Streiks passen schon deshalb nicht in diese Aufzählung, weil Streiks gerade kein „ziviler Ungehorsam“ sind, sondern es klare rechtliche Rahmenbedingungen gibt, die den Streik erlauben. Streikende begehen daher gerade keine Ordnungswidrigkeiten oder Straftaten, sie verstoßen gerade nicht gegen gesellschaftliche Regeln.
Was als Beispiel passen würde, wären „Wilde Streiks“ - und abgesehen davon, dass die in Deutschland kaum vorkommen, wären die ein gutes Beispiel für Maßnahmen, die sich gezielt gegen die Verantwortlichen (Arbeitgeber) richten und lediglich Kollateralschäden in der Gesellschaft verursachen, sich aber eben nicht gezielt gegen die Gesellschaft richten.
Sorry, aber das halte ich wirklich für ein extrem untragbares Argument.
Wärst du auch dafür, dass wir stark ablenkende Werbung auf der Autobahn erlauben sollen (welche aktuell genau aus diesem Grund verboten ist!). Du vertrittst hier quasi die unrealistische FDP-Position der absoluten Eigenverantwortung, die jeden Einfluss der Gesellschaft ignoriert - eine Position, die du nie auch nur im Traum in anderen Beziehungen verwenden würdest, die dir hier jedoch gut in die Argumentation passt.
Menschen machen Fehler, Menschen sind nicht perfekt - und wenn sich jemand auf der Autobahn abseilt (oder sich ein Unfall ereignet) ist es leider sehr realistisch, davon auszugehen, dass es durch einen solchen Fehler (dh. abgelenkt zu sein) zu einem Unfall kommen kann. Strafrechtlich wäre die Abseilaktion dafür in jedem Fall kausal und es wäre auch objektiv zurechenbar, weil es eben so klar innerhalb der Erwartung liegt.
Da einfach jede Verantwortung pauschal abzustreiten („Ist doch die Schuld des Autofahrers wenn er sich ablenken lässt!“) ist einfach ein Argument, bei dem selbst ich - und ich stehe ziemlich weit links im politischen Spektrum - nicht mitgehen kann.
Natürlich gebe ich dir Recht, dass letzteres viel stärker kritisiert werden müsste, aber es ist in der Tat whataboutism. Nur weil es Morde gibt, sollten wir nicht alle Diebstähle ignorieren. Kurzum: Es gibt immer „schlimmere Fälle“, die dürfen jedoch nie ein Argument dafür sein, die weniger schlimmen Fälle zu ignorieren.
Nochmal ganz allgemein:
Ich unterstütze die Aktivisten und ihre Anliegen, ich finde lediglich, dass die Wahl der Mittel fragwürdig ist - und ich sehe es kritisch, diese Eskalation der Mittel der letzten Monate blind zu rechtfertigen, weil es dann nur eine Frage der Zeit ist, bis eine weitere Eskalation eintritt. Die Proteste testen natürlich auch die Grenzen dessen aus, was von der Gesellschaft (und vor allem dem Rechtsstaat) akzeptiert wird und hier ist es durchaus vernünftig, den Aktivisten klar zu machen, dass sie sich aktuell an der Grenze des Zulässigen bewegen (und diese u.U. bereits übertreten haben).
In diesem Sinne ist mein Appell nur, dass man sich wieder auf Mittel besinnen sollte, die „nach oben tretet“, statt „in die Mitte“ oder gar „nach unten“. Mir persönlich fällt es jedenfalls wesentlich leichter, Ordnungswidrigkeiten und Straftaten als zivilen Ungehorsam zu akzeptieren, die sich gezielt gegen die Mächtigen richten…