LdN320 Wahlrechtsreform / Wie demokratisch ist unser Wahlrecht?

Da ich mit den Folgen ein wenig hintendran bin, hab ich jetzt erst die zugehörige Lage gehört.

Was ich mich in der ganzen Debatte immer gefragt habe ist, ob man nicht mal an einem der Grundpfeiler wackeln muss, nämlich, dass jede Abgeordnete exakt 1,00 Stimmen hat.
Rein hypothetisch muss das oberste Ziel ja sein, die Mehrheitsverhältnisse gemäß der Zweitstimmen zu erhalten. Dazu gibt es Algorithmen, mit denen ermittelt werden kann, welcher Partei wie viele Sitze zustehen. Daneben ist die Erststimme für die Repräsentation der einzelnen Landkreise gedacht, sodass kein Kreis nicht die Möglichkeit hat an der politischen Willensbildung zu partizipieren.

Das Problem, das gelöst werden soll, entsteht, weil der verwendete Algorithmus o.B.d.A. nicht in der Lage ist mit gegebenen Parametern eine Lösung zu finden, der alle Bedingungen erfüllt es zur Lösung einen größeren Bundestag braucht.

Jetzt der Ansatz: Ausgehend von der Verteilung der Erststimme wird der Bundestag in der Weise aufgefüllt, dass die Verhältnisse aus der Zweitstimme hergestellt sind, aber halt nicht mit vollen Stimmen, sondern mit Stimmen z.B. 1,15 oder 0,87 Stimmen pro Abgeordnete. Optional kann man anschließend innerhalb einer Fraktion gleichmäßig verteilen.

Nachteil ist ganz klar, dass dann Abgeordnete wichtiger sind als andere, weil mehr Stimmengewicht. Auf der anderen Seite kann man so die Verteilung der Stimmen, wie sie sich aus der Zweitstimme ableiten genauer abbilden.

Also du schlägst quasi vor, statt Überhangmandate auszugleichen sollte das Stimmgewicht der Abgeordneten der durch die Überhangmandate benachteiligten Parteien nach oben angepasst werden, damit die Stimmverteilung im Bundestag weiterhin dem Proporz der Zweitstimmen entspricht. Hätte die CSU also z.B. durch Überhangmandate 10% mehr Sitze, als ihr nach Zweitstimmen zustehen, würde das Stimmgewicht aller anderen Parteien um auf 110% gehoben werden, um das auszugleichen. Erzielen hingegen neben der CSU auch die CDU und SPD Überhangmandate, müsste relativ komplex verrechnet werden, sodass z.B. dann ein SPD-Abgeordneter ein Stimmgewicht von 107% hätte, während Linke und Grüne Abgeordnete 110% hätten usw.

Problematisch sind hier zwei Dinge:

Erstens ist es grundsätzlich, zumindest nach der aktuellen Rechtsprechung des BVerfG, nicht denkbar, dass Abgeordnete unterschiedliche Stimmgewichte haben. Ich stimme durchaus zu, dass das nach dem Wortlaut des Grundgesetzes nicht zwingend ist, also andere Interpretationen möglich wären, aber ich wage zu bezweifeln, dass das BVerfG das akzeptieren würde.

Zweitens führt die zahlenmäßige Überlegenheit dann zu Problemen bei der Zusammenstellung der Ausschüsse, in denen letztlich die eigentliche Arbeit im Bundestag erledigt wird. Die Ausschüsse müssen in ihrem inneren Kräfteverhältnis ein Abbild des Bundestags sein und jeder Abgeordnete hat das Recht, Teil eines Ausschusses zu sein. Das würde bedeuten, dass die Partei, die viele Überhangmandate hätte, dann in Ausschüssen überrepräsentiert wäre - oder es zu Abgeordneten kommen würde, die nicht Teil eines Ausschusses sind und es auch nicht werden können, weil die Partei sonst in Ausschüssen überrepräsentiert wäre.

Es ist wichtig, zu realisieren, dass an solchen Dingen eben immer noch ein immenser Rattenschwanz an Folgeproblemen hängt, die zwar alle irgendwie gelöst werden können, aber ob das Resultat nach all diesen Problemlösungen dann noch so verlockend ist, ist immer fraglich.

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Ich empfinde das Wahlrecht auch nicht mehr zeitgemäß. Wenn man immer mal wieder liest, dass der nächste Bundestag schon zu so und so viel Prozent feststeht. Wenn man den Bundestag auf 598 Plätze beschränken möchte, ist der initiale Vorschlag (Nach Rangliste der % aus den Personenstimmen und dann die Listenplätze) doch gar nicht so verkehrt. Die Verhältnisse bleiben voll gewahrt und jede Partei bekommt nur die Sitze, die ihr zustehen. Damit wären dann ja sogar Einzelpersonen-Parteien abbildbar.

Die eigentliche Hürde

Das ausschließende Element ist doch die 5%-Hürde. Würde man diese ganz entfernen, gäbe es je 0,167% der Hauptstimmen einen Sitz. Es wäre deutlich attraktiver auch mal eine kleinere Partei zu wählen, deren Vorhaben besser zu den eigenen Interessen passen. Ich selbst und im näheren Umfeld höre ich immer wieder, dass man keine der großen Parteien, die derzeit im Bundestag sitzen so richtig gut findet. Man möchte nur nicht die Stimme an eine kleine Partei verschwenden, da diese höchstwahrscheinlich an der %-Hürde scheitern würde.
Wer etwas dagegen hätte sind wahrscheinlich die derzeitigen Bundestagsparteien, da diese somit einige Plätze abgeben müssten. Denn derzeit wird der Wählerinnenwille zugunsten dieser durch Nicht-Wähler und die %-Hürde massiv verzerrt.

Jetzt kommt von einigen (etablierten Parteien) bestimmt wieder die Leier von der Unregierbarkeit: Bei der Gelegenheit könnte man entweder mal direkt darüber nachdenken, ob man
a) im Sinne einer echten Gewaltenteilung nicht auch die Kanzlerschaft und die Justiz direkt vom Volk direkt wählen lässt oder
b) eine Minderheitenregierung in Kauf genommen wird.
In beiden Fällen müssten sich für das jeweilige Vorhaben wechselnde Mehrheiten finden (also kein Fraktionszwang, keine Koalitionsverträge, kein Kuhhandel).

Insgesamt müssten Linkspartei und CSU dann nicht mehr um Sitze bangen. … Zusätzlich gäbe es mehr Vielfalt im Bundestag.

Nicht-Wähler

Und wo das Wahlrecht schon mal angefasst wird, kann man auch diskutieren, wie man auf die Nicht-Wählerinnen oder Ungültig-Wählerinnen eingehen könnte: Wie wäre es, wenn diese Stimmen für eine fiktive Partei gezählt werden? Diese Partei bekommt dann, wie alle anderen Parteien, je 0,167% einen Sitz - Genauso wie die anderen Parteien nach absteigender Reihenfolge aus den % der Personenstimmen. Damit würde aus dem Wahlkreise mit der geringsten Wahlbeteiligung der ersten Zufallsplatz in den Bundestag einziehen. Der Wahlkreis mit der zweitschlechtesten Wahlbeteiligung schickt die zweite Zufallsperson. … und so weiter. Nicht-Wählen wird damit nicht mehr zu einer Zustimmung zur größten Partei sondern zu einem Egal/Schicksal/Zufall (je nach Glauben).

Eine andere Extreme wäre, dass man die Sitze der Nichtwählerinnen einfach leer lässt. Auch eine Nicht-Wahl ist ja ein Wählerinnen-Wille. Damit würde man dem auch Rechnung tragen. Diese Sitze stimmen dann automatisch immer gegen die Veränderung.

Beide -Nicht-Wählerinnen-Ansätze haben das Potential für eine sehr lebendige Demokratie. Es müssten für jedes Vorhaben echte Mehrheiten gefunden werden. Die Debatten wären wieder mehr an der Sache. Fraktionszwänge, diese ganzen „Ich hatte Bauchschmerzen aber dann doch wie meine Partei es wollte abgestimmt“ könnten endlich aufhören. Man kommt weg vom Einheitsbrei, von den Gefühl „die da oben“, von dem „geringsten Übel“ hin zur Möglichkeit die Probleme nach Mehrheiten anzugehen und nicht nach Einzelmeinungen von Parteiführungen.

Ich hätte wahnsinnige Lust darauf.

Es würde sich weiterhin die Frage stellen, ob man wirklich eine kleine Partei wählen möchte, die dann einen Vertreter in den Bundestag entsendet und im Endeffekt dort gegen die Großen trotzdem nichts ausrichten kann.
Grundsätzlich stellt sich natürlich das Problem, dass die Parteien im Bundestag keine Reform ohne Not vorantreiben werden, die ihnen schadet.
Das ist so bei den Parteispenden, dem Lobbyregister, parteinahen Stiftungen […] und dem Wahlrecht.

Edit: das ist ja eigentlich eine theoretische Diskussion, leider halt sehr aktuell gerade und dementsprechend mein post. Ich lass ihn trotzdem mal stehen :slight_smile:

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Au ja, einen echten BILD… äh, Volkskanzler! Und in der Justiz gibt’s dann auch Wahlkampf, da wetteifern die Richter für ihre Wiederwahl dann darum, wer die meisten Verurteilungen und die höchsten Strafmaße geschafft hat…

Damit erschwerst du nur eine Mehrheitsbildung, was dazu führt dass die vertretenen Parteien entweder zusammengezwungen werden damit überhaupt etwas passiert, oder die Politik handlungsunfähig wird weil sich gar keine Mehrheiten finden lassen.

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Im EU-Parlament sind ausschließlich „Kleinstparteien“ vertreten (die CDU stellt dort als stärkstvertretene Partei 3,3% der Abgeordneten) und ich habe den Eindruck, dass dort viele dieser (Sub-)Prozent-Parteien ihre Interessen (bzw. die ihrer Wähler) in die Gesetzesentwürfe einbringen können.

Siehe auch:

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Ich frage mich schon die ganze zeit etwas viel Grundlegenderes: warum nicht einfach Direktmandate abschaffen? Ich persönlich empfinde dieses „the winner takes it all“ als das eigentlich undemokratische und es würde wahrscheinlich auch automatisch zu einer höheren Frauenquote führen wenn die Listen von oben weg nach der einen Wählerstimme in den Bundestag kommen würden. Was übersehe ich hier? Wofür gibt es überhaupt Direktmandate? Auch gerne mal Ulfs Meinung oder die von anderen Juristen inwiefern das problematisch wäre.

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Verfassungsrechtlich wäre das auf jeden Fall zulässig.

Es gibt einfach bei uns eine gewisse Verfassungstradition, dass wir nicht alleine auf die Listenaufstellung der Parteien vertrauen, sondern die Wählenden ein wenig personalisieren lassen wollen.

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https://www.mehr-demokratie.de/aktionen/rettet-unsere-stimmen

Hier übrigens von dem Verein gestartete Petition zur Ersatzstimme im Zuge der Abschaffung der Grundmandatsklausel.

Wählen heißt auch sich zu entscheiden. Entweder wähle ich dann die kleine Partei und riskiere, dass diese nicht in Parlament einzieht, oder ich entscheide mich dagegen. Meine Stimme ist dadurch nicht verloren und fällt auch nicht unter den Tisch, da ich sie abgegeben habe.

Von einer Ersatzstimme sähe ich absolut keinen Vorteil, die drei am Ende der Seite genannten Gründe sprechen mich nicht an.

Ob jemand dann statt der kleinen Partei lieber „strategisch“ wählt, ist es sein freier Wille und seine eigene Entscheidung. Da bringt eine Ersatzstimme auch nicht das suggerierter Mehr an Demokratie. Ich würde der Person eher zurufen, dass sie dann auch zu ihrer Entscheidung stehen soll.

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Die Grundsatzdiskussion wurde bereits hier geführt

Hallo,

Weil in der Diskussion, ok, vielleicht nicht hier im Forum, ja auch immer wieder die beiden Vorschläge kamen, dass man nur die Erststimme, bzw. zu 50% jeweils die Erst- und Zweitstimme heranziehen könnte, habe ich mir mal die kleine Mühe gemacht darzustellen, wie unser Bundestag jetzt mit diesen Vorschlägen aussehen würde.

Und surprise surprise, Union und SPD wären komplett bevorteilt.

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Zudem finde ich haben Ulf und Philip einen anderen Punkt, und zwar im Hinblick auf die Direktmandate außer Acht gelassen: Ich denke, dass diese Abgeordneten enorm wichtig für die Bürgernähe und die Demokratiezufriedenheit sind, weil so jeder Bürgerin eine direkte Ansprechperson hat, die die Probleme und Herausforderungen im Wahlkreis kennt. Gerade Menschen, die sich sehr mit ihrer Region identifizieren, werden sich so schlechter repräsentiert fühlen. Ich würde mich freuen, wenn dieser Punkt in der nächsten Folge nochmal aufgegriffen werden könnte.

Woher kommt bloß diese immer wieder auch hier im Forum geäußerte Ansicht, Einwohner eines Wahlkreises wären irgendeine homogene Gruppe, die sich durch eine einzige Person von einer einzigen Partei repräsentieren ließen? Das grenzt schon arg an monarchistische Vorstellungen.

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Also außerhalb der Wahlen sieht man diese Abgeordneten auch nur um sich beim Schützenfest um sich beim Grußwort zuprosten zu lassen. Außerdem fühle ich mich nicht von dem CDU Mann repräsentiert, den ich nicht gewählt habe und der grad mal 25% erreicht hat.

Ich halte diese Idee für völlig überschätzt.

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Genau das. Das einzige, wofür man Wahlkreisabgeordnete braucht, ist als lokalen Ansprechpartner für Korruptionsofferten, wenn man Masken- oder Autohersteller ist oder sowas.

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@otzenpunk Naja, es gewinnt nunmal derjenige, der die meisten Stimmen bekommt - damit repräsentiert er eben die - relativ - meisten Menschen dieses Wahlkreises. Dass derjenige nicht unbedingt (oder besser gesagt in den seltensten Fällen) >=50% bekommen hat finde ich da schon ein deutlich besseres Argument. Das könnte man aber durch eine Stichwahl ausmerzen.

Also @otzenpunk und @Tris das mit dem Schützenfest und Korruption finde ich nun etwas arg platt. Ein Listenkandidat kann ebenso korrupt sein. Und jemand, der dauerhaft der Wahlkreiskandidat seiner Partei sein möchte hat nun wirklich genug Anreiz sich bei möglichst vielen Wählenden beliebt zu machen. Da punktest du sicher besser mit der Einwerbung von Fördergeldern für die neue Stadthalle/Musikschule/whatever als mit einem Maskendeal. Und jeder Wahlkreis hat seine geografischen/sozialen/whatever Besonderheiten, auch dies wird durch die Direktmandate gut abgebildet.

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Die nationalen Parteien schliessen sich zu „Parteifamilien“ zusammen. So viele gut unterscheidbare politische Richtungen gibt es ja auch nicht. Das EU-Parlament ist weltweit ein Sonderfall, mit nationalen Parlamenten schwer vergleichbar.

Das Direktmandat ist halt im Endeffekt so unwichtig, dass zu der Stichwahl niemand mehr hingehen würde. Insbesondere wenn sowieso klar ist, dass der eigene Kandidat bereits über die Liste in den Bundestag kommt.

Sorry, aber was hat das mit der Realität zu tun? Auch die Wahlkreisabgeordneten stimmen doch zu 99% mit ihrer Fraktion ab. Die CDU-Abgeordneten aus Schleswig-Holstein haben seinerzeit genauso den Windkraftausbau in Deutschland ausgebremst wie ihre CSU-Kollegen aus Bayern. Da klafft einfach eine eklatante Lücke zwischen der naiven Darstellung, wie einem die Direktmandate im Politikunterricht in der Schule erklärt werden und der Wirklichkeit.

Die Anzahl der Leute, die überhaupt den Namen ihres Wahlkreisabgeordneten unfallfrei nennen können, ist doch schon arg begrenzt, und die Zahl derjenigen, die tatsächlich mit der Erststimme nicht ihre bevorzugte Partei wählen, weil der Konkurrenzkandidat überzeugender ist, dürfte nochmal deutlich geringer sein. Und auf die Mehrheitsverhältnisse wirkt sich das sowieso nicht aus. Ein Direktkandidat tritt daher eigentlich gar nicht gegen seine Konkurrenten von den anderen Parteien an, sondern gegen die eigenen Parteikollegen von der Liste, was den allermeisten Wählern aber so gar nicht klar ist und auch demokratisch irgendwie gar keinen Sinn ergibt.

Und ein Großteil der Wahlkreise, insbesondere auf dem Land, ist auch gar nicht umkämpft, sondern gilt als „sicher“ für eine Partei. Da kann die Partei (meist CDU oder CSU) sprichwörtlich einen Besenstiel aufstellen, und der wird trotzdem gewählt. Die eigentliche Wahl des Kandidaten, der dann angeblich 300.000 Leute repräsentiert, passiert also auf einer Delegiertenversammlung mit vielleicht 100 Teilnehmern, oft ohne (zumindest chancenreiche) Gegenkandidaten, und die Wähler stimmen dann am Wahltag praktisch nur noch per Akklamation zu. Das hat mit Demokratie eigentlich nicht mehr viel zu tun, und die „Einwerbung von Fördergeldern für die Stadthalle“ hat auch garantiert weniger Einfluss als die Einwerbung von Parteispenden.

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Das ändert nichts an meinem Eindruck, dass es trotz der vielen Subprozentparteien funktionsfähig ist. Es ist eben ein Beispiel dafür, dass ein Parlament ohne eine %-Hürde funktionieren kann.