Wahlrechtsreformvorschlag der Ampel steht

Das ist genau die entscheidende Frage. So gut wie alle Kommentare, die ich zur Wahlrechtsreform gelesen habe, gehen davon aus, dass die Abschaffung der Grundmandatsklausel nicht unbedingt nötig gewesen ist, um das Gesetz verfassungsgemäß zu machen.

Siehe zum Beispiel hier:
Die Beibehaltung sei für die Glaubwürdigkeit des Entwurfs „unabdingbar“.
Jelena von Achenbach, Florian Meinel und Christoph Möllers - Drei Juristen, die die Ampel beim Wahlrecht beraten haben. Quelle hier :arrow_right:

es spräche für „den fairen Kollegialitätssinn des Ampelentwurfs, die Grundmandatsklausel in modifizierter Form beizubehalten“. Ohne sie funktioniere das System aber auch, meint er jetzt. Letztlich gehe es aber um eine politische Entscheidung, die „dann auch politisch verantwortet werden muss“.
Der SPD geladene Sachverständige Friedrich Pukelsheim. Quelle hier :arrow_right: taz-Artikel, wie oben

Der Erfolg in einer bestimmten Anzahl von Wahlkreisen spricht, vor allem wenn er sich regional konzentriert, jedenfalls für eine hinreichende Verankerung der betreffenden Partei in der Fläche, wie sie dem Sinn der Beibehaltung der Wahl in den Wahlkreisen insgesamt entspricht.
Uwe Volkmann. Quelle hier :arrow_right: Verfassungsblog

Und dann noch einen Tweet von @vieuxrenard dazu:
"Was immer ihr in diesen Tagen über die #Wahlrechtsreform lest: Es ist verfassungsrechtlich nicht geboten, die Klausel zu streichen, nach der drei Direktmandate genügen, um die 5%-Hürde zu umgehen.

Welche Gründe die Ampel auch haben mag - sie sind politischer Natur. "
Quelle hier :arrow_right: https://twitter.com/vieuxrenard/status/1635696369095651348?s=46&t=3_uaXIV91_LB6oL3f6HWFw

Sollte das also tatsächlich der Fall sein und die Streichung „einfach nur“ politisch motiviert, dann ist das ganze mehr als verwerflich.

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Es ist doch einfach cheesy, wenn die Ampel ein Gesetz macht, dass eindeutig darauf abzielt, politischen Konkurrenten zu schaden. Ich bin beileibe kein Fan der CSU, aber diese Tatsache mit einem völlig an den Haaren herbeigezogenen hypothetischen Fall zu kontern, zeigt aus meiner Sicht nur, wie absurd das ist. Die CSU ist zwar auch eine Regionalpartei, aber eben nicht nur. Das mag man blöd finden, aber Wahlgesetze sollten sich nicht nach parteipolitischen Präferenzen ausrichten.

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Ergänzend zum Thema Grundmandatsklausel, aus dem in Gänze lesenswerten SPIEGEL-Interview mit dem Sachverständigen Prof. Möllers:

„Ja, die Grundmandatsklausel passt nicht völlig in das zu Ende gedachte neue System der Verhältniswahl. Ihr Beispiel zeigt, dass auch die Beibehaltung der Grundmandatsklausel Probleme bereitet hätte, und zwar sowohl solche der politischen Plausibilität als auch verfassungsrechtliche, weil sie im neuen System schwerer zu rechtfertigen ist. Das war das Dilemma der Ampel. Ich würde aber fragen, wie systematisch muss das System aus verfassungsrechtlichen Gründen angelegt sein? Und wie sehr darf verfassungsrechtlich auf eine Besonderheit des politischen Prozesses, nämlich die regionale Verankerung, Rücksicht genommen werden? Deswegen bleibt es eine politische Frage, die Klausel beizubehalten oder nicht, keine des Verfassungsrechts.“

Außerdem gibt es auf dem Verfassungsblog auch noch eine alternative Perspektive auf die Abschaffung (hier die letzten paar Sätze):

„Diese Klausel mag sich ungeachtet ihrer verfassungsrechtlichen Fragwürdigkeit in der Geschichte der Bundesrepublik gelegentlich politische Verdienste erworben haben: um stabile Bundestagsmehrheiten in den 1950er Jahren oder die politische Integration von Teilen Ostdeutschlands in den 1990er Jahren. Aber derartige historische Verdienste liegen ohnehin allein im Auge des Betrachters. Ehemalige Volksparteien mit unsicheren Zukunftsaussichten in Bayern oder Ostdeutschland wird dieses dubiose Überbleibsel der Adenauerzeit nun jedenfalls nicht mehr vor einem etwaigen sinkenden Wählerzuspruch retten können. Das Ende der Grundmandatsklausel war überfällig. Sie möge in Frieden ruhen.“

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Eine neue Partei müsste also zunächst mal in mindestens sechs Bundesländern deutlich etabliert sein bevor sie auf Bundesebene antreten könnte? Was ist in diesem Zusammenhang „signifikant“? Reicht z.B. ein einmaliger Erfolg (einstellig? zweistellig?) bei jeweils einer Landtagswahl, oder müsste die Partei zusätzlich auch erst überall einen Wiedereinzug bei der nächsten Wahl schaffen?

Hierzu vielleicht noch eine Anmerkung: ich spreche nicht von „automatisch“, sondern von „i.d.R.“ und auch nicht von einer schmalen Mehrheit wie beim Brexit (52 zu 48%), sondern von einer weit überwiegenden Mehrheit von >95%.

(Und Trump hatte übrigens keine Mehrheit der abgegebenen Stimmen.)

Auch die Regel seh ich einfach nicht. Nicht umsonst schrieb ich ja auch „nicht erst seit Trump & Co.“ Nur ein Beispiel: 1972 veröffentlichte der Club of Rome die „Grenzen des Wachstums“. Seitdem hat die weit überwiegende Mehrheit der Wählenden in den meisten demokratischen Staaten sich für Regierungen entschieden, für die der Erhalt des Planeten höchstens ein nachgeordnetes Ziel ist. „Vernünftig“ finde ich das nicht. Und wenn Du von über 95% sprichst, wird das hierzulande nicht mal mit der FDP was :wink:

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Sie ist nicht unbedingt nötig, aber sie ist logisch, sie schneidet einen alten Zopf ab, der andernfalls hängen bleibt und Probleme macht.

Wenn eine politische Entscheidung logisch, gerecht und nützlich ist, dann tut ihr keinen Abbruch, wenn es gleichzeitig und zufällig(?) den Regierungsparteien eher nützt.

Die CSU-Verkehrsminister haben allesamt sehr viel Geld für Verkehrsprojekte nach Bayern abgezogen, anstatt es nach Bedarf gerecht im ganzen Land einzusetzen. Warum das nicht bei jeder passenden Gelegenheit der CSU vorgehalten wird (Medien und Politiker der anderen Parteien) wundert mich immer wieder neu.

Eine Regionalpartei bzw. eine reine Themenpartei muss sich von vornherein die Mutmassung gefallen lassen, dass sie eben nicht allen Menschen und allen Problemen möglichst gleich ihre Aufmerksamkeit zukommen lässt. Würden sich die übrigen Parteien in Landesparteien aufspalten, gäbe das eine unausdenkliche Schlacht um Geld und Vorteile und das Wohl aller wäre zweitrangig.

@politischFrank , danke für die Links. Schliesse mich der Meinung von Prof. Schönberger an. Der fragwürdige Ursprung der Grundmandatsklausel war mir neu und erhellend. So eine unsaubere Konstruktion und Absicht liegt drängt sich einem auf, auch wenn man die Geschichte noch nicht kennt.

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