Die verwendeten Begriffe sollten nur etwas überspitzt die Haltung illustrieren, die darin zum Ausdruck kommt, nämlich jene, die ich weiter unten mit dem Begriff „Einforderungsdemokratie“ umschrieben habe.
Und da sehe ich schon einen gravierenden Unterschied zwischen dem, was du schreibst („[e]inen Politiker nicht zu wählen, weil er subjektiv empfunden eine Politik betreibt, die einem nicht gefällt“), und einer Instrumentalisierung für persönliche Zwecke. Letztere wäre auf der Stufe 2 von Kohlbergs Moralentwicklung anzusiedeln, die Gemeinwohlorientierung hingegen ab Stufe 5 ff.:
Persönlich halte ich es für ein Zeichen von Reife, sich eher so auf den Stufen der sog. postkonventionellen Moral zu bewegen.
Und das leitet auch schon über zu den Problemen des Mehrheitswahlrechts, auf die du hinwiesest.
Deine Ausführungen ergänzend würde ich von den drei Basisdimensionen von Politik eine dem Verhältniswahlrecht und eine dem Mehrheitswahlrecht zuordnen. In der Wikipedia heißt es:
Im Gegensatz zur institutionellen (Polity) und inhaltlichen (Policy) Dimension wird […] mit Politics die Dimension politischer Verfahren bezeichnet, beispielsweise Wahlverfahren, Abstimmungen, aber auch Lobbyismus und Öffentlichkeitsarbeit.
Das Verhältniswahlrecht würde ich klar als policyzentriert beschreiben. Man wählt primär Parteien, weil man deren Programmatik und Lösungsansätze überzeugend findet. Bei Erreichen bestimmter Quoren kann man sicher sein, dass diese Inhalte auch parlamentarisch repräsentiert werden.
Das Mehrheitswahlrecht hingegen ist eher politicsorientiert. Man wählt jemanden, von dem man hofft, dass er sich bei Aushandlungsprozessen durchsetzt und weil dieser Jemand eine öffentlich gute Figur macht. Joe Manchin, den du erwähntest, ist da ein gutes Beispiel.
Des Weiteren würde ich darauf abstellen, dass die Personalisierung, auf die ein Mehrheitswahlrecht immer auf die eine oder andere Weise hinausläuft, gerade von Konservativen präferiert wird, weil die’s oft nicht so mit Inhalten haben. Dahinter steckt auch ein Stück weit eine paternalistische Vorstellung - eine Führungsfigur, die die Dinge regelt.
Es gibt natürlich noch weitere Probleme des Mehrheitswahlrechts, von denen du schon einige genannt hast.
Unterstreichen würde ich die von dir angeführte Wählendenfrustration all derjenigen, die mangels eigener Mehrheit nicht mehr aufgrund der eigenen Wahlhandlung repräsentiert werden.
Ergänzen würde ich noch, dass Mehrheitswahlsysteme in der Tendenz dazu neigen, entweder nur noch mittige Politikansätze abzubilden oder aber der Polarisierung Vorschub zu leisten. Sowohl der Blick in die USA als auch der Blick nach Großbritannien oder Frankreich, in letztgenanntem Land gibt es ja noch immerhin Stichwahlen, bestätigen das meines Erachtens.
Die Vorteile des Verhältniswahlrechts liegen also auf der Hand: eine stärkere inhaltliche Ausrichtung der Wahlentscheidung, weniger falsche Kompromisse im Sinne des kleineren Übels, eine viel breitere Repräsentanz unterschiedlicher policies, eher weniger Polarisierung.
Ferner zeigt das bundesdeutsche System auch noch die Qualität einer mithin lagerübergreifenden Zusammenarbeit.
Und schließlich bleibt noch zu erwähnen, dass die stärkere Policy-Orientierung auch dazu führt, dass Demagogen in der Politik zumindest tendenziell schlechtere Chancen haben, weil das ja stets politikferne Charisma im Sinne Max Webers eine etwas geringere Rolle spielt. So kommen eben auch Politiknerds mit Ahnung ins Parlament und nicht nur Aufschneider, die sich gut verkaufen können.
Kurzum: Nach meinem Dafürhalten ist also das nun durch die Wahlrechtsreform gestärkte und durchs BVerfG als verfassungskonform eingestufte Verhältniswahlrecht jedwedem Mehrheitswahlrecht eindeutig in vielen Belangen überlegen.