Union und Bürgergeld: Wie hoch ist den der Anteil der Totalverweigerer?

Selbst die Union musste zugeben, das nicht alle Bürgergeldempfänger automatisch Verweigerer sind.
Bedeutet aber auch, das es eine große Gruppe gibt (Aufstocker, gesundheitlich eingeschränkte Personen, arbeitsmarktferne Langzeitarbeitslose mit multiplen Problemlagen), die man mit „Druck“ nicht wird erfolgreich extrinsich wird motivieren können. Und das wird wohl einen Großteil der Leistungsbezieher ausmachen.
Da braucht es mehr oder andere Lösungen als „Fordern und Fördern“. Zumindest fehlen mir da die konkreten Lösungsansätze der Union.

Ich habe gar kein Problem mit einem „Schubs in die richtige Richtung“. Dieser sollte aber eben im Rahmen einer Hilfe erfolgen und nicht in einem „Wenn du diesen Job nicht antrittst bekommst du kein Geld mehr und musst sehen wie du nicht verhungerst“.

Gerade wenn solche Leute bei einem Arbeitgeber landen der weiß wie er mit ihnen umgeht, kann das schon klappen, wenn man dann aber einfach nur in eine Fabrik geht, dort an einer Maschine steht und 8 Stunden mit niemandem redet, dann dürfte das wohl kaum langfristig erfolgreich sein.

Und wenn jemand aus Gründen von psychischen Erkrankungen (oft nicht diagnostiziert) nicht in der Lage ist zu arbeiten, dann Hilft der Druck wohl auch kaum.

Wie würde wohl die Union reagieren, wenn jemand eine Neiddebatte startet über Leute, die im Bundestag sitzen, nie eine Rede halten, die Hälfte der Sitzungen schwänzen und dann noch großzügige Nebeneinkünfte beziehen?
Ich denke auch das wäre ein Themenfeld, wo durchaus Potential für fördern und fordern wäre.

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Obligatorische Bürgergeldstatistik und -Fakten, die bei mir für solche Fälle in der digital-Ablage liegt:

  • Etwa 3,9 Millionen erwerbsfähige Menschen haben 2023 im Durchschnitt Bürgergeld bezogen: Anzahl der Empfänger von Bürgergeld 2024 | Statista
  • Davon waren 42% (ca. 1,7 Millionen) arbeitslos und arbeitsfähig. Der Rest arbeitet und stockt mit BG auf, ist im Studium, Aus- oder Weiterbildung, erzieht oder pflegt, ist krank, etc.: Bürgergeld: Verteilung der Leistungsempfänger 2023 | Statista
  • Von den „arbeitslosen arbeitsfähigen“ bezieht nur ein Teil langfristig den vollen BG-Regelsatz, viele rotieren auch wegen kurzfristiger Arbeitslosigkeit ohne Anspruch auf ALG I zeitweise in das BG: Einzelausgaben - Statistik der Bundesagentur für Arbeit Exakte Zahlen hierzu sind schwer auffindbar, die Zahl der mehrjährigen „arbeitslos arbeitsfähigen“ dürfte aber weniger als die Hälfte dieser Gruppe betragen.
  • Ein Teil dieser langfristig „arbeitslos arbeitsfähigen“ ist das nicht freiwillig, sondern ist schlicht schwer auf dem Arbeitsmarkt vermittelbar.
  • „Arbeitslose arbeitsfähige“ Leistungsbezieher sind schon heute zur Annahme eines „zumutbaren“ Jobangebots verpflichtet, auch „1-Euro-Jobs“, sonst können „Leistungsminderungen“ von bis zu 30% des Regelsatzes verhängt werden: Sanktionen beim Bürgergeld - Bürgergeld Ratgeber (das reizt auch das verfassungsrechtlich zulässige aus)

In der Summe geht jeder der Diskussionen um „faule“ Bürgergeldempfänger also um eine Gruppe von maximal ca. 0,8 Millionen Menschen, von denen aber vermutlich ein erheblicher Anteil überhaupt nicht freiwillig arbeitslos ist, sondern gerne einen Job hätte und sich aktiv an den Maßnahmen des Jobcenters beteiligt, aber aus verschiedenen Gründen keinen Job angeboten bekommt. Ob diese Zahl an Leistungsempfängern das Ausmaß der gesellschaftlichen Debatte rechtfertigt, mag jeder für sich selbst entscheiden.

Aufgrund persönlicher anekdotischer Erfahrung würde ich davon ausgehen, dass die Zahl der tatsächlichen „arbeitsfähigen Totalverweigerer“ eher im fünfstelligen, als im sechstelligen Bereich liegt.

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Behörden, besonders deutsche Behörden, sind dafür völlig ungeeignet, den „Totalverweigerern“ so einen Schubs zu geben, dass sie motiviert werden.

Das Argument der Union ist ja „Wer eine zumutbare Arbeit ablehnt und lieber weiter der Gesellschaft auf der Tasche sitzt, der scheint nicht wirklich in Not zu sein“, d.h. würde gar nicht verhungern, würde man das Bürgergeld streichen. Ist denn da irgendeine Beweisumkehr geplant: Der Bezieher von Bürgergeld, der mehrmals eine zumutbare Arbeit verweigert, muss nachweisen, dass im diese Stelle nicht zumutbar ist und er ohne Bürgergeld unter das Existenzminimum rutschen würde.

Aber dass diese Sichtweise unterkomplex ist und die Probleme vielschichtiger sind können wir hier doch als Gegeben annehmen.

Und da liegt das nächste Problem: Die CDU ist hier einfach realitätsfern.
Die Zahl der gesunden, qualifizierten 20-35-jährigen unter den Totalverweigerern dürfte gegen Null gehen. Totalverweigerer haben immer eine entsprechende Biografie, sie haben immer massive soziale und meist auch psychologische Probleme. Der „gesunde, qualifizierte 20-35-jährige“ ist kein Totalverweigerer, Totalverweigerer sind i.d.R. die Menschen, die durch’s Bildungssystem gefallen sind und eine mehrfach gebrochene Erwerbsbiografie haben, die wegen nicht diagnostizierten sozialen und psychologischen Problemen nicht so arbeitsfähig sind, für wie sie gehalten werden.

Ernsthaft, wer denkt, dass die Totalverweigerer, die sich im Trash TV freiwillig vorführen lassen und damit prahlen, dass sie nicht arbeiten wollen, arbeitsfähig seien, hat einfach keine Menschenkenntnis. Dieses „Ich könnte ja arbeiten, will aber nicht“ ist nichts anderes, als ein psychologischer Schutzreflex von Menschen, die sich nicht eingestehen wollen, dass sie eben nicht arbeiten könnten - es ist einfacher, sich die Rolle des Regelbrecher-Rebellen zu geben, als sich einzugestehen, dass man psychisch nicht in der Lage ist, einer reguläre Arbeit nachzugehen.

Ich halte den Anteil der Totalverweigerer, die tatsächlich bei näherer Betrachtung arbeitsfähig in dem Sinne sind, dass sie eine Arbeitsstelle ausfüllen und länger als drei Monate halten können, für extrem niedrig. Von der ohnehin geringen Zahl der Totalverweigerer wären nur ein Bruchteil überhaupt arbeitsfähig. Die Polemik der CDU gegen diese Gruppe ist ein typisches „Treten nach Unten“ von Leuten aus guten Elternhäusern mit erfolgreichen Erwerbsbiografien, die sich anmaßen, über Menschen zu urteilen, die einen viel, viel schlechteren Start in’s Leben hatten. Es ist einfach nur widerlich.

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Und genau die werden aber auch unter härteren Sanktionen nicht leiden müssen, weil die genau wissen was sie tun müssen um nicht sanktioniert zu werden. Man lässt dann halt schon beim Bewerbungsgespräch durchklingen was den Arbeitgeber erwarten wird, z.B. indem man auf die Frage warum man nur kurz bei den bisherigen Arbeitgebern war mit Geschichten kommt bei denen alle Alarmglocken läuten.
Und wird man dann doch eingestellt, dann ist man halt so viel Krank und gibt sich sonst überfordert, dass kein Unternehmen auf die Idee käme einen die Probezeit überstehen zu lassen.

Der Mensch, der wegen psychischer Probleme ohne Arbeit ist und dann einfach nicht zu einem Bewerbungsgespräch erscheint (weil er schlichtweg nicht kann) wird dagegen sanktioniert.

Und dann klopft man sich auf die Schulter und freut sich über mehr Gerechtigkeit und effektiv hat man nur die erwischt, für die das Bürgergeld eigentlich da sein sollte und die, die wirklich in der Lage wären zu arbeiten sind fähig genug auch weiterhin ohne Arbeit das System auszunutzen.

Na ja, wie üblich bei der CDU geht es um Gerechtigkeit und Wahlkampf.

Mal von der eher CDU-nahen Welt-Redaktion:

CDU will Bürgergeld-Reform: Arbeitgeber begrüßen Vorschläge – Jobcenter sieht kaum „Totalverweigerer“ - WELT

Interessant die Gegensätze:

"(Arbeitgeberpräsident) Dulger sagte: „Wir haben fast vier Millionen Menschen im Bürgergeld-System, die arbeiten können – das ist zu hoch.“ Damit Arbeitskräfte in den Betrieben ankommen, müsse der Fokus viel stärker auf der Aktivierung und Vermittlung in Arbeit liegen. Dulger forderte Mitwirkungspflichten, „die auch praktisch eingefordert werden müssen“.

Dagegen folgendes:

"In der Debatte um die Bürgergeld-Pläne der CDUhält Stefan Graaf, Sprecher der Jobcenter in Nordrhein-Westfalen, den Begriff der „Totalverweigerer“ für „überstrapaziert“. „Wir reden da wirklich über extreme Einzelfälle, die sich so im Ein-, Zwei-Prozent-Bereich bewegen. Das zeigt uns auch, dass die Debattenbeiträge um das Bürgergeld oft ein sehr verengtes und teilweise auch unzutreffendes Bild wiedergeben, weil sie sich an Extremfällen orientieren und nicht an der Allgemeinheit der von uns betreuten Menschen“, sagte Graaf am Dienstag auf WDR 5. (…)
Oft werde die Vielschichtigkeit der Problemlagen bei Bürgergeld-Beziehern verkannt, sagte Graaf, der auch Geschäftsführer des Jobcenters der Städteregion Aachen ist. „Anders als oft behauptet wollen die meisten Menschen arbeiten und sich aus- beziehungsweise fortbilden. Und anders als auch oft dargestellt haben wir im nennenswerten Umfang keine Menschen zu verzeichnen, die ihre Arbeit kündigen, um das ach so angeblich angenehme Bürgergeld zu erhalten. Fakt ist, dass auch seit der Einführung des Bürgergelds die Zahl der Übergänge der Menschen aus der Beschäftigung in den Leistungsbezug im Jahr 2023 nicht gestiegen ist.“

Alles eine Sache der Sichtweise… :wink:

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Also dürfte man zumindest in ersten Jahr auch einem Totalverweigerer nichts kürzen, da es ein Versicherungsanspruch ist.

Der bekommt ja dann ALG1 und kein Bürgergeld.
Da gibt es keine Bedürfnisprüfung, kein Schonvermögen usw
Es ist auch kein fester Betrag, sondern ermittelt sich aus dem bisherigen Gehalt.
Und man kann trotzdem kürzen, denn der Versicherte unterschreibt, mitzuhelfen, den Versicherungsfall möglichst schnell zu beenden.

Also wenn der Arbeitgeberpräsident von 4 Mio Bürgergeld-Empfängern spricht, muss man erstmal klar stellen, dass er sich nicht auf die „Totalverweigerer“ beziehen kann, sondern eben auf alle Bürgergeld-Empfänger - er will also auch Druck bei Leuten ausüben, die keine „Langzeitarbeitslosen“ oder „Totalverweigerer“ sind, er will schlicht zurück zu „Hartz IV“, also Sanktionen für alle. Also was ich da zwischen den Zeilen lese ist:

„Als Arbeitgeber wollen wir, dass der Staat die Menschen mit Sanktionen zwingt, zu unseren Bedingungen zu arbeiten, ob sie wollen oder nicht. Je mehr Menschen um den Job konkurrieren, desto weniger können wir denen zahlen, die wir anstellen! Angebot und Nachfrage ist so viel toller für uns, wenn der Staat durch Zwang das Angebot zu unserer Nachfrage erhöht…“

Wie gesagt, ihm geht es nicht um Totalverweigerer, ich bin mir ziemlich sicher, dass Dulger genau weiß, dass Totalverweigerer für die Wirtschaft so attraktiv sind wie Bestandsimmobilien im Gaza-Streifen…

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Das käme auf die Rahmenbedingungen an. Bei langjährig Beschäftigten würde ich da mitgehen.

Jedes soziale Sicherungssystem hat ein Trittbrettfahrerproblem. Es geht theoretisch nicht ohne. Das ist in das System eingepreist. Und die Union weiß das.

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Nur, weil das Trittbrettfahrerproblem vorhanden ist, muss es ja weder der Union, noch den Regierten gefallen. Mit beispielsweise gefällt es überhaupt nicht und ich bin sehr dankbar dafür, dass wenigstens die Union etwas dagegen unternehmen möchte. Ich halte das, nebenbei bemerkt, auch im Sinne des gesellschaftlichen Zusammenhalts für dringend geboten.

Ja, wer aber behauptet dieses Problem lösen zu können, der ist unehrlich. Ich persönlich will aber eine Politik, die sich ehrlich macht und nicht Lösungen für vermeintliche Probleme fabuliert.

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Aber wenn es z.B. einen Trittbrettfahrer gibt, der dem Staat jährlich ungerechtfertigte Kosten von 5.000 Euro verursacht, lohnt es sich dann sich so sehr über den zu ärgern, dass wir für die Durchsetzung von Zwangsmaßnahmen einen Sachbearbeiter einstellen, der ein Gehalt von 30.000 Euro im Jahr hat und neben dem Trittbrettfahrer auch drei völlig schuldfreien Beitragsbeziehern das Leben schwer macht?

Klar, ist jetzt ein wenig auf die Spitze getrieben, aber nicht viel. Ein großer Teil der Jobcenter-Bürokratie (die richtig Geld kostet) wird schon heute dafür betrieben, ein paar sehr wenige angeblich faule Menschen zur Arbeit zu zwingen. Deshalb sind auch so ein hoher Anteil von Bürgergeld-Bescheiden viel zu niedrig (und werden von den Gerichten kassiert): Die Bürokratie braucht Opfer, an denen sie die politisch vorgegebenen Zwangsmaßnahmen auch umsetzen kann. Das es dann eben oft nicht den richtigen trifft (und das auch nichts mehr damit zu tun hat, jemandem zurück ins Arbeitsleben zu helfen) – geschenkt. Hauptsache wir haben kollektiv das Gefühl, das was gegen „die Schmarotzer“ getan wird.

Ich erlebe das als Vater eines schwerbehinderten Kindes an anderer Stelle immer wieder: es wird ein wahnsinniger Aufwand getrieben, damit auch ja niemand irgendeine Leistung nach dem Sozialgesetzbuch oder von der Krankenkasse in Anspruch nimmt, die ihm nicht zusteht. Mein Sohn verursacht mit den nötigen Anträgen jedes Jahr hunderte Arbeitsstunden in verschiedenen Behörden, der Krankenkasse, bei unseren Ärzten usw., weil da jede Ausgabe dreimal geprüft und dann noch ein Gutachter vor Ort vorbei schauen muss. Der Spareffekt ist null, denn wir bekommen jeden Antrag durch, den wir wollen und es ist ja auch Schwachsinn, sich noch eine Therapie an den Hals zu holen, die es eigentlich nicht braucht.

Mal ganz davon abgesehen, dass es sich rein finanziell erheblich mehr lohnen würde, Steuerfahnder einzustellen als Bürgergeld-Betrügern nachzustellen …

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Nur dass die Kosten zur Ermittlung einer weniger Trittbettfahrer erheblich höher sind als das gesparte Geld. Ich höre keine Stimmen aus der Union zum Thema Steuerhinterziehung und -vermeidung. Denn das kostet den Staat erheblich mehr als die paar Bürgergeldbezieher, die ungerechtfertigt Leistungen erhalten. Die Union möchte hier lediglich Presse machen indem Sie auf die schwächeren einschlägt. Wenn Sie wirklich Interesse daran hätte schaden von Deutschland abzuwenden würde Sie mehr gegen Steuerkriminalität tun. Warum sie da nichts tut kann man sich ja denken.

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Unabhängig von den Zahlen im Beispiel greift eine reine Kosten-Betrachtung allerdings zu kurz. Zusätzlich zu den direkten Kosten entstehen auch indirekt Kosten, die deutlich höher sind.

Wenn es keinen Anreiz mehr gibt, arbeiten zu gehen und nur noch diejenigen arbeiten, denen Arbeit mehr Spaß macht als Freizeit, die von selbst eine Verantwortung ggü. der Gesellschaft spüren, oder die mit Arbeit sehr viel besser gestellt sind als mit Sozialhilfe, dann schadet das der Wirtschaft enorm, wir haben noch weniger Arbeitskräfte und es brechen mittelfristig sehr viele Steuereinnahmen weg. Man muss jetzt nicht die Debatte aufmachen, b man mehr oder weniger hat, aber wenn man sich mal den effektiven Stundensatz (Wie viel habe ich wirklich am Ende des Monats mehr als mit Sozialhilfe pro Stunde) anschaut, kann ein schlecht gebautes System schnell den Schubs in die falsche Richtung geben - auch für diejenigen, die eigentlich arbeiten wollen.

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