Wahlrechtsreform der Ampel-Parteien verfassungskonform?

Nö, darauf wollte ich mich auch gar nicht beziehen.

Ja. Und dieser Teil - es werden Stimmen abgegeben, aber es kann sein dass alle leer ausgehen - ist meines Erachtens schwer erklärbar, weil er dem „normalen“ Gerechtigkeitsempfinden zuwiderläuft.

(Grundsätzlich passiert das im Ergebnis jetzt zwar auch schon gelegentlich, aber nur als absolute Ausnahme wenn ein Abgeordnety mit Überhangmandat nachträglich ausscheidet, und das hatte dann vorher wenigstens gewonnen.)

Diese Sichtweise ist verlockend, kann aber natürlich kein Bewertungskriterium sein.

Ich würde gern thematisch mal etwas weiter kommen. Konkret geht es mir darum, wie der jetzt wieder bestehende Änderungsbedarf im Bundestagswahlrecht angegangen werden wird.
Das BVerfG hat die Grundmandatsklausel als Ausnahme von der 5%-Sperrklausel für die nächste BT-Wahl wieder für gültig erklärt: D.h. bei mind. drei Wahlkreissiegen zieht eine Partei mit allen nach dem bundesweit auf sie entfallenden Zweitstimmenanteil errungenen Mandaten in den BT ein.

Jedoch kommt der Gesetzgeber nicht umhin, selbst nochmal tätig zu werden. Daher meine Fragen: Wann sollte er das tun und wie soll er das Problem lösen?

Eine Wahlrechtsänderung vor der nächsten BT-Wahl ist weder wahrscheinlich noch der Problematik angemessen. Denn nicht umsonst ist es internationaler Standard, ein Jahr vor der Wahl keine Änderung mehr im Wahlrecht vorzunehmen. Ohnehin wird es schon eine Herausforderung, das neue (eigentlich einfachere) Wahlrecht dem Gewohnheitstier „Wähler:in“ schnell genug zu erklären. Denkbar wäre allenfalls, dass die jetzt vom BVerfG gewählte Übergangslösung vom Gesetzgeber genau so affirmiert wird und damit auf Dauer stellt. Ansonsten könnte die Ampelkoalition ein Wahlrecht schaffen, das erst ab der übernächsten BT-Wahl gilt, um die Frage abzuräumen.

Bleibt im Übrigen eine Wahlrechtsanpassung nach der nächsten Bundestagswahl: Mit Blick auf die möglichen Mehrheitsverhältnisse und die zunehmend antagonistisch auftretende Union graust es mir ehrlich gesagt davor, dass diese mit dem Feigenblatt der verfassungsrechtlich gebotenen Anpassung bei der Sperrklausel wieder in größerem Umfang am Wahlrecht herumdoktort (im schlimmsten Fall auch noch mit durchschaubaren eigennützigen Motiven) und in diesem Endlos-Schauspiel weiteren Schaden für die Reputation der staatlichen Institutionen anrichtet.

Mein Favorit wäre daher die minimalinvasive Lösung, die Grundmandatsklausel einfach jetzt dauerhaft wieder einzuführen. Und dabei möglichst wenig Lärm zu machen (und bloß nicht zu versuchen, noch weitere „Verbesserungen“ zu erreichen, die das Wahlrecht weiter umwerfen und ziemlich sicher vor dem BVerfG landen), damit es für opportunistische Akteur:innen keinen Ansatzpunkt gibt, große Skandale herbeizureden.

Was meint ihr?

Ich glaube, die bisherigen Antworten treffen die Gesamtlage ganz gut. Zur Wahlrechtsreform will ich sagen, dass die so abrupte Streichung der Grundmandatsklausel mE politisch schon damals ein schwerer Fehler war und verfassungsrechtliche Probleme absehbar waren. Schade, da die Wahlrechtsreform im Übrigen gelungen war und das Potenzial hatte, Vertrauen wiederherzustellen, das durch jahrelanges Scheinlösungen insbesondere der Union mE verloren gegangen ist.

Dem „normalen“ Gerechtigkeitsempfinden läuft wohl auch zuwider, wenn ein Abgeordneter nur mit einem Drittel der Stimmen gewählt wird, obwohl er nur von einer Minderheit gewählt wurde, eine Mehrheit in seinem Wahlkreis repräsentieren soll.

Dem „normalen“ Gerechtigkeitsempfinden läuft wohl auch zuwider, dass die eigene vom örtlichen Mainstream abweichende Wahlstimme quasi automatisch nullifiziert wird, wenn man in einem Wahlkreis wohnt, in dem Partei X auch einen Besenstiel aufstellen könnte und der würde dann trotzdem mit absoluter Mehrheit gewählt.

Usw. usf.

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@tacuissem

Müssen muss der Bundestag nichts. Die Streichung der Grundmandatsklausel war unzulässig, also bleibt sie automatisch in Kraft.

Wollte man den Vorgaben des BVerfG anderweitig genügen, müsste man an die vom Gericht wiederholt als verfassungswidrig eingestufte Fünf-Prozent-Hürde ran.

Alle anderen Wahlrechtsänderungen sind höchstrichterlich für verfassungsgemäß erklärt worden und bleiben somit in Kraft.

Schade finde ich vielmehr, dass die Reduzierung der Schwankungsbreite bei der Wahlberechtigtenanzahl je Wahlkreis gegenüber dem Durchschnitt von bisher plus/minus 25 % auf danach nur noch plus/minus 15 % erst nach der nächsten Bundestagswahl, nämlich im Jahr 2026, in Kraft tritt.

Nee, das kann man leicht erklären: Es gibt ein Wettrennen, und die Person die ihre Nase vorn hat gewinnt. Schwieriger ist es, zu sagen: Es gibt ein Wettrennen, aber hinterher haben vielleicht alle verloren.

Nee, denn dafür gibt es ja die Zweitstimme. Für den Besenstiel siehe oben; der liegt im Rennen halt vorne.

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Mit so nem whataboutism tust du deiner Argumentation keinen Gefallen, weil du mir hier ne Position zu unterstellen versuchst, die ich nicht habe. Zudem ist die Replik hier doppelt falsch, weil ich auch nirgends von irgendeiner Legalisierung gesprochen habe. Die Beobachtung, dass es eine politische Praxis gibt, die nicht den Normen entspricht, ist keine Forderung nach deren Legalisierung.
Auch inhaltlich tust du dir mit dem Argument keinen Gefallen: Ja es gibt in der Praxis politische Korruption. Aber die Analogie zu meinem Argument ist hier nicht, dass man diese legalisieren solle, sondern dass ein Verweis auf die Normen (es soll keine Korruption geben) nicht hinreichend ist, um Bedenken über real existierende Korruption zu zerstreuen. Die von mir angedachten potentiellen Nachteile von Wahlkreisen ohne Abgeordneten in der politischen Praxis, lassen sich nicht dadurch zerstreuen, dass man darauf verweist, dass es die nicht gäbe, wenn sich alle Abgeordneten immer an alle Normen hielten (tun sie nämlich nicht).

Hier verschiebst du auch wieder irreführend Argumentationsebenen: Ich habe behauptet, dass benachbarte Wahlkreisabgeordnete meine Anliegen potentiell weniger aufgreifen könnten, als „mein“ Wahlkreisabgeordneter. Damit ist überhaupt nicht gesagt, dass andere MdB sich automatisch nicht für mein Anliegen interessieren können, wenn es durch „meinen“ MdB (und damit auch in diversesten Institutionen) vorgebracht wird. Ich rede davon, dass es potentiell schwieriger werden kann spezielle Wahlkreisanliegen in den politischen Diskurs zu hieven. Du redest davon, dass keine Fortschritte im politischen Diskurs zu erzielen sind, wenn keiner auf den anderen eingeht - aber das ist ja ganz etwas anderes. Denn innerhalb des politischen Diskurses herrschen ganz andere Rahmenbedingungen (durch Erwartungen anderer Akteure, permanentes Medieninteresse usw.) als bei der Implementierung eines Themas. Also deine Extrapolierung geht mMn am Problem vorbei und ist daher aus meiner Sicht kein valides Gegenargument.

Ja, für meine Bedenken und Meinung zur Wahlrechtsreform ist mein Empfinden selbstverständlich ein Maßstab. Für mich stelt sich die wegfallende Wahlkreisrepräsentanz als potentielles Problem dar, aber das mögen andere Menschen ganz anders sehen. YMMV.

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Nehmen wir mal als Beispiel das Erststimmenergebnis des Wahlkreises München-Ost bei der letzten Bundestagswahl:

Für diesen zog der CSU-Kandidat mit 25,7 % in den Bundestag ein. Er repräsentiert somit kaum mehr als ein Viertel der Wählenden.

Rechnet man jetzt alle für Kandidaten von im Bundestag sitzenden Parteien abgegebene Erststimmen zusammen, dann ergibt sich folgendes Bild:

CSU + FDP + AfD: 44,1 %
Grüne + SPD + Linke: 47,1 %

Auch wenn man die Klein- und Kleinstparteien hinzunimmt, ergibt sich eine linke Mehrheit im Wahlkreis. Und dieser Wahlkreis wird jetzt von einem Rechten im Bundestag vertreten.

Das findest du also gerecht, ja?

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Das hängt wirklich davon ab, wie man zum Thema „Mehrheitswahlrecht“ allgemein steht. Ich lehnte Mehrheitswahlrecht generell ab und halte es für undemokratisch, ein „First past the post“-System wie in UK ist daher grundsätzlich abzulehnen. Klar ist so ein System dem Wähler leicht zu erklären, aber darum sollte es nicht gehen.

Die Erklärung, warum jetzt u.U. niemand ein Mandat gewinnt, ist ganz einfach:
Die Erststimme dient einzig der Personalisierung der Wahl, die Wahl selbst ist eine reine Verhältniswahl und keine Mehrheitswahl. Und wenn die Verhältnisse es nicht zulassen, tritt die Personalisierung zurück. Das ist völlig okay. Vor allem vor dem von @Schnackerio genannten Fakt, dass die meisten Wähler die Erststimme gar nicht ernsthaft zur Personalisierung nutzen. Ich hätte nichts dagegen, sie völlig abzuschaffen oder zumindest umzubenennen, wie es ja auch mal in der Diskussion war (Zweitstimme = HAUPTstimme, Erststimme = Nebenstimme oder ähnliches, was klar macht, dass sie nicht das „Wichtige“ ist). Das ist mMn das Hauptproblem an der Sache: Viele uninformierte Wähler glauben immer noch, dass die Erststimme die wichtige sei, weil das natürlich auch intuitiv die sinnvolle Interpretation ist. Das hätte mit der Reform geändert werden sollen.

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Das ist ein schönes Beispiel dafür, warum es, wenn es schon ein relevantes Mehrheitswahlsystem geben soll, absolut wichtig ist, dass es Stichwahlen gibt, wenn kein Kandidat die absolute Mehrheit hat.

Und das ist genau der Punkt: Das ist bisher in Deutschland nicht nötig gewesen, weil der Wahlausgang eigentlich nur von der Zweitstimme abhängen soll. Würden wir der Erststimme ein höheres Gewicht beimessen (was ich völlig falsch und anachronistisch finde) müssten wir in jedem Fall auch Stichwahlen einführen, sodass wir eine Zwei-Phasen-Wahl wie in Frankreich hätten.

Ich sehe bei den von dir genannten Beispielen eigentlich immer nur die negativen Aspekte der Wahlkreisrepräsentanz. In Extremform landen wir bei so einem Mist wie in den USA, wo ein Joe Manchin die gesamte Biden-Regierung lahm gelegt hat, weil so ein regionaler Interessenvertreter plötzlich die enge Mehrheit einer Regierung für seine Partikularinteressen opfert, damit er wiedergewählt wird - ist das wirklich wünschenswert. Probleme wie die Endlager-Problematik in der Asse werden nicht von einem Wahlkreis-Abgeordneten ernsthaft gelöst oder auch nur eine Lösung näher gebracht. Der Einfluss eines einzelnen Abgeordneten ist entweder gleich Null (wenn die Regierung eine starke Mehrheit hat oder die Regierungsparteien diszipliniert sind) oder übermäßig stark (wenn die Regierung eine knappe Mehrheit hat und Abgeordnete in Manchin-Manier lieber die ganze Regierung handlungsunfähig machen, um sich die Wiederwahl zu sichern. Beides ist kein wünschenswertes Szenario.

Vom Prinzip her hat @Schnackerio Recht, dass jeder Abgeordnete der Vertreter des ganzen Volkes sein soll, es ist vom System her nicht so gedacht, dass über die Erststimmen „Kämpfer für den eigenen Wahlkreis“ gewählt werden. Die Erststimme soll einzig die Personalisierung der Wahl ermöglichen, sie soll einem Wahlkreis keinen „Vorteil“ im politischen Wettbewerb bringen.

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Also willst du einen der grundlegenden Normverstöße, nämlich, dass bestimmte Wahlkreisabgeordnete sich nicht vorrangig fürs Gemeinwohl, sondern stattdessen für Spezialinteressen ihrer örtlichen Wählerklientel einsetzen, normalisieren. „Die tun es ja sowieso, also ist es dann eben zu akzeptieren.“ Und nicht nur das. Du gehst ja noch viel weiter, wenn du auch noch ganz explizit darauf bestehst, „deinen“ Abgeordneten für deine politischen Anliegen instrumentalisieren zu wollen (s. o.). Es ist also nicht nur so, sondern es soll deiner Meinung nach ganz offensichtlich auch so sein. Das ist ja schon Vorsatz.

Und so kommt noch „Erpressung“ bzw. „Nötigung“ hinzu.

Wenn dem so ist, kannst du dich auch an andere Abgeordnete wenden, selbst wenn’s - wie du schreibst - „schwieriger“ sein sollte. Problem gelöst.

Da du ja zur Kontroverse eingeladen hast („Ihr könnt das selbstverständlich alle auch gerne anders sehen“), spiegele ich dir jetzt mal deine Haltung, so wie sie bei mir ankommt.

Der Soziologe Steffen Mau nennt sowas, wenn ich mich recht entsinne, „Einforderungsdemokratie“, nach dem Motto: „Wenn du dich nicht für mein Anliegen vor Ort einsetzt, bestrafe ich dich mit Liebes-, hier Stimmenenzug!“

Nach meinem Empfinden ist das eine ganz problematische Vorstellung von Demokratie.

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Damit keine Missverständnisse aufkommen: Du meinst das sicherlich nicht strafrechtlich (daher die Anführungsstriche?), denn das wäre so nicht korrekt, siehe Diskussionen zur Zweck-Mittel-Relation und dem grundsätzlichen Erfordernis eines verwerflichen Zwecks. Einen Politiker nicht zu wählen, weil er subjektiv empfunden eine Politik betreibt, die einem nicht gefällt, ist natürlich keinesfalls verwerflich.

Grundsätzlich bitte ich alle Beteiligten darum, sprachlich etwas abzurüsten. Es ist okay, unterschiedliche Meinungen dazu zu haben, welchen Einfluss das Mehrheitswahlrecht haben sollte und ob eine direkte Wahlkreisvertretung demokratietheoretisch sinnvoll ist oder nicht.

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Keine Ahnung, warum es nötig ist, mir jedes Wort im Mund umzudrehen. Ich will nichts normalisieren, ich erkenne nur an, dass es eine politische Praxis gibt, die den Normen nicht entspricht. Und wenn man das anerkennt, dann folgt daraus zwangsläufig, dass Wahlkreise ohne Abgeordneten einen potentiellen Nachteil haben. Das ist also so. Ob das so sein soll, hab ich nicht gesagt - ich weise die ganze Zeit nur darauf hin, dass es künftig Unterschiede geben kann, je nachdem ob man in nem Wahlkreis mit Abgeordneten wohnt oder nicht. Was das Anerkennen von politischen Realitäten mit Vorsatz zu tun hat ist mir nicht begreiflich.

Meine politische Erwartungshaltung kund zu tun und anschließend vom Wahlrecht Gebrauch zu machen soll Erpressung sein? Weil ich nem Abgeordneten was vorenthalte, was ihm nicht gehört (meine Stimme)? Check your language.

Also erkennst du selbst an, dass der Weg über einen anderen Abgeordneten potentiell schwieriger ist. Nichts anderes habe ich behauptet. Für dich mag das Problem damit gelöst sein, ich weise wie gesagt darauf hin, dass das - wie von dir eingeräumt - zu Unterschieden führt.

Steht Steffen Mau ja frei CDU von der Wiege bis zur Bahre zu wählen und sein Wahlverhaltungen in Anbetracht der Leistungen der Abgeordneten nicht zu ändern. Man kann ja auch einfach nur noch AfD wählen, wenn man von der Politik nichts erwartet. Oder man kann die Politik(er*innen) daran messen, was sie leisten. Vorher kund zu tun, was man von ihnen erwartet, ist für deren Erfolg ein hilfreicher Akt der Kommunikation. Muss ich ganz ehrlich sagen ist in meinen Augen ein total abwegiges Argument. Soll ich etwa Politiker weiter wählen, die sich nicht für die Anliegen von mir und meinen Nachbarn interessieren?

Das sei dir unbenommen und stört mich überhaupt nicht, weil du mit deiner (bis hierhin so ausgedrückten) rein normbasierten Wahrnehmung von Demokratie die Problematik ohnehin ganz anders einordnest. So apparently your mileage varies.

Im Gegenteil, ich nehme das als sehr positiv wahr, dass es im Kompetenzdickicht einen Ansprechpartner vor Ort gibt, der nicht wie die anderen Akteure die Verantwortung weiter schiebt, weil er weiß, dass er das Thema nicht los wird. Das ganze jetzt schon wieder auf amerikanische Verhältnisse zu übertragen, die in ganz vielen Aspekten überhaupt nicht vergleichbar ist, hilft doch nicht weiter, weil es in Deutschland ganz so doch auch nicht kommen wird - da ist das System an zu vielen Stellen zu unterschiedlich.
Ich fordere ja auch nicht, dass das System dahingehend umgebaut wird - sondern beschreibe, wie es derzeit (trotz aller Normen für Abgeordnete) läuft. Ob das so gewünscht ist, ob das so sinnvoll ist, steht auf einem anderen Blatt. Wer sich schon mal mit seinem Bundestagsabgeordneten unterhalten hat, der weiß auch, dass sie darum bemüht sind „Sachen für ihren Wahlkreis an Land zu ziehen“, um ihre Wiederwahl zu sichern. Und deshalb wird es selbstverständlich einen ganz erheblichen Einfluss haben, ob man im Wahlkreis noch einen eigenen Abgeordneten hat oder nicht.

Also ich bin überrrascht von der (im wertungsfreien, erkenntnistheoretischen Sinn) hier herrschenden Naivität, dass ja alle Politiker das Beste für jeden Deutschen wollen würden, weil es irgendwo geschrieben steht.

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Die verwendeten Begriffe sollten nur etwas überspitzt die Haltung illustrieren, die darin zum Ausdruck kommt, nämlich jene, die ich weiter unten mit dem Begriff „Einforderungsdemokratie“ umschrieben habe.

Und da sehe ich schon einen gravierenden Unterschied zwischen dem, was du schreibst („[e]inen Politiker nicht zu wählen, weil er subjektiv empfunden eine Politik betreibt, die einem nicht gefällt“), und einer Instrumentalisierung für persönliche Zwecke. Letztere wäre auf der Stufe 2 von Kohlbergs Moralentwicklung anzusiedeln, die Gemeinwohlorientierung hingegen ab Stufe 5 ff.:

Persönlich halte ich es für ein Zeichen von Reife, sich eher so auf den Stufen der sog. postkonventionellen Moral zu bewegen.

Und das leitet auch schon über zu den Problemen des Mehrheitswahlrechts, auf die du hinwiesest.

Deine Ausführungen ergänzend würde ich von den drei Basisdimensionen von Politik eine dem Verhältniswahlrecht und eine dem Mehrheitswahlrecht zuordnen. In der Wikipedia heißt es:

Im Gegensatz zur institutionellen (Polity) und inhaltlichen (Policy) Dimension wird […] mit Politics die Dimension politischer Verfahren bezeichnet, beispielsweise Wahlverfahren, Abstimmungen, aber auch Lobbyismus und Öffentlichkeitsarbeit.

Das Verhältniswahlrecht würde ich klar als policyzentriert beschreiben. Man wählt primär Parteien, weil man deren Programmatik und Lösungsansätze überzeugend findet. Bei Erreichen bestimmter Quoren kann man sicher sein, dass diese Inhalte auch parlamentarisch repräsentiert werden.

Das Mehrheitswahlrecht hingegen ist eher politicsorientiert. Man wählt jemanden, von dem man hofft, dass er sich bei Aushandlungsprozessen durchsetzt und weil dieser Jemand eine öffentlich gute Figur macht. Joe Manchin, den du erwähntest, ist da ein gutes Beispiel.

Des Weiteren würde ich darauf abstellen, dass die Personalisierung, auf die ein Mehrheitswahlrecht immer auf die eine oder andere Weise hinausläuft, gerade von Konservativen präferiert wird, weil die’s oft nicht so mit Inhalten haben. Dahinter steckt auch ein Stück weit eine paternalistische Vorstellung - eine Führungsfigur, die die Dinge regelt.

Es gibt natürlich noch weitere Probleme des Mehrheitswahlrechts, von denen du schon einige genannt hast.

Unterstreichen würde ich die von dir angeführte Wählendenfrustration all derjenigen, die mangels eigener Mehrheit nicht mehr aufgrund der eigenen Wahlhandlung repräsentiert werden.

Ergänzen würde ich noch, dass Mehrheitswahlsysteme in der Tendenz dazu neigen, entweder nur noch mittige Politikansätze abzubilden oder aber der Polarisierung Vorschub zu leisten. Sowohl der Blick in die USA als auch der Blick nach Großbritannien oder Frankreich, in letztgenanntem Land gibt es ja noch immerhin Stichwahlen, bestätigen das meines Erachtens.

Die Vorteile des Verhältniswahlrechts liegen also auf der Hand: eine stärkere inhaltliche Ausrichtung der Wahlentscheidung, weniger falsche Kompromisse im Sinne des kleineren Übels, eine viel breitere Repräsentanz unterschiedlicher policies, eher weniger Polarisierung.

Ferner zeigt das bundesdeutsche System auch noch die Qualität einer mithin lagerübergreifenden Zusammenarbeit.

Und schließlich bleibt noch zu erwähnen, dass die stärkere Policy-Orientierung auch dazu führt, dass Demagogen in der Politik zumindest tendenziell schlechtere Chancen haben, weil das ja stets politikferne Charisma im Sinne Max Webers eine etwas geringere Rolle spielt. So kommen eben auch Politiknerds mit Ahnung ins Parlament und nicht nur Aufschneider, die sich gut verkaufen können.

Kurzum: Nach meinem Dafürhalten ist also das nun durch die Wahlrechtsreform gestärkte und durchs BVerfG als verfassungskonform eingestufte Verhältniswahlrecht jedwedem Mehrheitswahlrecht eindeutig in vielen Belangen überlegen.

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Ich würde in der ganzen Diskussion hier nochmal darauf hinweisen, wie eng und zugleich schräg die Argumentation des BVerfG in der ganzen Sache m.E. ist. Soweit ich das verstanden habe, wird die Grundmandatsklausel nur aufrechterhalten, weil die 5%-Hürde ohne Grundmandatsklausel dazu führen könnte, dass die CSU nicht in den Bundestag kommt, und sie durch ihre seit lange bestehende Kooperation mit der CDU eigentlich dazu berechtigt sein sollte (weil die haben zusammen dann halt mehr als 5%). Die Organklage der Linken wurde aber vom BVerfG laut der Pressemitteilung abgewiesen, da sie keinen solchen Kooperationspartner hat. Und man kann sich natürlich schon fragen, ob Bestandsschutz für das sonderbare Zwitterwesen CDU/CSU eigentlich irgendwo in der Verfassung angelegt ist.

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Ja, nachdem ich jetzt auch mal die konkrete Argumentation gehört hatte, war ich auch erschüttert, dass es doch auf eine „Lex CSU“ hinauslieft. Daher: Das Gericht hat leider in der Tat gesagt:

  1. Die 5%-Hürde ist grundsätzlich zulässig, um die Arbeitsfähigkeit des Parlaments zu erhalten
  2. Wenn wie bei der CSU aber die Arbeitsfähigkeit nicht gefährdet ist, weil sie stets mit der CDU kooperiert, ist 1) nicht anwendbar

Das halte ich auch für extrem problematisch. Nicht zuletzt der Konflikt Seehofer-Merkel, wo offen mit Regierungsbruch gedroht wurde, zeigt, dass die Aufteilung in CDU und CSU eben durchaus ein Problem für die Arbeitsfähigkeit des Parlaments sein kann. Dazu kommt weiterhin, dass unsere gesamte Demokratie absolut dysfunktional wäre, wenn auch die SPD und die anderen Parteien so ein CDU/CSU-Kooperationsmodell betreiben würden. Dieses Modell hat einfach keinen Schutz verdient. Dieses Modell führt dazu, dass Bayern auf Bundesebene stets bevorteilt wird, weil es mit der CSU eine so starke Vertretung hat, die den Großteil der Zeit der Bundesrepublik Deutschlands auch noch in Regierungsverantwortung war.

Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich das CDU/CSU-Modell in seiner Gänze ablehne (was eng verbunden mit meiner Sicht auf Wahlkreisvertretungen ist…) und ich bin in der Tat erschüttert, dass das BVerfG dieses Modell nun als so schutzwürdig ansieht, dass es sogar Wahlrechtsreformen, die für dieses Modell gefährlich sein könnten, einstampft…

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Das ist ein Argument für die Einführung einer integrierten Stichwahl (Ranked Choice Voting), was ich sofort unterstützen würde, nicht für den Verfall des Direktmandates.

Ansonsten: Ja, ein 25%-Direktmandat ist immer noch besser als gar keins. (Und wenn du das nach „Lagern“ gegenüberstellst wäre der Gegensatz Regierung/Opposition meines Erachtens sinnvoller, aber keine Ahnung ob das hier konkret zahlenmäßig einen Unterschied macht.)

Okay, damit kann man arbeiten. Es geht immer noch am Kern des Mehrheitswahlrechts (regionale Repräsentanz) vorbei, aber ist schonmal ein Anfang.

Doch:

Denn es ergäbe ja keinen Sinn, von dieser Praxis Gebrauch zu machen, wenn du sie ablehnst. Das wäre ein Widerspruch in sich.

Offen gestanden nehme ich nur ernst, was du hier zum Besten gibst.

Die aber marginal sind. Aber auch hier stellt sich wieder das Problem, dass es nur für diejenigen einen Unterschied macht, der diese an sich problematische Handlungsweise auch umsetzt.

Variante 1: Jemand ist sich des Normverstoßes (du schriebst höchstselbst von „eine[r] politische[n] Praxis […], die nicht den Normen entspricht“) bewusst und versucht daher gar nicht erst, „seinen“ Abgeordneten unter „Androhung“ des Stimmenentzugs zur Durchsetzung bestimmter lokaler Interessen zu bringen. Das wäre die ethisch saubere Variante. Wenn alle so handeln („Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Sowie: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“), gibt es keinen Unterschied zwischen Menschen, die einen Wahlkreisvertreter im Parlament haben und solchen, die das nicht haben.

Variante 2: Wenn der Normverstoß (s. o.) tatsächlich praktiziert wird, entsteht ein wenn auch nur marginaler Unterschied.

Warum wählst du keine Politikerinnen und Politiker, die sich für gemeinwohlorientierte Ziele stark machen?

„Ich und meine Nachbarn“ ist eine Art von Privilegierung des sozialen Nahraums.

Es hat nur dann einen Einfluss, wenn man willens ist, sich diesen Normverstoß (s. o.) zunutze zu machen.

Die Erststimmen für Regirungsparteienvertreterinnen und -vertreter auf 48 %, der der Opposition läge dann bei 43,2 %. Der Abstand wäre dann also noch größer.

Ranked Choice wäre natürlich eine Möglichkeit.

Gleichwohl gibt es aus meiner Sicht keine Begründung dafür, überhaupt ein Element personalisierter Mehrheitswahl für die Wahl des Bundestages zu haben. Da bin ich vollkommen auf der Linie von @Daniel_K .

Und wie die Diskussion hier ja hinlänglich gezeigt hat, lädt das nur zu Missbrauch im Sinne des Durchsetzens lokaler Partialinteressen, die in der Bundespolitik nun mal nichts zu suchen haben, ein.

Schon die Verwendung des Possesivpronomens in Wendungen wie „mein Abgeordneter“ signalisiert einen Besitzanspruch, der dem demokratischen Diskurs ganz und gar abträglich ist.

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Die Fortgeltung der 5%-Klausel mit der Maßgabe, dass sie durch die Grundmandatsklausel (eigentlich jetzt ja Wahlkreissiegerklausel, da keine Direktmandate mehr ;)) modifiziert gilt, ist formell nicht zeitlich begrenzt, stimmt. Pardon. Aus dem Blickwinkel demokratischer Legitimation und Gewaltenteilung, darum ging es mir, ist es aber wünschenswert, dass der „Normalzustand“ des vom Gesetzgeber beschlossenen Wahlrechts wiederhergestellt wird. Von mir aus effektiv eine Bagatelle, wenn der Gesetzgeber eben mit den Anordnungen des BVerfG einverstanden ist und deshalb untätig bleibt. Ideell aber nicht gänzlich unwichtig.

Rechtstechnisch ist es komplizierter, weil die 5%-Klausel in der jetzigen Ausgestaltung verfassungswidrig ist und damit auch die Grundmandatsklausel ihren Bezugspunkt verlöre. Das BVerfG hat nicht nur selbst Recht gesetzt (Ergänzung der gesetzgeberischen Lösung um die Grundmandatsklausel) und so den Verfassungsverstoß beseitigt, sondern die gesetzgeberische Lösung erst für verfassungswidrig (woraus, korrekt, die Nichtigkeit folgt) erklärt, dann die Fortgeltung angeordnet und dann diese mit der Maßgabe verbunden, dass die Grundmandatsklausel gilt. Denn es wären viele weitere Ausgestaltungen möglich, um wieder einen verfassungsgemäßen Zustand herzustellen (Rn. 287-291 des Urteils).

So, und jetzt höre ich auf mit dem Erbsenzählen und Haarespalten. :smiley: