Ich möchte hiermit ein Thema für die Lage vorschlagen, das ansonsten leider so gut wie keine Beachtung in der deutschen Medienlandschaft findet. Der Westsaharakonflikt spielt sich seit über 40 Jahren vor den Toren Europas ab und bis heute ist es nicht gelungen, der völkerrechtswidrigen Besatzung durch das Königreich Marokko etwas entgegen zu setzen. Andererseits ist die EU ein nicht zu unterschätzender Akteur in diesem Konflikt, und auch die BRD ist u.a. durch wirtschaftliche Aktivitäten deutscher Unternehmen in der Westsahara direkt beteiligt.
In Kürze (am 29. September) steht die Verkündung eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) an, von dem erwartet wird, dass es wegweisend für den Westsaharakonflikt, aber auch für die Beziehungen der EU zu Marokko sein wird. Ich würde mich sehr freuen, wenn dieses Urteil als Anknüpfungspunkt für ein Thema der Lage dienen könnte und so der Konflikt einem breiteren Publikum nahegebracht werden könnte.
Kurz zum Hintergrund des Konflikts: Die Westsahara ist laut der UN ein Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung, d.h. der Entkolonialisierungsprozess ist dort noch nicht abgeschlossen, die Westsahara ist damit die letzte verbliebene Kolonie Afrikas. Seit sich die ehemalige Kolonialmacht Spanien 1975 aus der Westsahara zurückzog, ist ein Großteil des Territoriums völkerrechtswidrig von Marokko besetzt. Laut Internationalem Gerichtshof, dem EuGH und unzähligen UN-Resolutionen hat das Volk der Westsahara jedoch ein Recht auf Selbstbestimmung, dessen Ausübung Marokko seit über 45 Jahren blockiert. Die 1991 berufene UN-Mission Minurso hat bis heute ihre Aufgabe – die Durchführung eines Referendums unter den Sahrauis über ihre Zukunft – nicht erfüllt, vor allem auch weil der politische Druck auf Marokko fehlt. Die EU und auch Deutschland sind für den katastrophalen Status Quo, unter dem die Sahrauis entweder massiven Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt unter marokkanischer Besatzung oder in Flüchtlingslagern in Algerien leben müssen, mitverantwortlich. Seit November 2020 befindet sich die Befreiungsbewegung Polisario (gleichzeitig die von der UN anerkannte Vertretung des sahrauischen Volkes) wieder im Krieg mit der Besatzungsmacht Marokko, nachdem Marokko das Waffenstillstandsabkommen von 1991 gebrochen hatte.
Das o.g. Urteil bezieht sich auf Wirtschaftsabkommen zwischen der EU und Marokko, die die Westsahara (bzw. Produkte von dort) ausdrücklich miteinschließen (Rechtsache T-344/19 und Rechtssache T-279/19). Aktiv sind die Abkommen in dieser Form seit einer Neuverhandlung durch die EU-Kommission, die im Zuge von ähnlichen Urteilen des EuGHs in Bezug auf ältere Wirtschaftsabkommen zustande kam. Dabei wurden die Aussagen der vorigen Urteile (erstes, entscheidendes Urteil in der Rechtssache C‑104/16 P) komplett durch die EU ignoriert: der EuGH machte unmissverständlich klar, dass die Westsahara ein von Marokko „gesondertes und unterschiedliches“ Hoheitsgebiet ist, und dass für Abkommen, die die Westsahara einschließen, somit die ausdrückliche Zustimmung des Volkes der Westsahara Voraussetzung ist. Diese Zustimmung wurde nie eingeholt; die Kommission hatte einfach behauptet, dass dies nicht möglich sei, und hat daher marokkanische Akteure konsultiert.
Mit dem Urteil liegt ein Schlüsselelement für das Volk der Westsahara und der Ausübung seines völkerrechtlich anerkannten Selbstbestimmungsrechts in den Händen des EuGHs. Neben der juristischen Komponente, die ja sehr gut in der Lage aufgehoben ist, sehe ich folgende Ansatzpunkte, die für Lage-Hörer:innen von Relevanz/interessant sein könnten:
- Bezug zu lokalen Akteuren: Deutsche Unternehmen, vor allem börsennotierte Konzerne wie etwa Siemens und HeidelbergCement, sind wirtschaftlich in der Westsahara aktiv und kooperieren dabei ausschließlich mit der Besatzungsmacht Marokko
- Skandalöser Umgang der EU mit der Rechtsprechung seines eigenen Gerichtshofs (wie oben bereits angedeutet): die EU-Kommission hat mit miesen Tricks und nachweislichen Lügen die neuen Abkommen durch das Parlament und den EU-Rat bekommen, wo auch die deutsche Bundesregierung zustimmte.
- Diplomatische Spannungen zwischen BRD und Marokko: Marokko hat vor allem wegen der Haltung der Bundesregierung in Bezug auf die Westsahara seine diplomatischen Beziehungen zu Deutschland so gut abgebrochen (keine Zusammenarbeit mit politischen Stiftungen, Botschafter abgezogen, Stopp der Zusammenarbeit im Bereich Sicherheit/Terrorismusbekämpfung angekündigt); das ist eine durchaus bekannte Vorgehensweise, mit der Marokko die Anerkennung seines Anspruchs auf die Westsahara durchsetzen will. Beispielsweise öffnete Marokko vor kurzen die Grenzen zur spanischen Enklave Ceuta, um Druck auf Spanien auszuüben; es wird auch ein ähnliches Verhalten nach der Urteilsverkündung erwartet
Es wird erwartet, dass der EuGH die bisherigen Urteile bestätigen und damit die Wirtschaftsabkommen mit Marokko als rechtswidrig einstufen wird. Der genaue Ausgang und vor allem dessen politische Umsetzung sind jedoch alles andere als klar. Die Spannungen zwischen der EU und Marokko werden in jedem Fall zunehmen. Es ist aber gerade jetzt notwendig, Aufmerksamkeit zu erzeugen und Druck auf EU und Bundesregierung auszuüben, damit die Abkommen nicht wieder die EU-Rechtssprechung verletzen und das Selbstbestimmungsrecht der Sahrauis geachtet und gestärkt wird!
Weitere Infos und Links:
EuGH-Urteile und Rechtssachen zur Westsahara:
Übersicht: https://wsrw.org/de/nachrichten/die-eu-gerichtsverfahren-zur-westsahara
aktuelles Urteil:
- Rechtssache T-344/19: https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=216893&pageIndex=0&doclang=DE&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=3604197
- Rechtssache T-279/19: https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=215737&pageIndex=0&doclang=DE&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=3604197
Bisherige Urteile:
Bruch des Waffenstillstands und Hintergrund
https://www.medico.de/blog/der-krieg-ist-zurueck-18005
https://taz.de/Nach-Streit-um-Verkehr-nach-Mauretanien/!5725144/
https://wsrw.org/de/die-besatzung-der-westsahara
IGH Advisory Opinion zum Status der Westsahara, 1975: https://www.icj-cij.org/public/files/case-related/61/061-19751016-ADV-01-00-EN.pdf
Menschenrechte:
https://taz.de/Konflikt-in-Westsahara/!5737297/
Beziehung EU-Marokko
https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-05/ceuta-marokko-grenze-spanien-gefluechtete-jugendliche-kinder-abschiebungen
Rolle der Ressourcen und Beteiligung deutscher Unternehmen:
https://wsrw.org/de/der-fluch-der-ressourcen
https://taz.de/Regenerative-Energie-in-der-Westsahara/!5354994/
https://taz.de/Handel-und-Menschenrechte/!5686822/