu probieren als ewig hin und her zu wälzen, könnte aus meiner Sicht hier ein Ansatz sein.

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Nur in dieser Kombination mit Einzelfallprüfung und Ermessen anhand des Grundgesetzes würde ich den ersten Punkt oben, das „Durchregieren“ auch nur annähernd umsetzbar sehen. In der aktuellen Landschaft sind die Kompromisse nämlich teilweise oder sogar zum Großteil eben nicht rein politische, sondern es geht auch um die praktische Umsetzung in der Fläche, die bei manchen Entwürfen einfach nicht gegeben ist, da die Situation in der Fläche nicht bekannt ist, oder manche Probleme einfach übersehen werden.

Zudem würde ich mir sehr viel mehr Einbindung von wissenschaftlichen Erkenntnissen wünschen. Die werden für meinen Geschmack viel zu oft ignoriert und außen vor gelassen. Beispiel Legalisierung Schwangerschaftsabbrüche: Hier wird regelmäßig die Mär hervorgezaubert, dass dies dazu führe, dass Abtreibungen inflationär durchgeführt würden, obwohl es klar ist, dass die Abbrüche ohnehin durchgeführt würden, nur halt illegal und unsicher. Oder auch fast alles was mit Klimawandel zu tun hat.

Ich glaube schon, dass es in unseren politischen Strukturen sinnvolle Reformmöglichkeiten gäbe. Aber ich bin extrem skeptisch, ob das die vielen Unzufriedenen nennenswert beeindrucken wird. Ein Teil der Probleme hinsichtlich 1. entstehen aus durchaus sinnvollen Checks und Balances, die „einfach mal machen“, wie Stammtische es gut fänden, genau verhindern sollen (und das ist oft nervig, aber genauso oft auch wirklich gut so).
2. Solche Politiker werden gefordert und wenn sie dann genau das liefern ganz schnell abgewählt. Unter der Prämisse eines weitgehend voraussetzungsfreien, allgemeinen Wahlrechts und Wahlen in einem halbwegs sinnvollen Abstand (alles über 5 Jahre ist aus verschiedenen Gründen zu lang), fehlt mir die Fantasie, was man tun könnte, um das zu ändern, solange sich so viele Wähler an der Wahlurne in einen Instant-Gratification-Monkey verwandeln.
3. Ich denke, der Weg müsste weniger Top-Down sein, sondern mehr Bottom-up: Wie versetzen wir erstens mehr Bürger in die Lage, komplexe, emotional aufgeladene Themen auf einem angemessenen, informierten Niveau zu diskutieren und sich eine Meinung zu bilden und wie bringen wir sie dazu, dass sie diese Kompetenz dann auch im Alltag verwenden. Ich habe dazu auch keine Hosentaschenlösung (als Lehrkraft für die relevanten Fächer, frage ich mich einerseits schon, warum Politik und Geschichte in Stundentafeln ein Schattendasein als Nebenfächer fristen, aber andererseits würde ich auch davor warnen, zu glauben, das Problem der Debattenkultur ließe sich (wie alle Probleme) einfach durch ein neues Schulfach oder mehr Stunden in bestimmten Fächern beheben.), aber in einer Demokratie eine große Strukturreform durchzuführen, ist mMn nicht möglich.

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Das ist, denke ich, der größte Brocken. Ich meine, dass Fehlerakzeptanz und Kompromissbereischaft bei den Wählern und Bürgern der kritische Pfad zu mehr Risiko-Bereitschaft bei Entscheidern sind. Ich sehe das heute nicht in ausreichendem Maße und mir fehlt eine Idee, wie wir dahin kommen. Ich glaube, dass man das nicht durch eine „Reform“ herstellen kann.

Vorallem, da wir ja nicht in einer Welt leben, in der wir entscheiden, „wie“ wir zu einem gemeinsamen Ziel kommen.
Beim „Wie“ könnte man ja sagen: Hat nicht geklappt, nächster Versuch. Aber in Wirklichkeit reden wir über unterschiedliche Ziele. Wenn jetzt das Ziel schon nur eine knappe Mehrheit hat und innerhalb dieser Mehrheit aber noch über das „Wie“ gestritten wird, wie soll da was sinnvolles rauskommen?

Nochmal Beispiel Heizungsgesetzt:
Hier sind Fehler kritisiert worden, die es im Gesetz sicher gab. Aber die Motivlage der kritisierenden war ja nie eine Verbesserung des Gesetzes im Sinne einer besseren Austarierung der Interessen bei gleichzeitigem Erhalt oder Verbesserung der Wirksamkeit. Es ging immer darum, dass Gesetz sturmreif zu schießen, weil den Kritisierenden das Ziel Klimaschutz, bzw. die damit in Verbindung stehenden notwendigen Änderungen, missfällt.
In so einer Situation ist es doch politischer Selbstmord, auch mal eine Arbeitsstand zur Diskussion zu stellen, um ihn öffentlich zu diskutieren. S. Habecks Vorschlag zur Einführung von Sozialabgaben auf Vermögen.

Deshalb bräuchten wir aus meiner Sicht zwei Dinge:

  1. Die Verständigung auf einen Zielkorridor und die Dinge, die wir bereit sind zur Zielerreichung zu ändern.
  2. Einen Haltungswandel. Weg von „Das geht nicht, weil…“ zu „Damit das geht, muss…“

Ich denke, dass insbesondere die Frage, wie wir Politik beurteilen, sich halt auch ändern muss. Zumindest, wenn wir auch weiterkommen wollen.
Für mich ist die Kernfrage: Schaffen wir es Politik als gerecht zu beurteilen, von der wir selbst nicht profitieren. Ich kann nur von mir reden, aber das ist für mich das Kernziel von Politik: Gerechtigkeit.
Aber es gibt Gerechtigkeitsaspekte, bei denen ich heute auf der Gewinner-Seite stehe. Und die Frage ist: Wenn ich jemand wähle, der das ändert, wie beurteile ich das dann? Wähle ich den wieder, weil es jetzt gerechter zugeht? Oder finde ich Gerechtigkeit nur gut, wenn ich vorher auf der Verlierer-Seite stand? Ist mehr Gerechtigkeit im Land oder in der Welt ein Wert an sich, den ich in meine Entscheidung einfließen lasse?
Für mich wäre es eine massive Steigerung der Lebensqualität, wenn ich etwas weniger Geld in der Tasche hätte, ich mir aber weniger Sorgen um soziale Ungerechtigkeit oder Klimawandel machen müsste.

Nichtsdestotrotz, würde ich sagen, dass Bildung schon ein Faktor ist und wir uns hinterfragen sollten, ob die Schwerpunkte richtig gesetzt werden. Ich nehme immernoch einen hohen Fokus auf wirtschaftlicher Verwertbarkeit des Beschulten wahr. Andererseits stehen wir halt vor sozialen Problemen, bei denen Bildung helfen könnte.
Überspitzt: wenn ich statt formal hoch gebildeter Egomanen Menschen mit hohen sozialen Kompetenzen, die aber hin und wieder einen Rechtschreibfehler machen, aus dem Bildungssystem kriege, wäre das nicht am Ende für Gesellschaft und Wirtschaft vielleicht besser?

Ich kann mich aber des Eindruckes nicht erwehren, dass im Bildungssystem ein wenig darauf geachtet wird, sich die eigenen Wähler heranzuziehen. Ich meine, der von Dir beschriebene Bürger, wenn man den durch Änderungen im Bildungssystem denn erzeugen könnte, der wäre ja für die Entscheider, die seit Jahren die Bildungsinhalte bestimmen, schon eher unbequem.

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Es ist leider eine menschliche Eigenschaft Probleme erst dann anzuerkennen, wenn sie sich nicht mehr wegleugnen lassen. Die AFD sitzt seit 2017 im Bundestag und bis heute wird das Narrativ betrieben, man könne sie politisch stellen, indem man einfach so weiter macht wie bisher.
Zu glauben, es würde alles besser wenn nur dem Bürger mehr zugehört würde ist bestenfalls naiv. Er ist ja Teil des Problems. Dass die Wirtschaft ist wie sie ist, ist nicht nur Schuld der Politik. Die Macht hat sie gar nicht. Auch dass es gerade so viele Pleiten gab ist keine Schuld der Ampel sondern dass es während Corona Sonderregeln für Insolvenzen gab.
Es wird uns nichts anderes übrig bleiben als anzuerkennen, dass die Globalisierung nun an dem Punkt angekommen ist, wo die anderen Länder aufgeholt haben und wir unseren Platz in der Welt neu überdenken müssen.
Deutschland muss sich nun fragen: worin sind wir gut und wie wird sich damit langfristig Geld verdienen lassen (und nein, an Verbrenner habe ich da jetzt eigentlich nicht gedacht)?
Der Protektionismus der USA bietet da tatsächlich neue Chancen, denn während Trumps erste Regierung durch Steuervorteile die Unternehmen und Land lockte, könnten Zollstreitigkeiten das Gegenteil bewirken.
Für die Ü50-Generationen ist das doof. Für sie ging es immer aufwärts, jetzt zum Ende hin könnte es sein, dass sie sich einschränken müssten. Aber auch das gehört vielleicht zur Generationengerechtigkeit.
In meinen Augen führt kein Weg daran vorbei, die EU zu stärken und zu einem echten Staatenverbund auszubauen. Denn nur gemeinsam kann die EU ein Gegengewicht zu USA, Russland und China sein.

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