Wahlrechtsreform der Ampel-Parteien verfassungskonform?

Interessant, danke für dieses Detail. Grundsätzlich sinnvolle Änderung. Ich vermute, damit wollte man sich vor dem Vorwurf des Gerrymandering schützen?
Wenn man die dadurch notwendigen Zuschnitte in dieser Legislatur selbst vornimmt, steht man in diesem Verdacht. Tut man das mit Blick auf die übernächste Wahl, ist das nicht so sehr der Fall, da schwerer vorhersehbar, welche Wahlkreise wie wählen und wie sich die Bevölkerungszahlen verändern. Allerdings gibt man damit natürlich der nächsten Regierung (meine Befürchtungen dahingehend s.o.) diese Macht. Grundsätzlich wäre es ja möglich, die neuen Zuschnitte teilweise jetzt schon zu vollziehen, denn auch jetzt „soll“ die Abweichung nicht über 15% vom Durchschnitt betragen. Dann könnte die Folgeregierung noch diejenigen Wahlkreise neu zuschneiden, bei denen diese Schwelle (oder die 10%-Schwelle) später überschritten wird und man hätte die Macht über die Wahlkreiszuschnitte schön verteilt.
Oder ist es einfach zu aufwändig, um es so schnell hinzubekommen?

Anders: Nur weil ich eine Praxis gebrauche heißt es nicht, dass ich der Meinung bin, sie solle zur Regel oder legalisiert werden o.ä. Politische Hinterbühnen sind eine Realität, die es zu navigieren gilt.

Das ist mir zu moraltheoretisch. Normenverstöße sind weder selten noch sind sie zwingend verwerflich. Die (politische) Praxis überformt die Normen ja stets da, wo letztere das Funktionieren eines (politischen) Prozesses nicht sicherstellen.
Außerdem stimmt es nicht, dass nur diejenigen Schaden nehmen, die sich nicht an die Normen halten: Du kannst die STVO einhalten und trotzdem von jemanden angefahren werden, der das Tempolimit nicht einhält. Normen böten nur einen Schutz, wenn sich wirklich immer alle dran hielten: Aber in der Menschheitsgeschichte gab und gibt es keine Norm, gegen die noch nicht verstoßen wurde oder immer noch verstoßen wird. (Achim Landwehr) Dass sich unsere politische Praxis erfolgreich an Kant orientiert, wäre mir daher auch völlig neu.

Das kannst du (und auch ich) gar nicht wissen, weil wir nicht abschätzen können, wie sich die Änderung des Wahlrechts auswirkt. Ich habe nur prognostiziert, dass hier ein potentieller Unterschied zu Tage treten wird. Wie gravierend der sein wird, ist rein spekulativ. Aber er ist nicht zwingend nur marginal.

Ich sehe es eher umgekehrt: Privilegiert ist, wer sich beim Wählen aufs luftige Gemeinwohl beschränken kann - denn der kämpft vermutlich nicht mit Krebs in ner Krisenregion. Ich geb aber gerne Bescheid, wenn hier mal ein gemeinwohlorientierter Politiker vorbeischaut und fragt, wie er bei der Katastrophe helfen kann - bis jetzt haben alle einen großen Bogen um dieses politische Verliererthema gemacht. „One issue voting“ ist jetzt aber auch nicht gerade was Neues und zudem vollkommen zulässig.

Nein, es hat auch dann einen Einfluss, wenn sich alle anderen des Normenverstoßes bzw. besser: der politischen Praxis bedienen und man selbst nicht. Das mag nicht deiner Moralvorstellung entsprechen, aber Wahlversprechen („Ich sorge für wirtschaftliche Aufschwung in der Region“) und Wahlkampfgeschenke ("irgendwelche Steuerbegünstigungen für Hoteliers) sind nunmal Teil der politischen Praxis.

Also um das mal abzubinden (da ich bereits zur Mäßigung der Diskussion aufgefordert wurde): mMn ist der Wegfall einer zwingenden Wahlkreisrepräsentanz durchaus kritisch, weil damit potentiell der interessierte Ansprechpartner vor Ort wegfällt. Wie sich das auswirkt, werden wir wohl in Zukunft beobachten können, aber es würde mich nicht wundern, wenn diese Veränderung nicht von einigen davon betroffenen Menschen als Demokratiedefizit aufgefasst wird. (Ich hatte den Asseschacht hier nur mal vorgestellt, weil er für mich der Inbegriff eines wichtigen Themas ist, was wirklich kein Politiker aktiv anfassen will und ich mir nicht vorstellen kann, dass sich einer zum Champion des Problems macht, der es nicht unbedingt muss. Aber ich wollte damit die Diskussion über die Wahlkreisrepräsentanz nicht überlagern).

Verschafft denn - nun wo die Überhangmandate abgeschafft sind - diese Aufteilung der Union weiter nennenswerte Vorteile, die nicht legitim sein könnten?

Was aber abgewendet wurde - wohingegen sich die aus einer Partei bestehende Fraktion der Linken in dieser Wahlperiode zerlegt hat. Der von Dir genannte Konflikt beruhte außerdem nicht auf Eigenheiten der CSU als bayrische Regionalpartei, sondern auf einem inhaltlichen Dissens, wie er auch in jeder anderen Fraktion vorkommen kann. Ich finde, das BVerfG hat insofern einen Punkt, als es darauf pocht, das Wahlrecht auf Basis der realen empirischen Gegebenheiten zu bewerten. Ist ja nicht so, dass „Hinz und Kunz“ die vom BVerfG aufgestellten Voraussetzungen für diese Konstruktion erfüllen können, da muss schon eine reale Praxis als Grundlage vorhanden sein, die gewährleistet, dass der Zweck der 5%-Hürde eben nicht gefährdet wird.
Der CDU-CSU-Kooperation liegt ein verbreitetes Gefühl bayrischer Eigenart oder Eigenständigkeit zugrunde, das in der Wählendenpräferenz starkes Gewicht zu haben scheint. Ich muss das nicht gut finden - auch bayrischer Tribalismus ist Tribalismus - kann es aber tolerieren. Andere Konstruktionen nach diesem Vorbild wären bei entsprechend ausgeprägtem regionalem „Selbstbewusstsein“ ebenfalls möglich.

Warum?

Edit: Typo-Korrektur.

Vorweg: Peace!

Da klingt für mich durch: „Die andern machen’s aber auch. Da muss ich mitmachen, sonst werde ich ja benachteiligt!“ Das würde ich jetzt mal auf Kohlbergs Stufe 2 einordnen.

Dass sich niemand an der Asse die Finger verbrennen will, kann schon sein. Allerdings habe ich nicht den Eindruck, dass es da kein Problembewusstsein gibt. Und untätig war die Politik auch nicht. Immerhin gibt’s schon einen Zeitplan.

Wir können wohl beide damit leben, dass wir bei der Frage zwingender Wahlkreisrepräsentanz auseinanderliegen.

Daher bleibe ich dabei, nur weil andere Quatsch machen, in diesem Fall den Kontakt zu einem Wahlkreisabgeordneten für persönliche Zwecke zu missbrauchen, muss ich es nicht auch tun.

Einen entspannten Abend noch!

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Das bleibt zu hoffen.

Davon gehe ich mal aus.

Das neue Wahlrecht hat jedenfalls den Vorteil, dass sich solche Wahlkreiszuschnitte weniger auswirken. Das ist doch auch schon was.

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Nach Durchsicht der ausführlichen PM drängt sich dieser Eindruck in der Tat geradezu auf.

Da bin ich mit meinem juristischen Laienverstand wirklich am Ende.

Umso erstaunter bin ich, mit welcher Inbrunst Kommentierende der „bürgerlichen“, aber teilweise auch der eher als linksliberal geltenden Presse im Nachgang des Urteils regelrecht auf die Wahlrechtsreform „eingeprügelt“ haben. Der Begriff „Ohrfeige“ für die Ampel ist mir als eine von vielen Schmähungen noch erinnerlich. Das erinnert mich dann schon an die rhetorischen Exzesse im Rahmen des Leaks vom unfertigen Referentenentwurf des GEG oder die verbale „Steinigung“ der Ampel im Anschluss ans Schuldenbremsenurteil.

Lobend hervorheben muss man an der Stelle mal die Öffentlich-Rechtlichen, die doch tatsächlich auch sachlich korrekt berichteten, dass der Kern der Wahlrechtsreform Bestand gehabt habe. In Teilen der Print-/Online-Medien hatte das BVerfG-Urteil eher die Anmutung vom nächsten koalitionären Super-GAU.

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Dann ist doch gut, wenn das nun erschwert wird, indem nicht mehr jeder Wahlkreiskandidat einzieht.
Dabei gilt allerdings, dass ja nur die LowPerformer scheitern und das nur, wenn man wirklich zu wenig Prozente mit der Zweitstimme holt und auch die Erhöhung auf 630 das nicht auffängt.
Diese werden nicht die sein, die sich in ihrem Wahlkreis besonders engagieren.
Ansonsten fühlt sich kein Kandidat dem Wähler verbunden, sondern vor allem seinen lokalen Parteikollegen, die ihn wieder als Direktkandidaten aufstellen müssen.

Leider muss ich nach ein paar Jahren politischer Arbeit feststellen, dass das mit den Parteien im Bundestag nicht kommen wird, solange es Argumente gibt, stattdessen irgendetwas anderes zu tun.

Die ÖDP prüft nun, ob das Urteil eine Klage rechtfertigt.
Ich drücke fest die Daumen.

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Hoffentlich nicht zu spät, aber es ist ja Sommerpause :wink:

Ich möchte noch einen Grund gegen die 5%-Hürde anführen, der, wenn ich das richtig sehe, noch nicht genannt wurde: Es sind zunehmend die demokratischen oder staatstragenden Parteien, die von der 5%-Hürde bedroht werden, aber nicht die populistischen oder rechtsextremen Parteien. Das liegt vermutlich daran, dass anti-populistische Wählende genauer aufs Programm schauen und nicht irgendeine grob passende Partei wählen wollen, während populistische Parteien alle Wählende sammeln, die deren Slogans irgendwie ansprechend finden. Zur Rettung der Demokratie gehört auch, dass wir ein Wahlrecht schaffen, dessen spürbarer Effekt nicht ist, demokratische Parteien aus dem Parlament auszuschließen, während populistische Parteien gestärkt werden. Das Problem der populistischen Parteien ist weniger die 5%-Hürde als dass sie sich leicht totlaufen und plötzlich von ihrem zweistelligen Wahlergebnis abstürzen, siehe Schill-Partei in HH oder DVU in Sachsen-Anhalt.

Kurz und klein: Dass überhaupt demokratische Parteien ins Parlament kommen ist wichtiger als die angebliche Arbeitsfähigkeit des Parlaments.

Beispiele:
a) In Sachsen sind nach Umfragen SPD, Grüne und Linke nur knapp über dem Durst. Wenn wir schon mit ca. 42% AfD/BSW in Sachsen zurechtkommen müssen, dann doch bitte in einem Parlament, in dem zusätzlich wenigstens noch diese drei staatstragenden Parteien drin sind. Lieber dann auch den einen Nazi von den Freien Sachsen und die Hanseln von den FW ins Parlament lassen, wenn dann auch SPD, Grüne, Linke und FDP vertreten sind.

b) Das liberale Lager wird sich in FDP und Volt aufteilen und hart an der 5%-Grenze oder drunter bleiben. Den Wählenden dieser Parteien ist nicht egal, ob sie Auto-Schuldenbremse-„Up or out“-Liberalismus wählen oder Digitalisierung-Bildung-Aktienrente-Liberalismus. Die Aufspaltung in zwei liberale Parteien ist daher demokratie-theoretisch sinnvoll. Aber dieses Phänomen gibt es so bei populistischen Parteien nicht.

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