Gerontokratie Deutschland oder wieso ich nicht solidarisch sein will

In Berlin: ein Kollege (Mitte 30) fragt die Hausärztin nach einer Impfung. Bei Biontech gibt es 200 auf der Warteliste. Az geht sofort.

Wenn die Praxen in Berlin nicht immer erst am Donnerstag erfahren würden ob sie in der Woche drauf 20, 50 oder 100 Dosen Biontech kriegen, sondern einfach die Menge, die sie gut verimpfen können, regelmäßig bekamen, wären a) die 200 bald abgearbeitet und b) hätte die Praxis mehr Zeit für eine Priorisierung ihrer Patient:innen.

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Nehmen wir die Statistik: aktuell sind etwa 10% zweimal geimpft und etwa 34% einmal (Impfdashboard). Nach deine Logik würde ich annehmen, dass mindestens 30% der Menschen in Deutschland zu den ersten beiden Priogruppen gehören. Aber dann wäre die Impfreihenfolge ja mehr oder weniger sinnlos, da wir mit knappen Impfstoff erst versuchen, fast alle zu impfen.

Ich gebe zu, es gehört ein großes Maß Frust dazu. Seit Monaten werden die Impfungen als die Lösung propagiert. Und jetzt hängt an dieser Immunisierung auch noch eine Art „Passierschein“. Ich bin in der Priogruppe drei, nach der Logik müsste ich jetzt eigentlich dran sein. Ich bin inzwischen bei diversen Stellen aufgelaufen, ohne irgendwie weiter zu sein. Geschweige denn zu wissen, ob und wann ich geimpft werde.

Und ich wiederhole: Solidarität hat nichts mit Gefühl zu tun. Unsere ganze Gesellschaft baut auf dem Prinzip auf, für einander da zu sein, auch ohne direkten Nutzen. Es nützt uns allen, uns eben nicht gegenseitig erkranken oder sterben zu lassen.

Aber: warum bekomme ich keinen Stand, wann ich dran bin? Warum werden eben kerngesunde Menschen geimpft. Warum gibt es nicht überall Wartelisten? Warum wird das nicht effektiver gesteuert?
Die Solidarität wird bemüht, um zu verschleiern, dass das System eventuell nicht gut und transparent funktioniert. Den Menschen die Solidarität abzusprechen, weil sie sich nachdrücklich um eine Impfung - die ja durchaus für die gesamte Bevölkerung gewollt ist - bemühen, finde ich ebenso wenig zielführend, da jeder ja einen durchaus individuellen Grund hat, eben jene Impfung zu beanspruchen.

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Absolut berechtigte Fragen. Und auch ich finde es bei der Rede von Solidarität immer wichtig, darauf zu schauen, wer wann Solidarität von wem einfordert.
Ein Beispiel wie es auch anders gehen kann: In Dänemark gibt es insgesamt 16 Impfgruppen. Seit Januar gibt einen wöchentlich aktualisierten Impfkalender, auf dem man ziemlich genau sehen kann, wann welche Gruppe dran ist. Die Anmeldung klappt problemlos telefonisch oder online.
Zudem gibt es seit März schrittweise Öffnungen in zahlreichen Bereichen, von denen alle profitieren. Seit April gibt es eine „Coronapas“-App, mit der Geimpfte, Genesee und Getestete Zugang zu weiteren Öffnungen erhalten (z.B. Restaurants). Damit wurde eventuellen Solidaritäts- und Neiddebatten der Wind aus den Segeln genommen. Die Inzidenzen waren trotzdem lange unter denen in Deutschland (jetzt etwa gleichauf).
Astra Zeneca und Johnson & Johnson hat man aus dem Programm genommen und sich damit die Verwirrung und die gegenseitigen Vorwürfe, die es hier seit Wochen gibt, einfach gespart. Wer sich trotzdem damit impfen lassen will, kann es aber tun. Insgesamt hat sich das Impfprogramm dadurch um etwa einen Monat verzögert. Es wird ziemlich streng nach Reihenfolge (Alter & Vorerkrankungen) geimpft, bis Ende Mail sollen alle 65+ eine Erstimpfung erhalten haben, aber schon jetzt gibt es kaum noch neue Hospitalisierungen.
Und das alles wohlgemerkt bei der (anteilig) selben Menge an Impfdosen wie in Deutschland.

Edit: noch ein bemerkenswerter Unterschied: In Dänemark gibt es derzeit um die 30 Tests pro 1.000 Leute am Tag (hier werden Antigentests mitgezählt), in Deutschland sind es nicht mal 3. Die Positivratem die in Dänemark schon länger ein zentraler Bewertungsmaßstab ist, liegt dort unter 0,5%, in Deutschland bei über 10%.

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Hallo zusammen,

ich habe gerade erst die letzte Folge gehört und vor einer Weile in diesem thread das Thema schon gestreift

Als ich nun eben den Beitrag hörte, war mir nicht klar, ob ein Bewusstsein vorliegt, von den Einschränkungen, die unter dem Begriff Solidarität von einigen Gesellschaftsgruppen abgeforderte werden insbesondere im Angesicht der aktuellen Entwicklungen von Lockerungen und Öffnungen.

Kurzes Beispiel: Ich bin mit meinem Partner jeweils erstgeimpft und wir erhalten bis Ende Juni die zweite Impfung. Fein - hat ja lange genug gedauert, bis die Politik das mal auf die Reihe bekommen hat. Unsere Kinder (1 Jahr und 5 Jahre) können nicht geimpft werden. Kein zugelassener Impfstoff da. Nun das Problem: Jegliche Möglichkeit mal raus zu kommen und auch die Kids in ein Abenteuer zu stecken (Tierpark, Erlebniswelt, etc.) nach so einer langen Zeit der Heimbespaßung ist geknüpft an Freitesten. Das ist im ländlichen Raum leider nicht so einfach möglich, wie in Berlin, wo man aller Nase lange :wink: ein walk-in-Testzentrum vor einer Shopping Mall hat.
Insofern haben wir uns auf eine Woche Urlaub in MV im Juni gefreut, um einfach mal raus zu kommen. Ferienhaus ist seit letztem Jahr gebucht, weil das ja nicht so einfach zu bekommen ist an der Ostsee in der Hauptsaison. (An andere Länder - Schweden z.B. - denken wir gerade gar nicht - wer weiß, wie sich das mit den Fallzahlen bis dahin entwickelt.)
Nun können wir aufgrund der Mecklenburgischen Reiseverordnung dort nicht hin. Langzeitcamper und Wohnungsbesitzer schon. Tendenziell sind das ja eher nicht junge Familien. Also können die durchgeimpften Rentner fröhlich in den Urlaub fahren.
Will ich hier mit den Kids was unternehmen, dann muss ich sie am Freitag für Samstag frei testen. Über Sonntag reden wir mal gar nicht, da das Testzentrum Samstag nicht geöffnet hat. Das kann ich also für ein kommendes Wochenende gar nicht gewährleisten, da die Testzentren weit im Voraus ausgebucht sind und ich am Freitag früh (wenn mal ein Termin noch als Lücke da ist) naturgemäß arbeiten muss. Nicht mehr erwerbstätige hätten da natürlich Zeit. Testzentren vor Ort auch nur nach Voranmeldung.

Um auf das Argument zu kommen, dass alle was davon haben, wenn Solidarität gelebt wird:
Faktisch sehe ich es nicht, dass seit Beginn der Pandemie meine Kinder oder wir als Eltern irgendwas davon haben bzw. Solidarität von den Gruppen auch gelebt wird, die nunmal schon geimpft sind.
Ich finde die Darstellung in der Sendung zu kurz gesprungen und sie bezieht nicht die Gruppen ein, die hier wirklich zur Dauersolidarität genötigt werden, weil sie keine Lobby haben und auf Erwachsene angewiesen sind.
Warum kann man noch nicht mal spontan in ein Freilufttheater mit den Kindern ohne Test? Warum kann ich nicht in eine Ferienwohnung fahren, wenn meine Kinder nicht geimpft sind/sein können?

Das Solidaritäts-Argument der Krankenhausbetten ist obsolet. Die waren vor der Pandemie schon knapp bzw. nicht ausreichend Personal da. Da liegt ein anderes strukturelles Problem drunter. Es sollte nur sichergestellt werden, dass es nicht ausufert durch die Covid-Erkrankten.

Persönlich kann ich das kaum ertragen, was da in der letzten Folge so dargestellt wurde. Es ist nicht die ganze Facette des Problems. Es liegt eine manifeste Ungleichbehandlung der Gruppen vor, die vermeintlich ein geringeres Risiko tragen und deren stillschweigende Zustimmung zu den Maßnahmen wird eingefordert während vor ihren Augen die Freiheiten für die geimpften Alten ad hoc wieder da sind. (Schön - wenn Opa jetzt wieder zu Besuch kommen kann, kann er auch bloß nichts mit den Kids unternehmen.)
Das sollen sie auch wieder haben, jedoch dürfen die, die hier dafür die ganze Strecke vom Marathon gehen müssen, dann auch nicht vergessen werden. Das ist aber der Fall. Faktisch können wir seit Monaten nichts mit den Kids machen und Urlaub fällt nun auch aus. Im eigenen Bundesland was zu bekommen ist unmöglich. Geht uns anscheinend nicht allein so.
Wenn man sich jetzt freut, dass Kunst und Kultur und Gastro wieder zur Verfügung stehen, dann frage ich nur: Für wen denn? Mit Kindern ins Restaurant - nur nach Schnelltest mit Zertifikat. Keine Chance - auch vor Ort nicht bei min. einer Woche Vorlaufzeit.
Museum? Theater? Ja. Sollen die Rentner ruhig gehen, doch hilft das meinen Kindern nicht weiter.

Was wäre denn, wenn man dann mal vorschlägt, die Rentenerhöhung aufgrund der gezeigten Solidarität einfach mal fünf Jahre auszusetzen, um Erzieher ausreichend zu bezahlen, Schulen zeitgemäß auszustatten und Pädagogen/Therapeuten für die Behebung der Pandemieschäden bei den Kindern zu finanzieren? Da wäre die Solidarität aber ganz schnell einseitig beendet. Ist ja auch klar - die Vorteile haben die entsprechenden Gruppen ja nun schon alle bekommen. Warum noch solidarisch sein mit zukünftigen Generationen? Womit wir wieder bei Klimapolitik und Rentenmodell etc. wären.

Es ist eine furchtbare Gerontokratie in diesem Land und ganz ehrlich: es k***t mich an.

Wisst ihr, ich könnte seit 15 Jahren entspannt privat krankenversichert sein, doch ich bleibe in der GKV, weil aus meinen Augen das System sonst nicht funktioniert. Mittlerweile denke ich mir: Schön blöd. Besser Behandlungsstandards für etwas, was ich nur einmal habe (Gesundheit) aufzugeben aus Solidarität, wo die, die hier von der Solidarität anderer profitieren (- ihr könnt hier den Egoismusgedanken bringen, meinetwegen, aber objektiv profitieren nunmal jene, die älter waren nun davon, dass sie schon geimpft sind, andernfalls widerlegt das bitte, dass sie profitieren -) in keinem Atemzug über ihre Verantwortung der jüngeren Bevölkerung gegenüber nachdenken…

Verzicht auf Rentenerhöhung bringt leider keine Wählerstimmen… .

Ein armes, rückwärtsgewandtes Land…

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Ich habe schlechte Nachrichten, denn es geht noch weiter. Es wird weiter geimpft und es wird weiter gelockert. Und wer nicht geimpft ist, der wird früher oder später infiziert. Heißt es gibt jetzt einen Wettlauf Impfen gegen die Ausbreitung des Virus.
Ihr habt schon mal das Glück, dass ihr bereits geimpft seid, aber Eure Kinder und der Großteil der anderen Eltern sind Corona nahezu schutzlos ausgeliefert, es sei denn

  1. die Zahlen sinken und bleiben auf sehr niedrigem Niveau (womit ich aber nicht rechnen würde, wird ja jetzt bereits von zurück zum Normalzustand geredet) oder
  2. sie nehmen ihre Kinder aus Kita/Schule und isolieren sich bis zur Impfung (mit entsprechenden Folgen: Finanziell, Stress, Entwicklung der Kinder).

Da 2. nach über einem Jahr Corona eher nicht in Frage kommt, entscheidet das Verhalten der Politik (und Mitmenschen) darüber, wie viele Eltern und Kinder sich infizieren werden. Wenn man dann noch bedenkt, dass Long Covid auch bei Kindern auftritt und die Quote in Italien bei 50% lag, dann wird mir ganz anders. Das kann auf den letzten Metern noch richtig, richtig schlimm werden.

„Auch Kinder können betroffen sein. Eine erste Studie aus Italien bei Kindern, die zwischen März und November 2020 an Covid-19 erkrankt sind, zeigt, dass mehr als die Hälfte der 129 untersuchten 6– bis 16-Jährigen auch vier Monate nach der Erkrankung noch mit mindestens einem Symptom zu kämpfen haben. Davon geben über 40 Prozent an, von diesen Beschwerden in ihrem täglichen Leben beeinträchtigt zu sein.“

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Das Argument ist doch ein Anderes. Du betrachtet gerade jede Entscheidung eigenständig und unabhängig.

Ich glaube auch, dass viele Beiträge im Forum einen Konsens haben. Grundsätzlich sollte jemand der Immun ist keiner Grundrechtseinschränckung unterliegen. Das Privileg ist aber, dass jemand durch eine Impfung immunisiert wurde, weil zuvor andere solidarisch waren indem priorisiert wurde.
Das gesellschaftlich diskutierte Argument ist eben nicht Solidarität sondern Gerechtigkeit. Auch wenn viele Solidarität sagen, folgt man jedoch ihrer Argumentation geht es um Gerechtigkeit.

Hierzu sollte also die Gesamtsituation der ausschlaggebende Grund für die ergriffenen Maßnahmen. So auch der Ethikrat.

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Gruppen, die durch die Pandemie schlecht behandelt wurden:

  • Die ganz Alten, weil sie monatelang in den Altenheimen eingesperrt wurden und dennoch durch viele Ausbrüche sehr viele gestorben sind.
  • Die Jungen, weil sie entscheidene Erfahrungen nicht machen konnten und ihnen ein Jahr Kindheit und Identitätsbildung geraubt wurde.
  • Die Eltern, die in der Doppelbelastung von Homeoffice und Kinderbetreuung völlig überlastet wurden.
  • Alle Mitarbeiter, die irgendwie in der Krankenpflege oder in der Organisation von Impfstoffen tätig sind und seid über einem Jahr massive Überstunden schieben.
  • Alle, die seit Monaten ein Arbeitsverbot haben.
  • Alle Großeltern, die nun über ein Jahr jedes Mal Angst hatten, wenn ihre Kinder sie besuchen kamen.
  • Alle weiteren, die ich gerade hier vergessen habe.

Kurzgefasst: JEDEM geht die Pandemie extrem auf die Nerven. Jede Entscheidung wird zu einer Gruppe führen, die schwer enttäuscht ist. Ich fand auch viele politische Entscheidungen so nicht nachvollziehbar und die Pandemie hat sehr viele Schwachstellen offen gelegt, die mich auch wütend machen. Trotzdem halte ich es für ein riesen Privileg, dass ich in Deutschland leben darf und in ein paar Monaten auf einen Impfstoff hoffen kann. Der Impfstoff ist eine finite Ressource. Die Argumentation, dass alles bei der Organisation im Impfen verbockt wurde und gleichzeitig im nächsten Abschnitt das Problem der internationalen Verteilungsungerechtigkeit anzuprangern, finde ich absurd. Ich bin sehr froh, dass meine Eltern, die zu dieser hier als ganze Gruppe angeprangerten Rentnergruppe gehören, inzwischen geimpft sind, weil ich nun keine Angst mehr um sie haben muss. Sollen sie doch jetzt bitte mal in Urlaub fahren und mal was anderes sehen als ihre vier Wände. Ich freue mich für sie! Ich bin auch wütend über viele Fehlentscheidungen, ich hatte auch depressive Verstimmungen besonders in den letzten Wintermonaten und ich bin überrascht, wie sehr mir einfach mal ein paar Tage weg von zu Hause fehlen, aber jetzt kommt der Sommer, da ist es auch in der Heimat direkt schöner. Also noch etwas weiter durchhalten und versuchen, sich auf positive Aspekte zu konzentrieren, neue Hobbies draußen pflegen und nicht nur das negative zu sehen.

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Also wären Ungeimpfte auf dem Arbeitsmarkt gegenüber Geimpften benachteiligt? Das würde ja noch mehr Anreize schaffen sich unter falschen Angaben einen Impftermin zu erschleichen.

Angesichts der Tatsache, dass in Marburg und Reinbek bei Hamburg jeden Monat 100 Millionen Dosen Biontech produziert werden, kann ich über den Impfstoffmangel nur noch den Kopf schütteln. Da dürfen wir uns von den Franzosen nicht weiter auf der Nase rumtanzen lassen.

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Sorry, aber für viele der von Dir genannten Gruppen geht es eben um etwas mehr als dass ihnen die Pandemie „auf die Nerven“ geht. Viele Menschen werden an den Folgen dieser Pandemie auch nach Ende aller Impfungen und Maßnahmen noch jahrelang zu knabbern haben, einige ein Leben lang. Ich gönne jedem Menschen so viel Urlaub und Spaß im Leben wie es nur geht - auch Dir und Deinen Eltern. aber den generellen Apell, durchzuhalten und positiv zu denken, finde ich angesichts so mancher Lebenslagen ehrlich gesagt ziemlich empathielos.

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Danke für dein Feedback. „Auf die Nerven“ ist ein völlig falscher Ausdruck, und ein allgemeiner Appell sicherlich mehr als nutzlos, hier lebe ich als Student in einer Blase, weshalb ich auch noch auf den Impfstoff warten kann. Ich entschuldige mich dafür, wenn ich damit jemanden verletzt habe.
Mein Kernpunkt ist: Der Umgang mit dem Virus ist eine extrem große Herausforderung, die auch unsere Politiker völlig überfordert, leider viel mehr, als man vor der Pandemie gehofft hat. Viele Strukturen sind veraltet und perfekt geeignet, um Verantwortung weiterzuschieben, was bei einer Pandemie tödlich ist. Jetzt gerade eine Entscheidungsposition innezuhaben ist eine extreme Drucksituation, mit der offensichtlich nur wenige gut umgehen können. Sehr fundamentale Kritik und starke Gruppenbildungen (Die Alten, die Politik), die ich hier teilweise in den Beiträgen lese, halte ich für sehr verständlich, aber nicht hilfreich und eher gefährlich. Aus diesem Impuls kam meine Nachricht. Ich werde versuchen, mich in Empathie zu üben, sogar für Politiker.

Danke Dir ebenfalls für Deine Antwort! Ich bin auch absolut dagegen, Menschen in mehr oder weniger passende Schubladen zu stecken und verschiedene Gruppen gegeneinander auszuspielen. Aber das heißt für mich auch, das zu kritisieren, wenn es passiert, etwa wenn bestimmten Gruppen die Verantwortung für ein verstärktes Infektionsgeschehen gegeben wird.
Eine ganz andere Sache ist es mMn, real existierende Unterschiede bei Lebensrealitäten, Ansichten, Wahrnehmungen und Interessen auch als solche zu benennen. Formeln wie „wir sitzen doch alle im selben Boot“ dienen m. E. eher dazu, solche Unterschiede zu verschleiern, was dann meist bestimmten Teilen der Gesellschaft zuträglich ist und anderen nicht.

Dazu möchte ich eine Erklärung anbieten:
Es haben sich zwei unversöhnliche Lager gebildet, die recht weit entfernt sind. Die Einen posten mit dem Gedanken „Warum begreifen DIE denn nicht endlich, wie ungebührlich es ist gegen die Grundrechte zu wettern?“. Die Anderen posten mit dem Gedanken „Warum begreifen DIE denn nicht endlich, dass hier eine tiefe Ungerechtigkeit am Werk ist, gegen die etwas unternommen werden muss.“

Das Problem ist mMn dass der Begriff „Neid“ als Erklärung für das Aufgeschrei ein sehr stimmiges Gesamtbild ergibt (Grundrechte=höchster Wert > moralisch edle Gemüter würden miemals dagegen aufschreien > Neid als schlechte Angewohnheit und eher niederes Motiv eklärt alle Beobachtungen, das Aufgeschrei muss wohl Jammern sein, dass die sich besser mal abgewöhnen sollten…). Tückischerweise wird damit gleichzeitig eine gefühlte moralische Überlegenheit geschaffen, die die gleiche Augenhöhe zerstört. Diese aber wäre für einen konstruktiven Diskurs notwendig. Es stehen sich somit - je nach Perspektive - gegenüber: Erzieher versus Neider | Starrsinnige versus Sich-Verratene/Verlassene-Fühlende. Was wir im Forum verfolgen können ist das fortwährende Instellungbringen von zwei Meinungen - in immer wieder neuen Geschmacksrichtungen.

Ich habe vor etwa zwei Wochen das Lager gewechselt. Wenn man die zunächst stimmige Neidgeschichte mal versucht in den Details auszuleuchten, dann geht die Stimmigkeit leider ein bisschen verloren und man muss Zusatzerklärungen einfügen, die sich nicht mehr ganz so gut anfühlen (z.B. Solidarität wird runtergespielt oder als Täuschungsmanöver herausgestellt… ich erspare uns hier noch Weitere nennen).

Ich denke um hier zu einer eine gemeinsamen Diskussionsbasis zu finden müsste zunächt jeder Teilnehmer das positive Mindest einnehmen, dass sich hier vermutlich Jeder erstmal mit guten Absichten einbringt. Dann müssten bei diesem Thema auf die Begriffe „Neid“ und „Privileg (im Zusammenhang mit Grundrechten)“ verzichtet werden.

Ich frage mich, da ist gerade viel Emotion drin und vielleicht haben wir in dieser Ausnahmesituation mit den Fehlern der letzten sechs Monate einen nie zuvor erlebten unglücklichen Grenzfall erreicht, und sehen nun, dass das Ziel einer friedlichen/freundlichen Gesellschaft mit den Mitteln der Verfassung kein Selbstläufer ist?

Ich möchte anregen, die Gegenwehr nicht pauschal abzuwehren sondern zu ergründen, ich denke mit den Mitteln der Sozialpsychologie, Moralpsychologie. Um daraus dann im Diskurs ein „feinfühligeres“ Ausgestaltungspotential zu entdecken.

Mein Literaturtipp (als Startpunkt, um Motive der eigenen und Gegenposition zu ergründen): Jonathan Haidt - The Righteous Mind: Why Good People are Divided by Politics and Religion. (Ich denke das Titelbild rundet meinen Beitrag hier ab.)

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Hallo FlorianR und alle zusammen,

vielen Dank für diese Rückmeldung! Unter dem Titel dieses Threat noch kurz eine kleine Rückmeldung in Zusammenhang mit deinem und weiteren Kommentaren: Die besonders vulnerablen Gruppen wurden ja über die Impfpriorisierung zuerst geschützt im Sinne des Soldaritätsgedanken. Nun stellt sich mir die (zugegebenermaßen ethisch brisante) Frage, ob ein lebenslanges Leiden an den Folgen der Infektion für Kinder nicht gleich zu setzen ist mit der Priorität der Alten vorzeitig zu versterben. Zugegebenermaßen ist das Bild der Folgen der Erkrankung noch unvollständig, was allerdings der Kinetik der Pandemie unterliegt, jedoch verdichten sich doch die Daten, dass erhebliche Konsequenzen für die drohen, die sich am allerwenigsten schützen können - Kinder. Aus biologischer Sicht wird der Evolutionsdruck für das Virus bei zunehmender Impfdichte in diese zwangsweise vulnerable Gruppe hinein unglaublich groß, da es eine flächenmäßige Verbreitung benötigt, um erfolgreich zu überleben.
Nun folgt darus aus meiner Sicht: Kinder sind besonders gefährdet und leiden potentiell länger und den Konsequenzen der Entscheidungen von heute. Wird das berücksichtigt von den Entscheidungsträgern?
Unsere Forschungs- und Bildungsministerin hat diese Woche stolz einen x00-Mio-Topf für die Medikamentenforschung gegen Covid verkündet. Ich dachte, den gibt es schon längst! Warum kommt das denn jetzt erst? Hat da jemand erkannt, dass man 0-12 Jährige absehbar noch nicht impfen kann, weil die Nachbeobachtungszeiten in Studien bei Kindern einfach länger sein müssen. Na herzlichen Glückwunsch! Schön dass der Politik das pünktlich dann einfällt, wenn der Infektionsdruck auf diese Bevölkerungsgruppe exponentiell mit dem Impftempo wächst. Diese Studienparameter für Kinder sind doch längst bekannt aus vorangegangenen Impfstoffentwicklungen.
Ich verstehe unter Gerechtigkeit (@Dancho: Danke für deinen Beitrag!), dass an alle Bevölkerungsgruppen in der präventiven Entwicklungsstrategie gedacht wird. Nun fällt den Entscheidungsträgern nach über einem Jahr auf, dass wohl keine 82 Mio mit zugelassenem Impfstoff versorgt werden können, mangels Kontraindikation für z.B. Kinder oder Schwangere. Schön, dass dan JETZT mit dem Push für die Medikamentenforschung begonnen wird.
Das ist nicht gerecht. Die Medis hätten schon längst entwickelt sein können, um unsere Kinder zu schützen.
Na wir kümmern uns doch in diesem Land erstmal um die vulnerablen Gruppen, die Stimmzettel ausfüllen dürfen…

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Turkey took this to a whole different level! Ich musste wirklich laut lachen, als ich diese Headlines gelesen habe, darüber, was bei uns gerade passiert:

-„Türkei unbegrenzt, jetzt ohne Türken erhältlich“

-Touristen sind begeistert vom Lockdown: „Es ist wundervoll“

So haben die Satiriker darüber geschrieben, aber was sie sagen ist wahr: bei uns müssen die Türken zu Hause bleiben und die Touristen dürfen überall hin!

Natürlich fühlt sich das sehr ungerecht an. Wenn ich die Impfung bekomme, ich wollte nach so langer Zeit endlich mal nach Hause fliegen. Aber jetzt denke ich, "wie interessant; hätte ich einen Deutschen Pass, könnte ich mich in der Heimat frei bewegen ":- )

Himmmm, aber wie immer, wenn man die Situation nicht ändern kann, kann man vielleicht bei sich etwas ändern. Ich stelle mir diese Frage vor:

" Wenn du sowieso nicht rausgehen darfst, willst du auch, daß die Touristen eingesperrt sind die diese wunderschöne Stadt vielleicht nie gesehen haben?"

Na ja, .z.B ich habe Hagia Sophia schon mehrmals gesehen. Aber es wäre wirklich schade für jemanden der aus einem fernen Land für wenige Tage nach Istanbul kommt, die Möglichkeit zu verpassen eine der schönsten Bauwerke der Welt zu sehen. ( Leider jetzt nur von außen … )

Noch ein Punkt:

Einer von meinen Helden ist Matthieu Ricard, ein molecular biologist-monk!! Er ist der Sohn eines berühmten Französischen Philosophen. Er hat sein Phd in molecular genetics in Sorbonne bei einem Nobelpreisträger gemacht und dann ist er ein Buddhistischer Mönch geworden! Er hat sich aber von der Wissenschaft nie verabschiedet.

Er sagt, daß dieser Zitat ihm oft geholfen hat:

" If there is a cure, what good is discontent?

If there is no cure, what good is discontent"

Ich finde diese Rede von ihm über den Altruismus besonders wertvoll:

Jain. Als die Impfpriorisierung festgelegt wurde, wurde dies auf Basis der Erkrankung Covid-19 gemacht. Und das war grundsätzlich auch in Ordnung, abgesehen davon, dass das Infektionsrisiko zu wenig mit einbezogen wurde. Aber es gibt ja noch Long Covid. Das kennt man immer noch nicht so wirklich genau, aber die Risikogruppe ist dafür eine andere: Bevorzugt Frauen und nicht alte Menschen, sondern Menschen mittleren Alters.

Ich bin auch sehr zwiegespalten. Einerseits kann ich die Entscheidungen nachvollziehen. Wenn ich jetzt allerdings die Situation nicht auf der Ebene des Individuums betrachte, sondern die gesamte Gesellschaft betrachte, dann sehe ich sehr diffuse, aber trotzdem massive Schäden:

  • Menschen, deren Altersvorsorge wegen Corona weg ist
  • Schüler/Studenten, denen 1,5 Jahre Ausbildung fehlen
  • Fast alle Menschen, denen 1,5 Jahre Kontakteinschränkungen psychisch zugesetzt haben
  • Alle an Covid-19 oder Long Covid erkrankt sind
  • Massiver Stress bei Pfegekräften, Eltern, Kindern, Menschen, die ihrem Beruf nicht nachgehen können, …
    Ich hab sicher noch was vergessen, aber das Potential ist da enorm und macht mir auch Angst. Denn der Schaden ist da und damit müssen wir leben.
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Das hier könnte übrigens ein Grund für die Wut der Jungen sein:

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@vieuxrenard ich glaube euer Ansatz aus der letzten Lage traf das Problem perfekt. Ich weiß nicht wie es anderen geht aber für mich zumindest stellt die Umlenkung auf das Thema Gerechtigkeit wirklich die Diskussion für beide Seiten wieder auf die Füße. Allerdings glaube ich fast dass der heftige Aufprall dieser Meinungen vielleicht sogar nötig war um so klar zu formulieren, wo das Problem wirklich ist (wenn auch zugegeben vielleicht etwas weniger emotional) - das sehe ich sowohl in diesem Forum als auch in den meisten Medien, die Argumente inzwischen deutlich mehr abwägen als noch vor einigen Wochen.

Es spielt eben alles ineinander - wie in jedem Konflikt ist es oft schwierig ein einzelnes Thema getrennt vom Gesamtkontext rational zu betrachten. Und wahrscheinlich fällt so etwas Jurist*innen berufsbedingt noch einmal leichter als den meisten anderen. :wink:

Was ich damit sagen möchte ist danke. Ich freue mich schon auf die nächste Lage!

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Ich verstehe die Diskussion nicht ganz: die Millenials (um die Jahrtausend-Wende geboren) beklagen sich über die mangelnde Solidarität der älteren Generation (Menschen im Rentenalter).

Mein Vater wurde 1933 geboren. Also Einschulung 1939 - mit der Folge, dass Schule wie wir das heute kennen nicht drinnen war. Da sein Vater den Krieg nicht überlebte, musste er früh arbeiten. Keine Chancen auf Abi oder Studium. Keine Chance, den Wunsch-Beruf zu ergreifen. Überleben war angesagt und das Land wieder aufbauen nach einem Kriegers, den sie nicht verursacht hatten. Das war wirklich eine Generation, der die Jugend geraubt wurde.

Ich wurde Anfang der 70er geboren. Und hatte schon einige Vorteile: die Möglichkeit der Bildung, die Möglichkeit in Frieden aufzuwachsen.

Auch in den 90er Jahren wurde schon darüber gesprochen, dass die Rentenversicherung nicht ausreicht. Schließt eine Kapitallebensversicherung ab, das bringt eine bessere Rendite, haben sie gesagt. Von der Zins-Flaute und der Null-Zins-Politik der EZB 10 Jahre später wusste man damals noch nix.

Heute sehe ich die Dinge differenzierter: wir leben seit mehr als 70 Jahren in Frieden, dass ist eine Leistung der Generationmeiner Eltern. Viele Menschen auf dieser Welt haben dieses Privileg nicht. Frieden ist eine Voraussetzung für vieles andere: für Bildung, Gesundheit und eine intakte Umwelt. Das ist unsere Aufgabe und die Aufgabe für Menschen, die nun heranwachsen.

Ich selbst bin noch nicht geimpft. Ich sehe allerdings für mich keinen Nachteil, wenn Menschen, die bereits geimpft sind, wieder ein halbwegs normales Leben leben dürfen.

Covid birgt nicht nur die Gefahr, daran zu sterben. Auch Long-Covid ist eine Thema, dass auch jüngere Menschen betrifft. Wie relevant dieses Thema wirklich ist, wird sich noch zeigen müssen. Wenn aber jede/r 10. Infizierte tatsächlich wochenlang, monatelang vielleicht sogar jahrelang von Symptomen wie Erschöpfung, Müdigkeit oder Konzentrationsschwierigkeiten betroffen ist, rollt ein Problem auf uns zu. Von dem auch (vielleicht sogar besonders) junge Menschen betroffen sind. Es scheint ja so zu sein, dass junge Menschen deutlich seltener von schweren Verläufen und Tod betroffen sind, dafür aber öfter an Langzeitfolgen leiden. Dazu kommt, dass Covid keine Atemwegserkrankug ist (wie zuerst vermutet) sondern eine Gefäßerkrankung. Daher geht man zwischenzeitlich davon aus, dass Infizierte ein höheres Risiko für einen bunten Strauss von Krankheiten haben - von Herz-Kreislauf-Erkrankungen bis hin zu Demenz.

Eine Infektionen ist also für niemanden empfehlenswert - weder für jung noch für alt. Daher haben auch alle von den Präventionsmaßnshmen profitiert. Ob nun kurz- oder langfristig.

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