Wenn ich in verschiedenste Medien reinschaue oder -höre, vernehme ich seit einiger Zeit, aber in den letzten Wochen vor der Bundestagswahl ein ähnliches, fast gleichartiges Credo. Auch im persönlichen Umfeld gehen viele - und ich habe das bestimmt auch schon von mir gegeben - davon aus, dass Merz Kanzler wird.
Warum eigentlich? Nicht, dass ich das selbst in den letzten Wochen auch befürchten würde. Aber warum haben alle so die düstere Vorahnung, die viele fast schon als Tatsache behandeln.
Letztlich ist dies „nur“ eine Stimmung, „nur“ Umfragen, „nur“ unsere Erwartung. Es muss nicht so kommen (mein Zukunfts-ich wird Sonntag mich dafür hassen >.<); WIR haben es in der Hand!
Mehr denn je sind Demos „gegen Rechts“ besser besucht denn je (subjektive Wahrnehmung; ich hab’ keine Zahlen dazu geprüft). Es gibt einen breiten Widerstand gegen die politische Verschiebung „nach rechts“. Und wir alle haben Verwandte, Freunde, Nachbar:innen, … mit denen wir über Sonntag und die Zukunft sprechen können und tun. Ich finde dann sollten wir auch in uns und mit uns „reden“, dass Merz nicht Kanzler werden muss.
Optimismus wird in diesen Zeiten gerne mit „Naivität“ gleichgesetzt. Eigentlich schade, denn positive Veränderungen sind möglich (auch das hat die Geschichte gezeigt).
Wie seht Ihr das? Und wie seht Ihr das mediale Bild? Seht Ihr das wie ich?
Meinst du etwa, dass sämtliche Meinungsforschungsinstitute komplett falschliegen? Die sind sich nämlich alle einig in ihrer Einschätzung, dass die Union einen Vorsprung von 10-15 Prozent vor der zweitstärksten demokratischen Partei und einen Vorsprung von 5-10 Prozent vor der AfD hat. Laut den meisten Instituten gibt es rechnerisch genau eine Möglichkeit für eine Regierungsbildung ohne die Union (also ohne Merz als Kanzler) - und zwar eine Koalition aus AfD, SPD und Grünen - mit der AfD als stärkster Partei, also Weidel als Kanzlerin - aus meiner Sicht kein sehr wahrscheinliches Szenario.
Und wenn du all diese Prognosen und Umfragen anzweifelst: Auf welcher Grundlage?
TL/DR: Nicht jedes Zukunftsszenario, das noch nicht eingetreten ist, ist deswegen nur ein bloßes „Narrativ“, das sich beliebig verändern lässt.
Nein, überhaupt nicht. Ich denke sogar, dass die Meinungsforschungsinstitute besser geworden sind. Aber ist das ein Grund jetzt schon das Handtuch zu werfen?
Um vielleicht eine Analogie zu ziehen: die Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels werden katastrophal. Und einige der Auswirkungen bekommen wir ja auch bereits zu spüren. Aber das heißt ja nicht, dass wir keinen Klimaschutz mehr betreiben sollten. Im Gegenteil.
Ich merke, mir liegt die Prämisse zu Grunde, dass ich es beschissen fände, wenn Merz Kanzler wird. Dementsprechend wichtig finde ich es sich für andere Parteien (oder eher andere Politik) zu engagieren.
Was genau willst du denn machen, um innerhalb von 3 Tagen(!) das Wahlverhalten der Deutschen - das laut dieser Umfragen seit mehreren Monaten nahezu konstant ist - komplett zu verändern? Das ist doch nichts weiter als Wunschdenken.
Die Analogie zur Klimakatastrophe finde ich sehr schief. Denn wer der nächste Bundeskanzler wird, entscheidet sich an genau einem Tag - und das ist der nächste Sonntag. Bei dem anderen Thema können Menschen. Politiker etc. sich seit gut 50 Jahren jeden Tag für einen besseren oder einen schlechteren Weg entscheiden - und dies auch noch ein paar Jahre lang weiter tun.
Ich stimme Dir voll und ganz zu, dass das Wunschdenken ist. Aber es ist doch ein legitimer Wunsch, auch wenn er eine noch so kleine Chance hat. Die „Flinte ins Korn“, kann ich immer noch Sonntag werfen.
Ich verstehe Dein Beispiel, würde Dir aber widersprechen.
„wer Bundeskanzler wird“ wird quasi Sonntag feststehen ja, aber das entscheidet sich nicht an einem Tag. Die Ereignisse vor der Wahl (z.B. die schrecklichen Attentate), das Verhalten der Politiker:/Kandidat:innen, aber auch die Medien, haben großen Einfluss auf die Willensbildung. Und wenn man seit Monaten hört, dass Merz Kanzler wird, dann glaubt man das auch irgendwann, unabhängig, ob das wahrscheinlich ist (ist es) oder nicht. Oder siehst Du das anders? Natürlich kann an einem Tag alleine viel passieren: Laschet hat es auch geschafft sich binnen kürzester Zeit absolut unbeliebt zu machen.
Zur Klimapolitik: Nein, denn je länger wirksame Schritte nicht unternommen werden, desto krassere Schritte müssen gewählt werden (die, sind wir ehrlich, noch unpopulärer sind). Das CO2,eq Budget ist endlich (über die genaue Größe lässt sich sicher streiten; je nach Szenario und Modell, aber dass es endlich ist, ist kein Diskussionspunkt). Es mag polemisch klingen, aber es zählt jeder Tag.
Dass Merz mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Kanzler wird, liegt aber eben nicht daran, dass Menschen es aus irgendwelchen Gründen „glauben“, sondern dass die Partei, deren Spitzenkandidat er ist, am Sonntag höchstwahrscheinlich mit Abstand zur stärksten Kraft im Bundestag gewählt werden wird.
Dass sich daran viel ändert, was ich im November schon unwahrscheinlich (siehe den verlinkten Thread) und innerhalb der nächsten 3 Tage halte ich es für nahezu ausgeschlossen. Und eine Diskussion über völlig hypothetische Szenarien oder reines Wunschdenken halte ich persönlich für ziemlich müßig.
Ich sehe nur ein politisches Szenario, in dem Merz nicht Kanzler wird: Die Koalitionsverhandlungen mit SPD und Grünen scheitern. Es kommt zur Kanzlerwahl. Im ersten Wahlgang schlägt Steinmeier Merz gar nicht erst vor, um nicht als Hindenburg II in die Geschichte einzugehen. Da es im ersten Wahlgang nur einen Vorschlag gibt, wird Merz nur dann nominiert werden, wenn er eine Mehrheit ohne AfD sicher hat. Im zweiten Wahlgang bekommen weder Scholz noch Weidel eine Mehrheit. Die Union stellt keinen Kandidaten auf, um nicht mit Stimmen der AfD gewählt zu werden. Im dritten Wahlgang gewinnt Scholz mit Stimmen von rot-grün-rot gegen Weidel bei Enthaltung der Union. Steinmeier ernennt Scholz trotz fehlender Mehrheit oder es kommt sofort zu Neuwahlen. Wie dieses Szenario ablaufen würde, hängt sehr von den Umfragen ab: Wer Aufwind hat, wird eher Neuwahlen anstreben. Als geschäftsführender Kanzler könnte Scholz z.B. außenpolitische Erfolge erzielen oder auch während des Interregnums die AfD weiter gestärkt werden.
Das mögen alles Hirngespinste sein, doch die Wahrscheinlichkeit ist nicht null. Wir sind wohl oder übel dem Verhandlungsgeschick von Merz ausgeliefert. Kann er Win-Win-Situationen schaffen oder nur Erpressung?
Dass in der bisher so auf Stabilität bedachten Bundesrepublik ausgerechnet angesichts der momentanen innen- und außenpolitischen Situation eine Kanzlerwahl stattfindet, ohne dass sich vorher eine entsprechende Koalition gebildet hat, die dabei mit einer Mehrheit rechnen kann, ist schon arg unwahrscheinlich. Darüber zu diskutieren, bevor es überhaupt Anzeichen dafür gibt, dass das Szenario eintreffen könnte, halte ich ebenfalls für müßig.
Wenn Dir das zu müßig ist, dann musst Du ja nicht diskutieren. Falls ich Dich daran erinnern darf: ich fragte in die Menge wie Menschen das sehen. Es geht um Meinungen. Über die kann man diskutieren, muss man aber nicht.
Ich widerspreche dir nicht. Ich wollte nur illustrieren, dass sehr viel zusammen kommen muss, damit Merz nicht Kanzler wird. Ein Rücktritt aus gesundheitlichen Gründen dürfte wahrscheinlicher sein.
Mein Motiv solche Gedanken zu posten: Wir sollten uns ab und an bewusst machen, dass die politische Stabilität der letzten Jahrzehnte nicht selbstverständlich ist.
Zu dem Sachpunkt: Es gibt zwar keine Frist für den ersten Wahlgang, aber der Bundespräsident kann nicht einfach nichts tun, wenn erkennbar keine Verhandlungen mehr stattfinden.
Der Punkt, der mir wichtig ist: Wer Merz wählt, muss mehr oder weniger evidenzfrei vertrauen, dass er verhandeln kann.
Ich für meinen Teil habe keine Hoffnung, dass es nicht Merz wird (oute mich somit als kein Fan von Merz). Tatsächlich möchte ich mich auch nicht wirklich auf dieses Gedankenspiel einlassen, weil ich befürchte, dass dann die Enttäuschung noch größer wird, wenn er, wie zu erwarten, gewählt wird.
Ja, es geht hier um Meinungen, aber eben nicht nur. Wie bei vielen Diskussionen über Sachthemen geht es eben auch um Tatsachen, die man entweder anerkennen, ignorieren oder verzerrt darstellen kann. Wenn es nur darum ginge, über etwas völlig Hypothetisches zu sprechen, hätte ich mich vermutlich auch gar nicht an der Diskussion beteiligt. Was mich gestört hat, war die Darstellung, bei der höchstwahrscheinlichen Kanzlerschaft von Merz handle es sich lediglich um ein „Narrativ“, dass „Medien streuen“ und Menschen daher „glauben“ - ohne eben auf die Tatsache einzugehen, dass diese Kanzlerschaft von einer Wahl abhängt, die wiederum einen erwartbares Ergebnis haben wird.
Absolut. Aber die Erosion politischer Stabilität wird sich eben wahrscheinlich nicht so äußern, dass überhaupt keine Koalition zustande kommt, sondern sich eher an anderen Punkten zeigen, etwa an der Unsicherheit, ob eine Zweierkoalition (Union + X) eine Mehrheit im Bundestag haben wird.
Eine Zweier-Koalition wird auf jeden Fall eine Mehrheit haben. Die hat Merz aber ausgeschlossen.
Hier würde ich eher von einem Narrativ der Medien sprechen, die mantraartig mitteilen, dass sie Merz glauben, dass er sich nicht von der AFD zum Kanzler wählen lassen wird. Das ist Wunschdenken. Ich halte es für wahrscheinlich. Aber nicht in jeder Konstellation für gegeben.
Merz hat mit 5-Punkte-Plan und Zustromgesetz bewiesen, dass er an Kompromissen nicht interessiert ist. Ich glaube sogar, dass er seinen Weg für den einzig richtigen hält und die Pläne von Grünen und SPD für falsch und schädlich. Mit denen Kompromisse einzugehen würde also in seiner Welt einen Schaden für Deutschland bedeuten. Steinmeier wird wieder alles tun, damit eine demokratische Koalition zustande kommt. Aber das ist nicht gottgegeben.
Weil dann der soziale Friede in Deutschland auf lange Sicht nicht mehr gegeben ist. Beide, insbesondere die AFD, existieren durch Abgrenzung und Ausgrenzung von Personengruppen. Erst Ausländer, dann Bürgergeldempfänger, dann Arme. Und für mehr Arme sorgen sie durch ihre Politik selbst.