Ich habe große Bauchschmerzen bei dieser Aussage, sie mixt zwei grundlegend unterschiedliche Konzepte. Demokratie gibt es nicht bei Fakten sondern bei Meinungen und Interpretationen. „Wir haben eine Krise, wir können folgendes darüber sicher sagen, die meisten Dinge sind allerdings unsicher. Was wollen wir tun?“ - Das ist der Bereich in dem es Politik und Demokratie geben sollte. Wir wollen keine Abstimmung darüber was die Fakten selbst angeht sondern möglichst gute Messungen und eine möglichst genaue Abschätzung der Unsicherheiten dieser Messungen. Diskussionen gibt es dann darüber ob diese Messungen akkurat die Wirklichkeit abbilden. Aber „alternative Fakten“ gibt es einfach nicht.
Tatsache ist dass nicht jeder Mensch dasselbe Wissen hat. Wenn Expertenmeinungen nichts zählen und die politische Debatte nicht beeinflussen können, ist Demokratie leider sehr anfällig für Populismus… Die Welt ist kompliziert und ohne Experten auf jedem Gebiet geht es nicht mehr. Guck dir ein Auto von or 25 Jahren und heute an - heute braucht man einen Experten. Für unsere heutige Welt und alle Vorteile die wir genießen müssen wir in Kauf nehmen nicht mehr alles selbst zu verstehen. Leider sind diejenigen mir dem wenigsten Verständnis meist diejenigen die ihr eigenes Wissen am meisten überschätzen (z.B. Dunning-Kruger-Effekt – Wikipedia).
Wenn das Argument allerdings sein soll dass Menschen der Wissenschaft hörig sind, so kann ich beruhigen. Das Gegenteil ist derzeit eher das Problem. Es gibt kein öffentliches Ansehen für Wissenschaftler (Test: Wie viele außer Christian Drosten kennen Sie mit Namen?), die Arbeit ist sehr schlecht bezahlt (Doktoranden erhalten nach 5 Jahren Studium beispielsweise 50% TVÖD E13 bis maximal Stufe 2 und 20 Urlaubstage bei durchschnittlich 55-70 Stunden pro Woche je nach Feld), es gibt kaum entfristete Stellen und am Ende wird man von diversen Lobbyorganisationen beschimpft, die aus irgendeinem eigenen Interesse die Forschung diskreditieren möchten und sich selbst als missverstandene aber nicht wissenschaftshörige Exerten verkaufen.
Wissenschaft ist in einer massiven Krise (z.B. What is science’s crisis really about? - ScienceDirect) und wird wohl kaum die Weltherrschaft an sich reißen. Das Gegenteil ist der Fall.
Ich glaube Ulf und Philip haben das neulich mal erwähnt - das Problem ist, dass es zwar verschiedene Meinungen in der Wissenschaft gibt und auch Randmeinungen geben darf, dass aber abhängig vom Feld einige Meinungen einfach mehr Gewicht haben als andere. Wenn ich in meinem Feld der biologischen Forschung zu einem Physiker gehe (oder auch nur zu einem Bakteriologen) und argumentiere dass deren Ideen Unfug sind, dann muss ich sehr, sehr überzeugende Argumente bringen um gehört zu werden, denn das ist nachweislich nicht mein Fachgebiet. Alternativ kann ich mich an Medien wenden die versuchen möglichst kontroverse Ideen zu hören die noch neu und spannend sind und übergehe damit die Experten, die später versuchen müssen meinen Quark zu korrigieren, dabei dann allerdings als lärmende Wichtigtuer hingestellt werden.
Letzteres ist in der Pandemie (und auch in allen anderen Lebenslagen) leider immer häufiger der Fall - die „wissenschaftliche Minderheit“ besteht meistens aus ehemaligen Angehörigen irgendwelcher Behörden oder Medizinern die eventuell noch nicht einmal ein Labor von Innen gesehen haben, es aber „besser wissen“ durch „gesunden Menschenverstand“. Das ist ein Problem, denn es kostet Kraft ständig gegen allen möglichen Quatsch zu argumentieren der im Internet verbreitet wird. Kurioserwese hält das die echten Spezialisten, deren Ausbildung wir alle mit Steuermitteln aufwändg finanziert haben von der Arbeit ab und am Ende heißt es dann „die Wissenschaft“ sei sich uneinig. Es ist ein Nullsummenspiel bei dem die echten Experten nur verlieren können.
Und das heißt nicht dass Wissenschaftler nicht falsch liegen können oder sich oft Ihrer Sache zu sicher sind. Das ist menschlich und tatsächlich auch ein Problem deshalb muss es auch in der Wissenschaft einen fairen Diskurs geben und wir haben zu einer guten Streitkultur noch einen weiten Weg zu gehen. Aber dass das zur Wissenschaftshörigkeit führen würde halte ich im derzeitigen Klima für hochgradig unwahrscheinlich…