Warum eigentlich keine NATO-Bodentruppen in der Ukraine?

Ich schreibe das hier zumindest teilweise als Denkübung. Aber auch, weil ich das Tabu nicht vollständig nachvollziehen kann.

Zu Anfang: es gibt ein wirklich gutes Argument gegen den Einsatz deutscher, polnischer, französischer usw. Bodentruppen: wir wollen nicht, dass „unsere“ Soldaten sterben müssen. Krieg ist grausam und zerstört auch das Leben vieler Überlebender. Das alleine ist schon ein guter Grund, niemanden in den Krieg zu schicken.

Und natürlich würde aktuell so ein Vorstoß keine politische Mehrheit finden. Aber politische Mehrheiten sind ja gestaltungsfähig, wenn man weiß wo man hinwill.

Aber alle anderen Gründe ziehen für mich nicht so richtig:

  • Nukleare Eskalation: Die Entscheidungskette, die von einem Fronteinsatz eines deutschen Bundeswehrbattalions bei Bakhmut zu einem Nuklearangriff auf Berlin führt, wird immer als gegeben dargestellt, aber nie tatsächlich erklärt. Die Ostukraine und Krim sind völkerrechtlich anerkannte Teile der Ukraine. Die Hemmungen, die Russland beim Einsatz von Nuklearwaffen aktuell verspürt, ändern sich nicht durch den Einsatz westlicher Soldaten auf ukrainischem Boden.
  • Kriegspartei werden: Selbst wenn Putin entscheidet (und ja, nur Putin entscheidet, internationales Recht spielt da keine relevante Rolle) ob „wir“ Kriegspartei sind, welche Konsequenzen hätte das? Putin lässt heute schon politische Gegner in Deutschland ermorden und nutzt geheimdienstliche Mittel wo immer er kann, um uns zu schwächen. Theoretisch könnte Putin natürlich konventionelle Mittelstreckenraketen und Drohnen gegen Länder wie Deutschland einsetzen und würde das vielleicht sogar tun, wenn er sieht wie das Bundeswehr-KSK die ukrainische Flagge über der Krim hisst. Aber wenn beispielsweise deutsche Truppen „nur“ ukrainische Luftabwehrgeschütze bedienen, kann ich mir eine derartige Eskalation schon nicht mehr vorstellen.

Ich denke am Ende wird diese Entscheidung davon abhängen, wie sich der Konflikt in der Ukraine entwickelt und als wie essentiell westliche Staaten einen Sieg der Ukraine ansehen. Natürlich würde eine direkte Kriegsbeteiligung erhebliche zusätzliche Kosten an Leben und Geld verursachen. Darum ist es meiner Meinung nach absolut legitim, sich gegen diese Option zu entscheiden und ich würde es in der aktuellen Situation auch tun (auch wenn ich die Ukraine gleichzeitig mit erheblich mehr Material unterstützen würde).

Aber so absurd, wie eine Entsendung westlicher Soldaten in die Ukraine immer dargestellt wird, empfinde ich das nicht. Wenn wir wirklich glauben, dass die Ukraine Europa verteidigt, dann sollten wir nicht einfach ausschließen, das auch selbst zu tun.

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Das wäre letztlich die Frage, was das grundsätzliche Ziel Deutschlands im Ukraine-Konflikt ist. Auch das Ziel Europas bzw. der NATO, falls es da überhaupt ein einheitliches Ziel gibt, ist ja nicht klar.

Erst dann stellt sich ja die Frage, ob Bodentruppen Deutschlands und/oder der NATO auf ukrainischem Boden aktiv werden sollen.

Das hängt wohl auch stark davon ab, wie wichtig des westlichen Staaten die Souveränität und das existenzielle überleben der Ukraine ist.

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Die Thematik wurde u.a. in folgendem Thread diskutiert:

Mein Punkt ist, dass für diese Frage nicht (nur) die Reaktion Russlands relevant ist, sondern beispielsweise die Reaktion Chinas. Falls China sich dazu genötigt fühlt, sich offen auf die Seite Russlands zu stellen, Russland mit Waffen zu beliefern und die westlichen Sanktionen zu ignorieren, dann wird aus dem Abnutzungskrieg zwischen Russland und der Ukraine ein Stellvertreterkrieg zwischen China (oder der SCO?) und der NATO.

Wenn man die Eskalationsgefahr von NATO Bodentruppen in der Ukraine bewerten möchte muss man sich vor allem die „Begleiterscheinungen“ eines solchen Einsatzes vor Augen halten. Die kann man erahnen, wenn man sich anschaut, wie in anderen Konflikten mit westlichen Truppen eine Bodenoffensive vorbereitet wurde.
Ein entscheidender Punkt, wenn Deutschland oder andere europäische Verbündete Bodentruppen im großen Stil in der Ukraine gegen Russland einsetzen würden, ist, dass diese alles aber auch wirklich alles tun müssten, um das Leben dieser Soldaten zu schützen, damit die Bevölkerung das mitträgt.
Konkret heißt das: alles was das Leben deutscher Soldaten an der Ukrainischen Front ernsthaft gefährdet muss unschädlich gemacht werden. Also insbesondere russische Artillerie, Munitions-, Nachschub- und Treibstofflager, Militärproduktion, Raketenstellungen, etc. natürlich auch auf russischem Boden. Das geht eigentlich nur in groß angelegten Luftschlägen. Sollten die erfolgreich sein, wäre Russland danach militärisch nachhaltig so geschwächt, dass es einen solchen Angriff kaum nicht als existenzielle Bedrohung ansehen könnte. Darauf basierend kann man sich jetzt überlegen wie Russland darauf reagieren würde.

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Keine Frage, Bodentruppen haben eine andere Qualität und wäre eine andere Eskalationsstufe.

In Bezug auf eine zu erwartende Reaktion Russlands (und Chinas):

Diese Frage hat sich im Grunde doch schon beim Einmarsch Russlands in die Ukraine gestellt.
Unterstützen wir die Ukraine mit Waffen, fasst Russland dies sofort als Kriegserklärung der NATO auf und eskaliert? Stellt sich China auf die Seite Russland und eskaliert auch?

Diese Fragen wird man sich doch damals auch gestellt haben, oder?

Was andererseits die Frage aufwirft: sollten wir uns einfach aus allem raushalten, ggf komplett neutral bleiben? Brächte uns das mehr Sicherheit?

Das zeigt auch das Problem bzgl. einer solchen Äußerung von Macron. Natürlich hat das als strategische Ambiguität eine Wirkung. Es hat aber in einer Demokratie noch eine weitere Wirkung, die dadurch entsteht, dass intelligente Bürger und Medien die Folgen einer solchen Aussage diskutieren. Schließlich muss die Aussage auch glaubhaft sein, wenn sie beim Gegner Wirkung zeigen soll. Und diese Wirkung bleibt dann zwangsläufig auch beim eigenen Volk nicht aus. Insofern ist das Dementi von Scholz - so sehr es auch die strategische Ambiguität zerstören mag - aus meiner Sicht zumindest nachvollziehbar.

Ich glaube, dass man auf Angriffe auf russisches Staatsgebiet verzichten könnte, wenn man wollte. Im Zweifel lässt man die Ukrainer die letzten 50km ihres Territoriums selbst Freiräumen, wenn man der Grenze nicht zu nahe kommen will. Und der Abschuss von Flugzeugen über russischem Territorium (der zweifellos nötig wäre) ist keine mit Bodenangriffen vergleichbare Eskalation.

Nein, wenn man alles militärische Gerät und Personal, das Russland aktuell in der Ukraine unterhält auslöschen würde, wäre Russland immer noch nicht katastrophal strategisch geschwächt. Ein Angriff auf russisches Territorium wäre weder im Interesse irgendwelcher Nachbarstaaten, noch würde jemand das dann tatsächlich bestehende Risiko einer nuklearen Eskalation eingehen.

Doch - das habe ich ja versucht oben zu erklären. Kein westliches Land würde das Risiko eingehen seine eigenen Soldaten an russische Raketen-, Luft- und Drohnenangriffe zu verlieren oder höhere Verluste eingehen, weil wichtige Nachschubwege und Produktionskapazitäten weiter effektiv funktionieren. Das ist nicht nur 50 km vor der Grenze ein Problem. Das wiederum kann man nur wirklich effektiv durch Angriffe auf russisches Territorium verhindern.

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Ja, die Fragen wurden gestellt und auch beantwortet mit einem sehr klaren „no boots on the ground, ever“. Und auch für den dringenden Wunsch der Ukraine nach Durchsetzung einer Flugverbotszone gab es eine klare Absage. Ob es tatsächlich die Sorge um eine Ausweitung des Krieges war oder einfach nur die Tatsache, dass man für die Ukraine nicht bereit ist, Geld, Ausrüstung, Munition und Manpower - inklusive der zu erwartenden Verluste - zu opfern. Das Wort „Eskalation“ finde ich in diesem Zusammenhang ziemlich unbrauchbar, weil es es ein Gummibegriff ist, der alles und nichts bedeuten kann.

Hier auch Taurus Lieferung - #32 von Flixbus
Es gibt grad eh gefühlt 3 oder 4 Threads zu Taurus/Ukraine/Strategie, die sich inhaltlich mehr oder weniger überschneiden.

Ja, stimmt, mir viel nur nichts besseres ein. „Ausweitung des Krieges“ fand ich zu verharmlosend.

Ja, in drei ursprünglich thematisch leicht anders gelegenen Threads kommen wir im Grunde immer zur gleichen Frage: was wollen wir/Scholz erreichen und was sind wir bereit dazu zu tun?

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Theoretisch könnte man das sicher: also NATO Truppen könnten es mit ziemlicher Sicherheit erreichen, dass Ukrainische Gebiet vollständig zurück zu erobern ohne dabei russisches Territorium (im großen Stil) anzugreifen. Die entscheidende Frage ist ja aber: zu welchem Preis? Und da bin ich tatsächlich voll bei @MarkusS. Diesen Preis würde kein westlicher Verbündeter zahlen, wenn er vermeidbar wäre. Welchen entscheidenden Vorteil ein Angriff auf russische Ziele in dem Konflikt hätte, zeigt ja nicht zuletzt, dass die Ukraine dies immer wieder selbst tut - und das obwohl ihre Unterstützer das häufig nicht gerne sehen und für die eigenen gelieferten Waffen sogar in den allermeisten Fällen verbieten. Zuletzt sollte man sich auch fragen wie es denn die russische Seite mit einem Angriff auf strategisch wichtige Ziele auf NATO Gebiet halten würde, sollte die NATO in den Krieg eintreten.
Daher: finde es fair dieses Gedankenexperiment durchzuführen aber für mich wäre es an dieser Stelle zuende.

Die Argumentationslinie finde ich etwas konfus. Wenn ich dein Argument richtig verstehe, geht es etwa so:

  1. NATO-Staaten würden (wegen Druck aus der Bevölkerung) tun, was möglich ist, um ihre Bodentruppen zu schützen.
  2. Besserer Schutz ist möglich, wenn Ziele in Russland masiv angegriffen werden.
    => NATO-Staaten würden Ziele in Russland angreifen, was zu Atomwaffeneinsatz führt.

Aber das ergibt wenig Sinn. Natürlich haben die NATO-Staaten ein noch größeres Interesse, die eigene Zivilbevölkerung zu schützen. Deshalb würden sie diese Gefahr erkennen und eben keine Ziele in Russland angreifen. Ich kann mir auch nicht vorstellen (wie ja implizit in deinem Argument mitschwingt), dass eine Strategie, die Russland bombardiert, mehr Unterstützung in der Bevölkerung hätte, als eine, die ausschließlich auf ukrainisches Staatsgebiet beschränkt bleibt.

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Hier möchte ich anmerken, dass ich diese Schlussfolgerung nicht gezogen habe, was den scheinbaren Widerspruch aus meiner Sicht erklärt.
Insofern diskutieren wir auch hier einen Strohmann:

Die Kette ist stattdessen schlicht folgende:
Um die Soldaten ausreichend zu schützen müsste man Ziele in Russland im großen Stil angreifen. Genau das ist aber mit so einem großen Eskalationsrisiko verbunden, dass es praktisch ausgeschlossen ist. Und aus genau diesem Grund wird es keine Bodentruppen der NATO geben.
Die Idee, dass man stattdessen auf den Schutz der Soldaten verzichtet halte ich für unrealistisch, eben weil kaum ein Staat es gegenüber Bevölkerung und Streitkräften durchsetzen könnte, seine Soldaten für eine Unterstützungsleistung einem solchen Risiko auszusetzen. Das Ganze ist ggf. eine andere Diskussion bei einer existentiellen Bedrohung für Deutschland.

Ich muss auch sagen, dass ich zu Beginn des Krieges relativ klar vertreten habe, dass die NATO öffentlich verlautbaren sollte, dass die Ukraine (natürlich nach Absprache mit dieser!) unter ihrem Schutz steht und mit einem langsamen, den Russen klar kommunizierten Plan in das gesamte Gebiet der Ukraine hätte einrücken sollen. So langsam, dass die Russen alle Zeit der Welt haben, sich zurückzuziehen - und mit der klaren Ansage, dass ein einziger Schuss auf einen NATO-Soldaten als Kriegserklärung gewertet wird.

In dieser Situation hätte Russland sicherlich vor Wut geschäumt, aber was hätte Putin machen sollen? Er will einen Atomkrieg genau so wenig wie der Westen und er weiß, dass er es mit der NATO konventionell nicht aufnehmen kann, vor allem nach dem missglückten Sturm auf Kiew. Hier wäre etwas mehr Mut zur Konfrontation seitens der NATO durchaus angemessen gewesen, indem man klar kommuniziert hätte, dass es sich aus Sicht der NATO um einen illegalen Angriffskrieg handelt und man sich das Recht herausnimmt, diesen Krieg zu stoppen (bei gleichzeitiger Versicherung, dass man die Grenzen Russlands von vor 2022 akzeptieren wird; die Krim und den Donbass zurückholen, daran darf sich die NATO natürlich nicht beteiligen; auch hätte von der Ukraine gefordert werden müssen, Angriffe auf Krim und Donbass zu unterlassen, so lange die NATO im Land ist; wenn sie sich darauf eingelassen hätte - gut, wenn nicht - dann muss sie mit den Konsequenzen leben.).

Das würde letztlich ein Aufgeben der Krim und des Donbass auf absehbare Zeit bedeuten, aber diesen Zustand zu ändern sehe ich aktuell einfach nicht.

Das ist das typische „Der Klügere gibt nach“-Dilemma. Dadurch, dass die NATO so umsichtig und Russland so aggressiv ist, wird Russland seinen Willen immer gegen die NATO durchsetzen. Wenn der Klügere immer nachgibt (aus guten Gründen wie der Vermeidung von Eskalationen) gewinnt eben der Dümmere, das gilt auch hier.

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Genau zu diesem Zweck wollten u. a. die USA ja 2008, nachdem Russland in Georgien einmarschiert ist, die Ukraine in die NATO aufnehmen. Das hat u. a. Deutschland verhindert.

Die Befürchtung damals war, dass Russland die Ukraine schneller in einen Krieg verwickeln, als die NATO die Aufnahme duchziehen kann. Was sich im Nachhinein ja auch als berechtigt erwiesen hat.

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Wenn ich mich recht erinnere, war die Befürchtung der Deutschen, dass Russland die Ukraine angreift, wenn sie in die NATO kommt, während die USA glaubten, dass Russland sich nicht traut, die Ukraine anzugreifen, wenn sie in der NATO ist. Nun ist mit Finnland ein Nachbarland von Russland in die NATO eingetreten und Russland macht praktisch gar nichts, während die Ukraine, die nicht in der NATO ist, zu knapp 20% von russischen Truppen besetzt ist. Kann natürlich purer Zufall sein…

Ich denke, bei der Ukraine kommt noch Putins Geschichtsverklitterung dazu. Er sieht das Staatsgebiet der Ukraine ja historisch als russisches Gebiet.
Das wäre bei Finnland argumentativ schwierig.

Zudem ist Putin ja davon ausgegangen, die Ukraine in drei Tagen zu überrennen, die aus seiner Sicht „schwache“ ukrainische Regierung bricht sofort zusammen. Was ja nicht so wahr.
Diese Annahme hätte er wohl auch bei Finnland nie gehabt, schon historisch nicht.

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Finnland war zu dem Zeitpunkt bereits Mitglied der EU, in der im Kriegsfall stärkere Beistandspflichten bestehen, als in der NATO. Außerdem ist mir nicht bekannt, dass Russland sich an irgendwelchen Entwicklungen in Finnland großartig gestört hat. Die russische Politik hat aber immer wieder deutlich gemacht, dass sie eine zu starke Annäherung ehemaliger Sowjetrepubliken an den Westen nicht tatenlos dulden würde - unter Anderem durch den Einmarsch in Georgien. 2008 war bereits ziemlich klar, dass Russland die Ukraine spätestens in dem Moment angreifen würde, an dem es Wind von einem unmittelbar bevorstehenden NATO-Beitritt bekäme - um diesen zu verhindern.

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