Wie funktioniert das gesetzliche Rentensystem genau?

Liebes Forum,

ich bin Martin Drees, 24, promoviere in Mathematik in Bonn und beschäftige mich seit 2 Jahren als privates Projekt mit dem gesetzlichen Rentensystem. Ich bin nicht Mitglied einer Partei.
Mittlerweile habe ich einen Vortrag auf einer wissenschaftlichen Konferenz (Quelle) gehalten, mehrstündige Diskussionen mit Rentenexperten (u.a. Bert Rürup und Christina Wilke) geführt, und ein Paper verfasst.

Insgesamt würde ich sagen, dass ein Kernproblem des gesetzlichen Rentensystems darin besteht, dass es enorm kompliziert ist und man kaum eine Chance hat, selbst die grundlegende Funktionsweise des Systems zu durchschauen.
Ein einfaches intuitives Verständnis führt zudem meist zu fundamental anderen Schlüssen als eine tiefe Analyse. Das habe ich auch mehrfach selbst erlebt.

Ich möchte die Komplexität des Systems mit zwei Fragen exemplarisch darstellen:

  1. Wie funktioniert das Grundprinzip der gesetzlichen Rentenversicherung, das § 63 Abs. 1 SGB VI beschreibt, genau? (häufig als Äquivalenzprinzip oder Teilhabeäquivalenz bezeichnet)
  2. Wie funktioniert der Nachhaltigkeitsfaktor, insbesondere wie lässt sich der Term begründen/herleiten? (Edit: Die Antwort sollte insbesondere Aufschluss darüber geben, warum der Nachhaltigkeitsfaktor theoretisch negativ werden kann)

Meines Erachtens sind beide Fragen sehr relevant für das Rentensystem. Die erste handelt vom wahrscheinlich wichtigsten Prinzip und die zweite von einem durchaus signifikanten Bestandteil der Rentenanpassungsformel.
Beide Fragen sind jedoch auch mit Unterstützung des Internets und Literatur sehr schwierig zu beantworten. Mich würden eure Antworten zu diesen Fragen interessieren (meine eigenen Antworten würde ich fürs erste zurückhalten).

Ich würde mich sehr freuen, wenn die Lage nochmal etwas tiefer in das Thema gesetzliches Rentensystem einsteigt.

Martin

Ich verstehe diesen Thread nicht. Was ist die Frage? Was soll hier diskutiert werden?

Was reicht dir an den von dir verlinkten Quellen nicht?

Häh? :thinking: Kennst du die Antwort und willst nur testen, ob wir sie auch kennen?

Das sehe ich ganz anderes.
Gerade die grundlegende Funktionsweise ist sehr leicht zu verstehen - was nicht heißt, dass jeder Einzahler und Rentner es tut.
Kompliziert sind doch eigentlich nur die Ausnahmen, Anerkennungszeiten etc., die aber rein politisch gewünschte Eingriffe sind.

Bitte mal in LdN244, aber auch LdN265 nachhören.
(Bin ich zu blöd, um einen richtigen Link zu finden?)

Das würde mich interessieren, hast du dafür ein Beispiel?

Der Wikipedia-Artikel zum Nachhaltigkeitsfaktor hat keine Erklärung, wie der Term zustande kommt. Die Beschreibung im Gesetz sagt sehr wenig darüber aus, wie dieses Prinzip funktioniert und was daraus folgt.

Es gibt auch Irrtümer dazu (edit: hier nicht zum Nachhaltigkeitsfaktor, sondern zur Teilhabeäquivalenz), wie zum Beispiel folgender Artikel zeigt: Gesetzliche Rente: Bedeutet Teilhabeäquivalenz Verteilungsneutralität? – Ein weiterer Irrtum - Wirtschaftsdienst

„Die Antwort kennen“ ist nicht so klar, weil jede Antwort wahrscheinlich wieder diskussionswürdig ist, ich möchte hier nicht direkt eine persönliche Sichtweise reinbringen.

Meines Erachtens gehört das genaue Verständnis des Grundprinzips und seinen Implikationen schon dazu und der verlinkte Artikel zeigt, dass es nicht leicht zu verstehen ist.

Das kann ich vielleicht nochmal machen, auch wenn die Folgen wohl mittlerweile nicht mehr so aktuell sind. Ich habe das aktuellere und ausführlichere Rentenkapitel im Lage-Buch mehrfach gelesen. In diesem wird das Äquivalenzprinzip beschrieben als „Wer doppelt so viel einzahlt, bekommt doppelt so viel raus.“ Das ist sehr stark vereinfacht (was im Rahmen des Buches natürlich auch ok ist) und vernachlässigt dadurch zum Beispiel relevante Verteilungswirkungen.

Reform des Rentensystems - ein Vorschlag Den Vorschlag, den ich hier am Anfang meines Rentenprojekts vor zwei Jahren gemacht habe, ist zum Beispiel relativ naiv, weil ich die grundlegenden Prinzipien, die eben auch ihre Gründe haben, nicht ausreichend beachtet habe. Insgesamt hat sich mein präferiertes Reformkonzept mehrfach stark geändert.

Meine Intuition würde auch erst einmal sagen, dass ein Abschaffen der Bemessungsobergrenze oder eine Erweiterung des Versichertenkreises insgesamt aus sozialen Gründen sinnvoll wäre. Mittlerweile bin ich eher vom Gegenteil überzeugt (Kurzfassung: die zusätzlichen Ansprüche sind eine höhere Belastung, als die zusätzlichen Einnahmen). :smiley:

Es soll um eine nicht so stark vereinfachte Funktionsweise des gesetzlichen Rentensystems gehen.

Wie solll der Term denn „zustande kommen“? Das ist eine gesetzliche Regelung, kein Naturgesetz.

Wikipedia sagt:

Der Nachhaltigkeitsfaktor […] beeinflusst die jährliche Rentenanpassung entsprechend der Veränderung des Verhältnisses der Beitragszahler zu den Rentenbeziehern.

Die Einführung eines solchen Faktors macht in einem Umlage-finanzierten System wie der Rente total Sinn.
Der Faktor berücksichtigt zwei „Rentnerquotienten“, die wiederum genau Beitragszahler und Rentner in Beziehung setzen; das jeweils für das letzte und vorletzte Jahr. → plausibel

Plausibilitätscheck: Wenn das Verhältnis von Einzahlern und Rentnern sich nicht ändert, ist der Faktor 1, ändert also die Rente nicht. → plausibel

Der verlinkte Artikel vom Wirtschaftsdienst erwähnt den Nachhaltigkeitsfaktor nicht, sondern adressiert ein anderes Thema, nämlich die unterschiedliche Lebenserwartung von RenterInnen.
Hat nichts mit dem Nachhaltigkeitsfaktor zu tun. Das lenkt ab.

Bitte bei solch umfangreichen Quellen eine Zusammenfassung geben, sonst ist es extrem aufwändig, dieser Diskussion auch nur zu folgen.

Ein Effekt unseres Rentensystems ist, dass Menschen mit längerem Leben mehr Geld aus dem System kriegen.
Das ist sehr leicht zu verstehen. Das weiß wirklich jeder Rentner und jeder Arbeitnehmer.

Ich frage nach einem Beispiel und du verlinkst unkommentiert deinen eigenen Thread, in dem, wie du selbst sagst, sich das Bild später ändert. Einmal kurz zusammengefasst:
Du hast vorschlagen, die Rente fließend in eine einheitliche Standard-Grundrente für alle zu transformieren.

Es fehlt nach wie vor ein echtes Beispiel für die Komplexität der Rente, die es sich zu diskutieren lohnt.

Mit der Message sprenge ich hier auch jeden Thread, der sowas vorschlägt. Schau z.B. mal hier:

Trotzdem ergibt sich der Faktor ja auf irgendeine Art und Weise. Der Sachverständigenrat schreibt in seinem Jahresgutachten in Ziffer 423:

Würde der Faktor 𝛼 im Nachhaltigkeitsfaktor von 0,25 auf 0,5 erhöht, führte
dies zu einer Gleichverteilung der Lasten zwischen Rentenbeziehenden
und aktiv Versicherten.

Für eine solche Aussage (ich halte sie für stark diskussionswürdig, der Nachhaltigkeitsfaktor wurde mit einer ganz anderen Begründung eingeführt), ist die genaue Formel und nicht nur eine ungefähre Wirkung relevant.

Wenn das Verhältnis jedoch sehr viel kleiner wird, ist der Nachhaltigkeitsfaktor negativ → (theoretischer) Plausibilitätscheck nicht bestanden.

In dem verlinkten Artikel geht es um die erste Frage, sorry da hat ein Satz dazwischen gefehlt, der auf das andere Thema hinweist.

Bei dieser Quelle würde ich sogar sagen, dass der Titel schon ganz gut den Punkt darstellt. Würdest du zusätzlich den Abstract kopieren?

Ich hatte dich so verstanden, dass du nach einem Beispiel für meine Positionsänderung gefragt hast. Hier vollständig zu erläutern, was die ursprüngliche Position genau war und wie sie sich geändert hat, würde den Rahmen vollständig sprengen.

Ok, hier ist meine Beantwortung der ersten Frage. In dem Text beschreibe ich das Grundgerüst des gesetzlichen Rentensystems und gebe eine präzise Definition für das Prinzip, was dahinter steckt, mit deren Hilfe ich dann die Verteilungswirkungen analysiere.

Uh, spannend! :slight_smile: Danke für den Hinweis. Das ist eine interessante Beobachtung.
Die Formel müsste man mit etwas Überlegung plausibel korrigiert kriegen - nur ich krieg’s gerade nicht hin. :grinning:
Ziel sollte ja sein, die Renten gemäß der Änderung der Bevölkerung anzupassen und diesen Effekt mit dem Faktor a abzuschwächen.
Ist das die Herleitung/Begründung, die du ursprünglich gesucht hast?

Nochmal: Es geht um unterschiedliche Lebenserwartung und Rentenbezugszeiten.

Der Titel ist:

Gesetzliche Rente: Bedeutet Teilhabeäquivalenz Verteilungsneutralität? – Ein weiterer Irrtum

Im Abstract steht:

[…] weil sich klar definierbare Bevölkerungsgruppen in ihrer Lebenserwartung unterscheiden.

Also ja, Abstract oder kurze (eigene) Zusammenfassung.

Und wieder: Die verlinkst ein 8-Seiten PDF, durchaus nicht leicht zu lesen. Wie viele Leute, die hier mitlesen, werden sich da durchkämpfen?

Ich konnte dort nicht finden, dass „man kaum eine Chance hat, selbst die grundlegende Funktionsweise des Systems zu durchschauen.“?
Die grundlegende Funktionsweise sind Entgeltpunkte nach Durchschnittsgehalt und Rentenzahlungen nach Entgeltpunkten. Welche wichtige grundlegende Funktionsweise fehlt? Und bitte in ein bis zwei Sätzen hier reingeschrieben, nicht mit dem nächsten Link.

Wo sind die „fundamental anderen Schlüsse“?

Genau, aber nicht nur eine Beschreibung der Form „Wenn 𝛼 größer wird, wirkt der Nachhaltigkeitsfaktor stärker“, sondern genau, wie die Formel sich ergibt. Schließlich gibt es viele Terme, die diese Eigenschaft haben, aber sonst nicht stimmig sind. Das ist auch essentiell, um zu verstehen, ob der Nachhaltigkeitsfaktor Lasten aufteilt oder ob man das eher nicht schlussfolgern kann.

Soll ich mal meine persönliche Herleitung/Begründung erläutern?

Diese Funktionsweise gibt wenig Auskunft darüber, wie viel Rentenleistung man pro Einzahlung bekommt, was meine äquivalente Definition schon erfüllt und was von einer Beschreibung „Doppelte Beiträge führen zu doppelten Renten“ auch versucht wird. In dieser vereinfachten Beschreibung fehlen allerdings signifikante Verteilungswirkungen (z.B. verschiedene Versicherungskonditionen, wie im Text beschrieben).

Vielleicht ist „Funktionsweise ist schwierig“ auch missverständlich. Ich meine, dass es schwierig ist, nachzuvollziehen, wie viel Rentenleistung man pro Beitrag erhält und welche Verteilungswirkungen sich ergeben (ich würde solche Implikationen aber immer zum Verständnis der Funktionsweise dazuzählen).

Hier spielt wieder eine persönliche Meinung rein: Beispielsweise das Verlängern der Haltelinie ist im Endeffekt eine proportionale Bezuschussung von Renten (noch stärker trifft das auf die Forderungen, das Rentenniveau auf 53% anzuheben, zu). Die Begründung, nicht stattdessen zielgerichtet geringe Renten anzuheben, ist wohl die Teilhabeäquivalenz. Ich halte das für diskussionswürdig, weil der häufig angeführte Grund für die Teilhabeäquivalenz („möglichst wenig Umverteilung im System“), überhaupt nicht zutrifft. Insbesondere finde ich, dass es einer guten Begründung bedarf, die Einzahlungsparameter und Versicherungsparamater (beide im Text definiert) nicht konstant auf 1 zu setzen.

Ich bin zwar kein Rentenexperte, aber wenn ich mir die Formel bei Wikipedia so anschaue halte ich das tatsächlich für einen rein theoretischen Fall.

Der NHF wird im Grunde aus der Division des Rentnerquotienten des letzten Jahres durch den des vorletzten Jahres gebildet. Wegen des Dämpfungsfaktors alpha müsste dieser Quotient bei über 5 liegen, damit der NHF negativ werden kann. Mir fallen nur wenige realistische Szenarien ein, die ein solches Auseinanderfallen zwischen Rentenbeziehern und Beitragszahlunern binnen eines(!) Jahres zuließen und die meisten würden bedeuten, dass die Rente eines unserer kleineren Probleme wäre.

In der Region of Interest funktioniert die Definition also und damit ist die Formel auch plausibel. Ansonsten müsste man die newtonsche Mechanik auch als unplausibel ansehen, denn schließlich liefert sie bei Geschwindigkeiten nahe Lichtgeschwindigkeit enorme Fehler. Für 99,999% der Anwendungen ist sie allerdings völlig ausreichend.

Das ist richtig, allerdings hat die zugrundeliegende Approximation, die man verwendet, auch praktische Konsequenzen. Das viel größere Problem ist, dass der Term nicht transparent macht, was dahintersteckt.

Bezeichnen wir die Verhältnisänderung im Nachhaltigkeitsfaktor mal mit x.
Der Nachhaltigkeitsfaktor ist dann f(x)=(1-x)𝛼+1. Der „korrekte“ Nachhaltigkeitsfaktor ist g(x)=(1/x)^𝛼. Der Punkt ist, dass wenn sich das Verhältnis um Faktor x ändert, diese Änderung auf Beiträge und Renten verteilt wird. Die Beiträge werden mit x^(1-𝛼) multipliziziert, die Renten mit (1/x)^𝛼 multipliziert. Insgesamt wird damit Faktor x eingespart (durch mehr Einzahlung bzw. weniger Auszahlung bei x>1).

Beispiel: Wenn x=4, wird bei 𝛼=0,5 der Faktor 4 aufgeteilt, indem die Beitragszahler doppelt so viel einzahlen und die Rentner halb so viel bekommen.

Der Zusammenhang von f und g ist, dass f die Tangente von g an der Stelle x=1 ist, daher approximiert es in der Nähe von „keine Verhältnisänderung“ auch gut. Der Grund für diese Approximation ist vermutlich, dass man keine rationalen Potenzen ins Gesetz schreiben wollte.

Ein praktisches Problem ist, dass g die Eigenschaft g(ab)=g(a)g(b) erfüllt, und f nicht. Im Sachzusammenhang bedeutet das, dass die Gesamtwirkung des Nachhaltigkeitsfaktors g für mehrere Jahre unabhängig davon ist, wie sich die Verhältnisse dazwischen verändert haben. Außerdem sollte man beachten, dass selbst 1ct Änderung im aktuellen Rentenwert fast 100 Millionen Euro Rentenzahlungen pro Jahr bedeuten.

Das größere Problem ist meines Erachtens, dass man fast keine Chance hat, zu verstehen, wie der Nachhaltigkeitsfaktor funktioniert. Die Aussage des Sachverständigenrates, dass 𝛼=0,5 die Lasten gleich verteilen würde, kann nicht damit begründet werden, dass 0,5 der Durchschnitt von 0 und 1 ist. Im „korrekten“ Nachhaltigkeitsfaktor hat 𝛼=0,5 die Bedeutung, dass Beiträge mit dem gleichen Faktor multipliziert werden, wie Renten gekürzt werden.

Es ist aber fraglich, warum das eine gleiche Belastung sein sollte. In absoluten Zahlen ist doppelt so viel einzahlen zu müssen eine stärkere Belastung als halb so viel bekommen. Wenn x gegen unendlich geht, ist die eine Belastung nicht tragbar (unendliche Beiträge), während die andere möglich tragbar ist (keine Rente). Im Gesamtkontext muss man auch noch berücksichtigen, dass es u.a. zusätzlich noch den Beitragssatzfaktor gibt.

Meine persönliche Position ist hier, dass die Komplexität insgesamt so hoch ist, dass sie offenbar auch von Experten nicht vollständig überblickt wird. Und das ist meiner Ansicht nach ein großes Problem.

Für etwas mehr Hintergrund ist hier ein Paper, das sich unter anderem mit dem „korrekten“ Nachhaltigkeitsfaktor beschäftigt.