Wahlrechtsreform der Ampel-Parteien verfassungskonform?

An diesem Dienstag wird das Bundesverfassungsgericht sein Urteil über das neue Bundestagswahlrecht verkünden. Die Rich­te­r:in­nen müssen dabei nicht zuletzt entscheiden, wie 2025 der nächste Bundestag gewählt wird.

Da die letzten Threads zum kontroversen Thema schon vor über einem Jahr eröffnet wurden, stellt sich die Frage der Verfassungskonformität angesichts des bevorstehenden Urteils des Bundesverfassungsgerichts ganz aktuell.

Der Bundestag hatte seinerzeit mehrheitlich Folgendes beschlossen:

Werden die Verfassungsrichterinnen und -richter also die Änderungen des Bundeswahlgesetzes in bestimmten Teilen oder gar vollständig kippen?

Wie sähe ein gerechtes Wahlrecht aus?

Und wäre schlussendlich eine Verfassungsänderung notwendig, um unfairen Änderungen am Wahlrecht einen Riegel vorzuschieben?

Persönlich kann ich mit unterschiedlichen Wahlrechtsvarianten leben, sofern sich die Proportionalität der Stimmenverhältnisse auch in den Sitzverhältnissen des Bundestages widerspiegelt, was bei der letzten Veränderung schon nicht mehr der Fall war.

Also ich denke, eine tiefere Diskussion macht erst Sinn, wenn das Urteil verkündet wurde. Jetzt wissen wir nur genau so viel wie zum Zeitpunkt der letzten Diskussion vor einem Jahr.

Die dominante juristische Einschätzung scheint zu sein, dass der Wegfall der Grundmandatsklausel problematisch sein könnte, in der mündlichen Verhandlung hat sich ja bereits abgezeichnet, dass das BVerfG da kritisch ist. Dabei geht es eben um die Frage, ob die Sperrklausel (5%-Hürde) regional stark verankerte Parteien (Linke, BSW im Osten, CSU im Süden) ausschließen können soll oder nicht. Der worst case wäre mMn, wenn das BVerfG entscheidet, dass der völlige Wegfall der Grundmandatsklausel nicht in Ordnung sei, aber eine Anhebung auf 5+ oder gar 10+ Mandate möglich sei. Dann wäre die Grundmandatsklausel endgültig eine „Lex CSU“, daher ein Gesetz, das einzig der CSU auf absehbare Zeit helfen wird. Eine weitere Stärkung des CDU/CSU-Modells wäre definitiv ein gewaltiger Rückschritt für die Demokratie.

Den Rest der Reform halte ich für relativ eindeutig innerhalb des Gestaltungsspielraumes des Gesetzgebers, aber auch sind andere Ansichten begründbar, daher kann auch hier das BVerfG zu anderen Ansichten kommen.

Meine Prognose bleibt daher:
Der Wegfall der Grundmandatsklausel wird vermutlich gerügt, der Rest eher nicht. Aber alles ist möglich, daher warten wir’s ab.

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Noch habe ich nirgends eine verfassungsrechtlich überzeugende Begründung gegen den Wegfall der Grundmandateklausel gelesen. Das wird wohl einiges an juristischer Kreativität erfordern, um darin einen Verfassungsverstoß zu sehen.

Interessant finde ich noch Folgendes:

Verfassungsrichterin Christine Langenfeld brachte den völligen Verzicht auf eine Wahlkreiswahl ins Gespräch, dann könne es auch keine Überhangmandate mehr geben. Ähnlich der Vorschlag von Politikprofessor Frank Decker: Wenn es (wie 1949) nur noch eine Stimme gebe, mit der zugleich Partei und Wahlkreisbewerber gewählt werden, gebe es ebenfalls keine Überhangmandate. Die federführende Richterin Astrid Wallrabenstein brachte ein Quorum von 30 Prozent oder 40 Prozent der Wahlkreisstimmen ins Spiel. Wenn ein Wahlkreissieger dieses Quorum nicht erreicht, würde ihm auch kein Mandat zustehen. Rechtsprofessor Bernd Grzeszick (Vertreter der CDU/CSU-Abgeordneten) schlug eine Verrechnung von Überhangmandaten mit Listenmandaten der gleichen Partei aus anderen Bundesländern vor. Das wäre aber gerade bei der CSU schwierig, die ja nur in Bayern antritt. Minister Joachim Herrmann schlug sogar eine Reduzierung der Zahl der Wahlkreise vor, obwohl die CSU diesen Ansatz jahrelang blockiert hatte.

Damit wäre ich ganz vorsichtig. Das Problem ist, dass das Verhältniswahlrecht nicht im Grundgesetz festgeschrieben ist. Gerade von der Union (CDU ebenso wie CSU) kommen immer wieder gerne Vorschläge, auf die Zweitstimme zu verzichten und quasi eine komplette Mehrheitswahl wie in UK oder den USA einzuführen. Und ich hoffe, es herrscht Einigkeit, dass wir das auf gar keinen Fall wollen. Warum die Union damit kein Problem hat kann sich vermutlich jeder denken, sie wäre der größte Profiteur einer Mehrheitswahl, weil sie mit Sicherheit eine der zwei überlebenden Parteien wäre.

Dass ein Mehrheitswahlrecht zulässig wäre hat das BVerfG leider öfter gesagt. Wenn man diese Rechtsprechung weiter aufrecht erhalten will, ist mir auch schleierhaft, wie man die Grundmandatsklausel für verfassungswidrig halten kann.

Ein tatsächlich überzeugendes Argument, dass sich mit dem Grundgesetz direkt begründet lässt, sehe ich auch nicht. Wie gesagt, die Auffassung, dass die Grundmandatsklausel zwingend nötig ist, um dem Demokratieprinzip zu genügen, ist eigentlich unmöglich mit der Auffassung, dass auch ein reines Mehrheitswahlrecht möglich wäre, unter einen Hut zu bringen. Denn das gesamte „Demokratie-Minus“, welches in einem Wahlrecht ohne Grundmandatsklausel enthalten ist, wäre in noch größerem Ausmaß in einem reinen Mehrheitswahlrecht enthalten.

Ich stimme dir daher zu und sage sogar, dass eine etwaige Verfassungswidrigkeit des Wegfalls der Grundmandatsklausel eine klare politische Entscheidung des BVerfG wäre, zumindest, so lange es an der Ansicht festhält, dass ein reines Mehrheitswahlrecht verfassungskonform sein könnte. Vielleicht überrascht uns das BVerfG morgen ja auch positiv, indem es den Wegfall der Grundmandatsklausel abnickt - man sollte die Eindrücke aus der mündlichen Verhandlungen auch nicht überbewerten.

Richtig. Deshalb hatte ich ja die Frage in den Raum gestellt, ob man diesbezüglich nicht ggf. das Grundgesetz nachbessern sollte.

Wohl aus dem Grund, weil in unserer Verfassung keine Modalitäten festgeschrieben wurden.

Dem kann ich nur beipflichten.

Da stimmen wir völlig überein.

Der Gedanke kam mir auch schon. Wobei der Zweite Senat des BVerfG ja auch schon das Schuldenbremsenurteil zu verantworten hat, das in dieser Schärfe und Rigidität nicht einmal von kundigen Beobachtenden erwartet worden war.

Könnte das nicht dadurch umgangen werden, dass die Grundmandatsklausel abgeschafft und gleichzeitig die Sperrklausel auf zB 3% abgesenkt wird? Damit wäre die CSU safe und der Schutz kleinerer Parteien wäre über die niedrigere Sperrklausel statt über die Grundmandatsklausel gelöst. Also nur mal so als Gedankenspiel, wie auf eine mögliche Rüge alternativ reagiert werden könnte.

Das Problem ist ja: Wenn die Abschaffung der Grundmandateklausel nicht verfassungskonform wäre, dann wäre sie das ja unabhängig von der CSU oder der Linken.

Daher sehe ich nicht, wie man das durch einen solchen Bypass „heilen“ können sollte.

Der einfache Weg, solche Probleme zu umgehen, bestünde für die CSU ja darin, eine Listenverbindung mit der CDU einzugehen.

Und für den regionalen Minderheitenschutz gibt es ja die „Klausel“, die beim SSW zur Anwendung kommt. Da gilt gar keine Fünf-Prozent-Hürde.

Jedenfalls darf man auf die verfassungsrechtliche Begründung gespannt sein, falls der Zweite Senat die Streichung Grundmandate-Klausel für unzulässig erklären sollte.

Mir fällt da, ehrlich gesagt, nichts Plausibles ein.

In sozialen Medien ist zu lesen, dass das BVerfG offenbar etwas nachlässig bei der IT-Sicherheit ist (soweit sicherlich glaubhaft) und die Entscheidung mit gezielter URL-Raterei bereits abrufbar ist.

Wenn das stimmt, werden wir morgen hören dass das BVerfG die Grundmandatsklausel in der bisherigen Form (drei Mandate) aufrechterhält.

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Gibt es dafür irgendwelche verlinkbaren Quellen?

Warum bin ich nicht überrascht :smiley:

Naja, das ist wohl akzeptabel. Wenigsten keine Lex CSU.

Wow, das ist ja ein Knüller.

Demnach ist die Änderung des Wahlgesetzes weitgehend verfassungskonform.

Die Beibehaltung der Grundmandatsklausel ist da wohl zu verschmerzen.

Naja mein Argument war, wenn die Grundmandatsklausel aus Gründen der Repräsentanz nicht ersatzlos abgeschafft werden darf, könnte man die Repräsentanz über eine Senkung der Hürde sicherstellen, ohne die Klausel behalten zu müssen.

Anders gesagt: Auch wenn es zu der Entscheidung kommt, dass die Grundmandatsklausel bleiben muss, ist diese ja kein Selbstzweck, sondern müsste aus spezifischen Gründen bleiben. Das Ziel, das mit der Grundmandatsklausel erreicht wird, könnte ja aber vllt auch durch andere Maßnahmen wie zB die Senkung der Hürde erreicht werden, was dazu führen könnte, dass die Grundmandatsklausel am Ende doch evtl gestrichen werden könnte.

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Das schlimme ist, dass wahrscheinlich die große Mehrheit der Wahlberechtigten gar nicht versteht, was und warum da heute geurteilt wurde. Was bleibt ist ein gegen die Verfassung verstoßendes Gesetz.
Das werden die populistischen Kräfte natürlich wiedermal nur zugut für ihre Kampagne zu verwenden wissen.
Somit bleibt am Ende eine erneute Niederlage der Ampelparteien. Ist leider so.

Ist aber halt auch ein Problem, welches durchaus hausgemacht ist. Man hätte die Reform ja auch ohne Wegfall der Grundmandatsklausel durchführen können und hätte jetzt ein Urteil gehabt welches die Rechtmäßigkeit bestätigt hätte. Warnungen gab es ja genug.

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Da gehe ich absolut mit @sereksim . Die Grundmandatsklausel sollte komplett gestrichen bleiben und somit das in meinen Augen rückständige Mehrheitswahlrecht abgeschafft werden. Stattdessen sollte die 5% Hürde endlich fallen, damit sich die etablierten Parteien neuer Konkurrenz stellen und die Stimmen, die an kleine Parteien gehen nicht einfach unter den Tisch fallen, was ich extrem übel finde. Das dürfte auch im Interesse der FDP sein, die definitiv keine 3 Direktmandate kriegen wird und sehr gute Chancen hat unter 5% zu fallen.

Das Zweitstimmendeckungsverfahren, also das Kernstück der Wahlrechtsreform, hat das BVerfG vollauf bestätigt.

Lediglich an der Fünf-Prozent-Klausel hat das Verfassungsgericht etwas zu bekritteln.

Die Pressemitteilung des BVerfG bringt es auf den Punkt:

Das Bundeswahlgesetz 2023 ist überwiegend verfassungsgemäß – allein die 5 %-Sperrklausel ist derzeit verfassungswidrig, gilt aber mit bestimmten Maßgaben fort

https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2024/bvg24-064.html

Da es in Bayern keine Grundmandatsklausel, also keine Ausnahme von der kritisierten Fünf-Prozent-Sperrklausel, gibt, wird das bayerische Wahlrecht wohl geändert werden müssen. :smiley:

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Sehe ich es richtig, dass das eine Stadt-Land-Aufteilung zwischen SPD und Union befördern wird? Wenn gewonnene Wahlkreise nach erzielter Stimmenzahl auf die Zweitstimmenergebnisse angerechnet werden, werden knappe Wahlkreismandate leer ausgehen. Ergo werden sich irgendwann Leute fragen, warum sie in der Stadt die Union oder auf dem Land die SPD wählen sollen wenn knapp errungene Siege dann doch nicht zählen, und es nicht mehr tun. Da gibt’s dann zwei Möglichkeiten: Entweder die Parteien bemühen sich, ihre Politik mehr auf diese Zielgruppen auszurichten um auch dort größere Erfolge zu erzielen, oder sie betonieren sich in ihren Stammregionen und deren Befindlichkeiten ein. Pessimistisch erscheint mir letzteres die einfachere und damit wahrscheinlichere Reaktion…?

Es geht ja nicht um den prozentualen Abstand zur/m Zweitplatzierten, es geht darum, „einen möglichst großen Anteil der Erststimmen auf sich zu vereinen, um bei fehlender Zweitstimmendeckung innerparteilich die Nase vorn zu haben (vgl. die Reihung nach Zweitstimmenanteil)“ (Verfassungsblog).

Das wird natürlich im Ergebnis tendenziell dazu führen, dass eher ländliche CDU/CSU-Kandidatinnen und -Kandidaten in den Bundestag einziehen und grüne oder SPD-Kandidatinnen und -Kandidaten in größeren Städten bessere Chancen haben, MdB zu werden:

In den Großstädten sind die Menschen eher linksliberal eingestellt, das nimmt aber ab, je weiter man sich von urbanen Gebieten entfernt. Von den Großstädten über die Vororte, Kleinstädte und Dörfer bis aufs platte Land werden die politischen Ansichten tendenziell immer konservativer und das Vertrauen der Menschen in die Demokratie und etablierte Parteien sinkt.

Allerdings wird gleichzeitig die Regelgröße des Bundestages von 598 auf 630 (letztere dann fix) aufgestockt. Das soll die Zahl der leer ausgehenden Bewerberinnen und Bewerber verringern.

Und auch die Möglichkeit, Wahlkreiskandidatinnen und -kandidaten über hohe Listenplätze abzusichern, bleibt weiterhin bestehen.

Diese Option erübrigt sich dann aber, wenn ich es richtig verstanden habe, wenn eine Partei mehr Erststimmen-Gewinnende hat, als es ihren Sitzen nach Zweitstimmenanteil entspricht.

Seit dem massiven und von der Parteibasis goutierten Rechtsschwenk der CDU/CSU bezweifle ich aber ohnehin, dass liberalere oder sozialere Kandidatinnen und Kandidaten Chancen auf einen sicheren Listenplatz hätten.

Dass in der weitgehend vom BVerfG abgesegneten Wahlrechtsreform nun aber viel Potenzial zu zusätzlicher Polarisierung steckt, bezweifle ich.

Lustig finde ich noch, dass die CDU/CSU, die sich jetzt als Siegerin geriert, dem Urteil nach eine Abschaffung der Fünf-Prozent-Hürde fordern müsste, denn selbige hat das BVerfG ja als einzige als prinzipiell verfassungswidrig eingestuft.

Im Grunde sehe ich auch eine Tendenz dazu, der Effekt dürfte aber begrenzt sein, wie @Schnackerio Schickerio es darstellt: Durch die Aufstockung der anfänglich zu verteilenden Mandate, ggf. auch durch eine wieder einzuführende Grundmandatsklausel (oder ähnliche Lösung).

Am ehesten dürften von „Verwaisung“ Großstädte in ländlich geprägten Bundesländern (bspw. Dresden und Leipzig in Sachsen oder Rostock in M-V) und andersherum rurale Gebiete in städtisch geprägten Ländern (Sauerland?) betroffen sein, oder?

Edit, 30.7.: Ergänzung: Das BVerfG argumentiert außerdem, Rn. 191:

Die Erststimmenwahl wird für Wählerinnen und Wähler auch nicht bedeutungslos. Erhält der Wahlkreisbewerber mit den meisten Erststimmen kein Mandat, stellt sich die Wahl auch rückwirkend nicht als „sinnlos“, sondern zunächst als erfolglos dar, wobei er als Wahlkreisgewinner weiterhin an der Spitze der für Nachrückungen fortgeltenden Landesliste stehen bleibt.