Taktisch wählen nach Wahlrechtsreform: wann sinnvoll?

Im Gegensatz zum aufrichtigen Wählen wird beim taktischen Wählen versucht, durch die Wahl eines weniger bevorzugten Wahlvorschlages und der Nichtwahl des eigentlich bevorzugten Wahlvorschlages den Erfolgswert der Stimme(n) bei einer Wahl zu erhöhen.

Demnach wäre jede Entscheidung eine andere als die präferierte Partei zu wählen taktisches Wählen. Finde ich sehr treffend.

Edit: da du nicht weißt, wie die anderen abstimmen ist es immer eine individuelle Entscheidung.

Aber es wird ja trotzdem eine präferierte Partei gewählt - nur eben eine die über 5 Prozent schaft. Es wird ja nicht abweichend von der eigenen Präferenz gewählt, um ein bestimmtes taktisches Ziel zu erreichen.

Egal welche Definition man zugrunde legt: Das Ganze basiert immer auf Umfragen und damit auf dem angenommenen Wahlverhalten anderer. Sonst gäbe es ja auch keine Grundlage zu sagen „die Grünen sind sicher, Volt aber nicht“.

Nehmen wir die FDP: als CDUler könntest du auf die Idee kommen, denen eine Stimme zu geben, damit sie doch noch im Bundestag vertreten sind. Als FDPler könntest du aber genauso auf die Idee kommen, dass deine Stimme aufgrund der Unsicherheit bei der Union besser aufgehoben wäre. Letztendlich hat sich nichts geändert. Die Umfragen geben einen Hinweis, aber wie sich die anderen Wähler aufgrund der Umfragen entscheiden kannst du nicht vorhersehen. Darum bleibt es dennoch eine individuelle Entscheidung wie man seine taktische Stimme (sofern man sie taktisch abgeben möchte) platziert.

Eben und wenn es nicht so etwas gibt wie eine Leihstimmenkampagne der Union für die FDP, die ein bestimmtes Wahlverhalten einer größeren Gruppe von Wählern zumindest wahrscheinlicher macht, sind es einfach unterschiedliche individuelle Entscheidungen, die einen bestimmten Effekt haben können oder auch nicht. Das ist dann aber eher erratisch als taktisch. Aus meiner Sicht bestimmt sich das Taktische von einem bestimmten Ergebnis her, nicht von einem bloßen (individuellen) Wunsch, eines zu erzielen. Aber vielleicht bin ich da auch zu streng…

Vermutlich, denn erstens lässt sich sowas nicht steuern und zweitens wäre das in meinen Augen dann eine Kampagne und keine Taktik. Denn das müsste ja von den Politikern selbst ausgehen. Als Laschet Kandidat war, hat die CSU zum Beispiel extra dafür geworben: die Erststimme für die CSU - um ein Zeichen gegen Laschet zu setzen.

Solche Fälle gibt es ja. Das kann von Parteien kommen, aber es gab bei der Wahl 2021 zum Beispiel ja auch Kampagnen von NGOs für bzw. gegen bestimmte Direktkandidaten. Ich finde halt so einen inflationierten Taktik-Begriff relativ nutzlos. Der hat kaum analytischen Mehrwert, sondern es klingt halt einfach etwas „schicker“, wenn ich mich dafür entscheide, eine Partei zu wählen, von der ich eigentlich nicht überzeugt bin.

Danke für den Link. Habe mich immer schon gefragt, was da für ein Begriffsverständnis dahinter steckt.

„Taktik“ klingt halt irgendwie smarter als „Schritte unternehmen“. Aber Taktik sind doch letztlich einfach Schritte, die man geht, um ein definiertes Ziel zu erreichen: Ich habe das Ziel X. Um es zu erreichen, gehe ich die Schritte Y und Z. (Die Gesamtheit nennen wir eine Strategie.)

Wir überlegen uns also, welches Ziel wir erreichen wollen: Ist es uns wichtiger, dass A eintritt, oder ist es uns wichtiger, dass B eintritt. Wenn wir uns für ein Ziel entschieden haben, unternehmen wir die Schritte, die uns zum Ziel führen – diese Schritte sind die Taktik.
Es kann dabei auch Unbekannte geben (wie im Fall der Wahlen das Verhalten der anderen). Das macht es komplizierter. Dies greift aber bei dem Punkt Zielbestimmung. Die Schritte zum Ziel sind nachgeordnet. Und die können in ihrer Zahl oder Schwierigkeit differieren, aber es sind halt trotzdem Schritte, die zum Ziel führen, also Taktik.

Insofern kann ich die Argumentation von Flixbus gut nachvollziehen: Es wird, in Abhängigkeit von der Zielsetzung, nur der Rahmen geändert, innerhalb dessen die nächstliegende Partei gewählt wird:

Aber Flixbus versteht „Taktik“ offenbar trotzdem anders als ich. Im allgemeinen Gebrauch schwingt bei „Taktik“ immer etwas Gefinkeltes mit, etwas nicht ganz Naheliegendes. (Vielleicht bin ich auch die einzige, die dies noch anders verwendet …)

Ich frage mich halt, wo die Diskussion hinführen soll.
Wir haben einen von den Medien geprägten und akzeptierten Begriff. Wer will, dass er in diesem Zusammenhang nicht genutzt oder anders genutzt wird, sollte begründen warum und was man stattdessen sagen sollte. Sprache funktioniert nun mal vor allem dann, wenn alle wissen was gemeint ist und Missverständnisse vermieden werden.
Gleichzeitig hat die Diskussion über den Begriff die Diskussion über das Thema überlagert, was erst recht nicht gewollt sein kann.
Diskussion über den Begriff auslagern in einen neuen Thread?

Ich sehe das nicht so dramatisch. Da es offensichtlich unterschiedliche Auffassungen darüber gab, was taktisches Wählen eigentlich ist, schien es mir sinnvoll, auf den Begriff Taktik einzugehen. Das hilft manchmal. Wenn dir dies nicht sinnvoll erscheint, brauchst du es nicht weiterzuverfolgen. Meine Frage hast du ja schon beantwortet, wofür ich mich bedankt habe; eine „Überlagerung“ des Threads sehe ich durch meine zweieinhalb Beiträge im doch recht langen Thread nicht.

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Wir leben in einer repräsentativen Demokratie, das heißt der Bundestag sollte die Meinung der Bevölkerung bestmöglich vertreten. Das heißt die Frage, die bei der Bundestagswahl gestellt wird ist eigentlich: Welche der gelisteten Parteien glaubst du, würde dich und deine Meinungen am besten im Bundestag repräsentieren? Das ehrliche beantworten dieser Frage wäre also das aufrichtige Wählen. Sobald du anfängst diese Frage nicht mehr „ehrlich“ zu beantworten, sondern deinen eigenen Zielen nachzugehen, ist das taktisches Wählen. Das ist deshalb kritisch zu sehen, weil es das Prinzip der repräsentativen Demokratie untergräbt. Deshalb ist die 5% Hürde extrem kritisch zu hinterfragen, da sie die Wähler zum taktischen Wählen veranlasst.

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Wenn es um das Prinzip der repräsentativen Demokratie geht, ist aus meiner Sicht das viel größere Problem, dass die größte „Partei“ seit Längerem schon die der Nichtwähler ist, d. h: dass regelmäßig ein Drittel der Wahlberechtigten sagt: „ich fühle mich durch gar keine Partei repräsentiert“. Das wird noch dramatischer, wenn man sich anschaut, wie stark die Wahlbeteiligung mit der sozialen Lage korrelliert, mal platt gesagt: Es gehen vor allem Reichere wählen (der relative Begriff umfasst hier auch die Mittelschicht), die Ärmeren erwarten nämlich eh überhaupt keinen Einfluss auf die Politik (siehe dazu den verlinkten Podcast). Dagegen sind ein paar „verschenkte“ Prozent für Kleinparteien m. E. eher ein Luxusproblem.

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Zunächst einmal finde ich bis zu 20% nicht gezählte Stimmen kein kleines Problem sind. Vor allem das sind Wähler, die aktiv Repräsentation wollten, bei Nichtwählern können wir nicht sagen warum sie nicht gewählt haben und wie sie gewählt hätten.

Außerdem kann es ja genau so gut sein, dass diese Nichtwähler das Wählen einer kleinen Partei als Zeitverschwendung sehen und sie sich nicht von den über-5%-Parteien vertreten fühlen.

Also gerade wenn man gegen Nichtwähler vorgehen möchte, sollte man für die Abschaffung der 5% Hürde sein.

Das ist jetzt aber etwas zu Off Topic.

Kann man schon - darum geht es ja gerade etwa in dem verlinkten Podcast.

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Hallo liebes Lage-Team,

mich haben in den letzten Tagen mehrere Nachrichten und Insta-Posts (u.a. von der Bildungsstätte Anne Frank) erreicht, die suggerieren, dass man mit dem stategischen Setzen der Erststimme „CDU und AfD im Bundestag“ verhinden könne. Dabei wird oft der Link zu Erststimme | zweitstimme.org gegeben, um die „richtige“ Partei mit der Erststimme zu wählen, um das Direktmandat von CDU und AfD zu verhindern. Ich habe den Eindruck, dass viel Unwissen bezüglich der zwei Wahlstimmen herrscht. Angesichts der baldigen Bundestagswahl wäre es gut, wenn ihr vielleicht nochmal kurz darauf eingeht, was wirklich mit Erst- und Zweitstimme zu erreichen ist.

Liebe Grüße!

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Ich gebe jetzt mal den stand wieder, den ich als juristischer Laie nach längerer Lektüre gewonnen habe - ohne Gewähr: Wirklich relevant für die Sitzverteilung ist die Erststimme nach dem neuen Wahlrecht nur noch bei der sogenannten Grundmandatsklausel - also für eine Partei, die weniger als 5 Prozent der Zweitstimmen erhält, aber mindestens drei Direktmandate (oder technisch gesehen die Erststimmenmehrheit in mind. drei Wahlkreisen) erlangt und dadurch trotzdem in den Bundestag einzieht - das könnte etwa bei der LINKEN der Fall sein.
Ansonsten gibt es im Unterschied zu früheren Bundestagswahlen keine sogenannten Überhangs- und Ausgleichsmandate mehr. Das heißt über die Sitzverteilung entscheiden allen die Zweitstimmen. Die Erststimmen haben nur eine Auswirkung darauf, welche Personen die Sitze einnehmen, die einer Partei zustehen - also ob das Direktkandidaten sind oder Kandidaten von den Landeslisten. Dabei wird es auch Wahlkreise geben, die gar keinen Direktkandidaten haben, da die Zahl der Mandate auf 630 gedeckelt ist.

Interessant an den Daten auf der genannten Website zweitstimme.org ist, dass sie sich zum Teil erheblich von den anderen Wahlkreisprognosen unterscheiden, die ich kenne, etwa bei election.de oder von INSA. So liegt der Seite zufolge z. B. in Berlin-Lichtenberg laut zweitstimme.org die LINKE knapp vorn, bei den anderen beiden aber die AfD. Allerdings wird auch transparent gemacht, dass es sich nur um eine Modellrechnung handelt und es keine Umfragedaten speziell aus den Wahlkreisen gibt. Aber das dürfte für die Konkurrenz auch gelten. Was diese Daten angeht, ist Deutschland etwa gegenüber den USA leider immer noch arg im Hintertreffen.

Wenn es allerdings keine genauen Daten gibt - wenn ich also beispielsweise nicht weiß, ob in meinem Wahlkreis die Kandidaten von CDU und Grünen in den Umfragen 0,1% oder 5% auseinanderliegen - habe ich auch nicht wirklich eine Grundlage um „strategisch“ zu wählen. Dann bleibt letztlich nur der Grundsatz: Wähle die Partei, die du lieber möchtest als andere. Und wie schon mehrfach gesagt, kann man das gerne „taktisch“ oder „strategisch“ nennen, wenn man sich damit besser fühlt, aber wie sinnvoll das ist, steht auf einem anderen Blatt.

Ergänzung: Ich habe jetzt auch einen Post gesehen, der auf die Seite verlinkt und in dem ein direkter Vergleich zur Nationalratswahl in Frankreich gezogen wird. Die Unterschiede im Wahlsystem werden zwar erwähnt, aber die indirekte Forderung lautet trotzdem, die „demokratischen Parteien“ sollten sich zum Nachteil der AfD bei der Aufstellung ihrer Direktkandidaten absprechen. Dass dies keinerlei Einfluss darauf hätte, wie viele AfD-Abgeordnete im nächsten Bundestag sitzen werden, scheint aber dennoch nicht angekommen zu sein.

Ja, die können halt alle nur würfeln, also aus verschiedenen vorhandenen und viel großflächigeren Informationen etwas neues zusammeninterpretieren. Ich halte das entsprechend für nicht sonderlich belastbar.

Aus unserem hiesigen Verständnis ist das was da passiert auch eine mittlere Katastrophe (Parteizugehörigkeit als öffentlich verfügbare Information? Einzeladress-scharfe Zuschneidung von Wahlkreisen auf dieser Basis?). Umgekehrt halten die Amis das Konzept eines Einwohnermeldeamtes für nahezu faschistisch…

Für die Linke war vieles aussichtslos diese Wahl. Beziehungsweise würde ich mir manchmal wünschen eine persönliche Meinung nicht derart vehement als Tatsache zu vertreten.

Das Attribut „nahezu aussichtslos“ war ja eben nicht meine „persönliche Meinung“, wie du unterstellst, sondern eine verbale Beschreibung der damals prognostizierten Gewinnchance von 38%. Die Aussage ist allerdings 18 Tage alt - als die Umfragewerte für die LINKE noch ganz anders aussahen und auf diesen Stand habe ich mit dem Wort „derzeit“ auch deutlich verwiesen.
Ich gebe gerne zu, dass ich ein so starkes „Momentum“ der Linken nicht schon vor knapp drei Wochen vorhergesehen habe. Die Umfragen der letzten 3-4 Tage haben es in der Stärker hervorgesehen, bei den Prognosen für die einzelnen Wahlkreise war das sehr unterschiedlich, vermutlich weil die Datengrundlage nicht die Beste war und die Modelle recht träge. Dass aber die LINKE allein in Berlin 4 Direktmandate holt, hat m. E. kein einziges dieser Modelle vorhergesagt.

Auch unabhängig von der LINKEN gibt es m. E. einige überraschende Wahlkreisergebisse - da wird es sicherlich noch einige Diskussion über diese Prognosen geben, während die allgemeinen Wahlumfragen der letzten Tage ja erstaunlich nah dran waren.

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