Russland, die NATO und der Ukraine-Konflikt

Dann haben wir tatsächlich etwas aneinander vorbei geredet. Es gibt ja im Völkerrecht schon eine Unterscheidung zwischen binding und non-binding agreements. Darauf wollte ich hinaus. Du hast aber natürlich recht, dass es im internationalen System keine übergeordnete Instanz gibt, die einen Vertragsbruch zwischen zwei Staaten im Zweifel ahnden könnte.

@DanK ich wollte von dem hinweis eigentlich absehen, aber es passt grad gut zu deinem austausch mit @laotuzi

in der westlichen presse wurde gemeinhein das wording verwendet, dass die usa aus dem vertrag ausgestiegen seien. tatsächlich haben die usa den vertrag gebrochen (quelle stefan schulz, aufwachen podcast). schon frappierend dass ein bruch dermaßen geframed wird.

Dann stellt sich natürlich die Frage, warum Staaten überhaupt Verträge abschließen sollten, wenn sich dann niemand daran gebunden fühlt. Das erklärt vielleicht auch die Probleme, die wir gerade in der EU haben. Polen und Ungarn haben zwar irgendwelche Papiere unterzeichnet, aber das macht nichts. Verträge sind nicht bindend. Jeder darf tun was er will. Die eigene Interessen gehen vor.

Im Hinblick auf die nicht schriftlich fixierte Zusage der amerikanischen und der deutschen Regierung, keine Osterweiterung der NATO zu betreiben, sehe ich natürlich auch, dass man diese Entwicklung nicht mehr rückgängig machen kann. Das wäre Verrat an den osteuropäischen Mitgliedern der NATO. Die Osterweiterung ist aber nicht die einzige Maßnahme des Westens in den letzten drei Jahrzehnten, die Bedrohungsängste in Russland ausgelöst hat. Die Stationierung von Abwehrraketen gehört beispielsweise auch dazu. Deswegen wird es aus meiner Sicht darauf ankommen, wie man in gemeinsamen Gesprächen (Normandie-Format?) Bedrohungen auf beiden Seiten deutlich reduzieren kann. Dazu zählt natürlich auch das russische Drohverhalten in der Ostukraine. Letztlich sollten sich beide Seiten von ihren Maximalforderungen verabschieden und einen Kompromiss aushandeln, der die ständige Kriegsgefahr beseitigt.
Mich ärgert, dass die russische Sichtweise dieses Konfliktes in der deutschen veröffentlichen Meinung kaum eine Rolle spielt und der „schwarze Peter“ grundsätzlich Russland und Präsident Putin zugeschoben wird, obwohl USA, NATO und EU in den vergangenen 30 Jahren auch dicke Fehler gemacht und mit dazu beigetragen haben, dass die Lage heute so eskaliert ist. Das wird in den deutschen Medien leider nur vereinzelt reflektiert. Und diese Kritik richte ich auch an die letzte reguläre Ausgabe der „Lage“, die aus meiner Sicht die Situation sehr einseitig bewertet hat.
Wohin diese sicherheitspolitischen Fehler des Westens geführt haben, kann man in diesen Tagen sehr gut beobachten. Russland und und China rücken politisch und militärisch näher zusammen und bilden ganz offensichtlich einen starken antiwestlichen Block, der vermutlich auch für viele andere Staaten attraktiv werden wird. Hätte man in den 1990er und 2000er Jahren damit begonnen, in Europa ein gemeinsames System der kollektiven Sicherheit unter der Beteiligung Russlands zu schaffen, dann sähe die Lage heute wahrscheinlich anders aus. Gorbatschow hat damals von einem „gemeinsamen europäischen Haus“ gesprochen und Putin hat sich bei seiner Rede im Deutschen Bundestag und zuletzt im Jahre 2007 auf der Münchener Sicherheitskonferenz sehr positiv zu diesen Überlegungen geäußert. Leider ist im Westen niemand ernsthaft auf diese Gesprächsbereitschaft der russischen Seite eingegangen. Seither haben in Russland offensichtlich die „Falken“ in der Außenpolitik das Sagen, die durchaus ein Interesse daran haben, den Konflikt latent am Leben zu erhalten.

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Das ist eine falsche Gleichwertigkeit. Nur weil es zwei Meinungen gibt, sind die nicht beide gleich zu Gewichten.

Wann hat die NATO einen Teil eines souveränen, demokratischen Staates überfallen und annektiert? Wann hat die NATO Teile eines souveränen, demokratischen Staates durch einen Stellvertreterkrieg unbewohnbar gemacht? Wann hat die NATO mit dem Aufstellen einer Invasionsstreitmacht an der Grenze eines souveränen, demokratischen Staates versucht, diplomatische Erfolge zu erzwingen?

Kurzum: die russische Perspektive ist angesichts der Faktenlage einfach eine ganz offensichtliche Verdrehung der Tatsachen. Putin könnte morgen seine Truppen abziehen, aufhören Andersdenkende wegzusperren und freie Wahlen zulassen. Tut er aber nicht. Ergo ist er der schwarze Peter, selbst schuld.

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Natürlich wird Russland die „demokratisch“ Gewichtung weniger stark setzen. Und die Ukraine als „demokratischen Staat“ zu bezeichnen halte ich auch für ziemlich mutig.

auf die Organisation NATO treffen diese Vorwürfe nicht zu, aber viele der NATO mitglieder sind laufend in kriege involviert. Engländer, Franzosen, Amerikaner etc. dazu zähle ich zb in syrien, libyen, afghanistan, irak, mali usw.
weil das lable NATO bezogen auf diese Konfilt de facto falsch ist, kann man nicht konstatieren, dass die wichtigsten NATO mitglieder konfliktscheue zeitgenossen sind.

Inwieweit ein autokratisches Regime die Regierungsform Demokratie wertschätzt, sollte keinen Einfluss auf unser Handeln haben. Unsere Meinung (Demokratie ist wertvoll) ist da einfach die bessere, ohne Diskussion.

Und für die Behauptung, die Ukraine sei keine Demokratie bräuchte es dann schon Belege.

Also halten wir fest: auf die NATO treffen diese Vorwürfe nicht zu, dennoch ist die russische Argumentation, dass sie sich von der NATO bedroht fühlen.

Und was die von ihnen aufgezählten „Kriege“ angeht, sind die ja nun nichtmal ansatzweise mit der Situation in der Ukraine zu vergleichen.

Syrien: ein Diktator der auf sein eigenes Volk schießt und ein Machtvakuum hinterlässt, welches nach kurzer Zeit eine Horde der barbarischsten Islamisten füllt, die die moderne Welt je gesehen hat.

Libyen: ein Diktator der auf sein eigenes Volk schießt und ein Machtvakuum hinterlässt, welches von Milizen und Islamisten gefüllt wird und einen Failed State hinterlässt.

Afghanistan: Hort des internationalen Terrorismus ohne nennenswerte staatliche Strukturen, in dem auch schon ihre Lieblingsnation versucht hat, für Ordnung zu sorgen.

Irak: Ein expansiver Diktator, der einen Nachbarstaat militärisch überfallen hat.

Mali: Failed state in dem Milizen und islamisten mit der Zentralregierung um die Kontrolle kämpfen.

Sicherlich kann man bei jedem dieser Einsätze drüber streiten, ob er politisch richtig oder sinnvoll war. Aber allesamt haben sie eine vollkommen andere Qualität als der unprovozierte Überfall auf ein souveränes, demokratisches Land mitten in Europa. Das müssen Sie doch sehen!

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Wieso sollte ein autokratisches System auf unsere Meinung dann etwas geben?

Allzu große Unterschiede gibt es da wohl nicht, wie bei vielen der ex-UdSSR Staaten.

mir ging es darum zu verdeutlichen, dass man aus nicht-westlicher perspektive die NATO aufgrund ihrer mitglieder als gefahr wahrnehmen kann. im falle eines konflikts ist es russland egal, ob die westlichen truppen im NATO trikot oder in nationalfarben auflaufen.
übrigens ist das NATO Oberkommando per Definition immer in US hand.

Tut es ja offensichtlich nicht, aber deswegen müssen wir doch kein Verständnis für diese Sichtweise aufbringen. Das hatten Sie ja angedeutet.

Und in Ihrem Interview sehe ich nichts, was ihren Standpunkt stützt. Gibt es Altlasten aus Sowjetzeiten (Korruption, Oligarchen)? Scheinbar. Aber an der Freiheit der Wahl gibt es wohl keinen Zweifel.

Wir müssen kein Verständnis in dem Sinne haben, dass wir das legitimieren, aber wir müssen es verstehen, sonst können wir keine sinnvollen Strategien entwerfen.

Russland hat Interessen, ob wir die für legitim halten oder nicht und es hat Machtmittel, um diese Interessen umzusetzen. Wenn wir eine Invasion der Ukraine verhindern wollen, dann müssen wir uns darüber klar werden, was Russland damit bezwecken möchte. Dann können wir uns überlegen, wie wichtig Russland das ist, ergo wie hoch muss man den Preis treiben, damit Russland von seinem Vorgehen abrückt und was kann man Russland als für Russland valide Alternative anbieten.

Natürlich ist es unschön, mit einem Regime zu verhandeln, das unsere moralischen Vorstellungen --freundlich formuliert-- nicht teilt, aber die Existenz Russlands ist ein Faktum und wir müssen damit umgehen. Dazu reicht es nicht, herauszustellen, dass man es verwerflich findet, was Russland tut, man muss „Verständnis“ für die Motivation entwickeln, sonst agiert man blind.

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Dagegen sage ich ja auch gar nichts. Aber eben um den Preis in die Höhe zu treiben, müssen wir die Ukraine militärisch unterstützen. Die Argumentation auf die ich antwortete war ja, dass wir eben keine Waffen liefern sollten, weil die Russen ja auch eine legitime Position hätten. Und das halte ich für falsch.

Dem Kevin zu erklären, wie es in Osteuropa zugeht, ist ungefähr so wie mit einer Taube Schachspielen. Er weiß halt wirklich gar nichts über diesen Konflikt, das hat er diese Woche und eben bei Anne Will mal wieder in aller Öffentlichkeit bewiesen. Man hatte auch das Gefühl, dass es ihm prinzipiell wirklich total egal ist, solange er seine Politik-Narration vortragen darf. Immerhin haben sie auch Anne Applebaum eingeladen.

Was mich auch nervt, sind diese eingeübten Friedensformeln. So wie sie auch Annalena Baerbock in Moskau vorgetragen hat: Wer mit einander spricht, schießt nicht aufeinander. Dahinter steckt ja immer die krause Vermutung (um es mal genauso dünn zu formulieren), dass zu „einem Streit immer zwei gehören“ und dass „die Wahrheit irgendwo in der Mitte liegt“. Das Gegenteil ist gerade an der russisch-ukrainischen Grenze der Fall: Ein wesentlich größeres Land bedroht ein kleineres Land mit derzeit etwa 130.000 zusammengezogenen Soldaten und entsprechenden hochmodernen Kriegsmaterial. Die Frage ist nicht, wie man einen Krieg verhindern kann, denn den gibt es ja schon zweifach: In der Ostukraine, ganz reell mit 14.000 Toten in den vergangenen acht Jahren, und an der ukrainischen Ost- und Nordgrenze in Form eines hybriden Szenarios, dass durch die faktische Kriegsdrohung seitens Russlands schon Realität ist. Es geht jetzt darum, wie man diesen wesentlich stärkeren Staat dazu bekommt, dem wesentlich kleineren Staat nicht ständig das Messer an die Kehle zu halten. Und mittelbar müssen wir auch mal darüber reden, warum so viele angeblich fortschrittlich denkende Menschen im Westen glauben, dass der wesentlich größere Staat wohl schon gute Gründe dafür habe, dem kleineren Staat die Klinge an die Gurgel zu drücken.

Wir wissen derzeit nicht, ob Russland wirklich die Ukraine überfallen würde. Die ukrainische Regierung hält die jüngsten Szenarien, die in westlichen Geheimdiensten kursieren, für „übertrieben“ oder gar für „Panikmache“. Allerdings gibt es für solche Dementi seitens der Ukraine auch gute Gründe: Würde die Regierung nämlich eine Invasion als wahrscheinlich erachten, würde dies nicht nur Auswirkungen auf die eigene Volkswirtschaft haben (wer investiert in ein Land, das morgen im Krieg versinken könnte?). Gleichzeitig würde auch die Angst vor den Folgen einer Invasion steigen, inklusive von kleineren, aber signifikanten Fluchtbewegungen - und genau das könnte eines der Ziele einer reinen Bedrohungsstrategie seitens Russlands sein.

Für viele Menschen in Deutschland ist der Gedanke immer noch zu verlockend, dass Putin nur blufft. Viele verstehen nicht, dass dies schon längst nicht mehr der Fall ist: Der Truppenaufmarsch hat schon längst sehr reelle Folgen für die Ukraine, sowohl gesellschaftlich als auch politisch. In hybriden Kriegen müssen nicht immer Panzer rollen, es reicht schon, wenn sie an der Grenze stehen und rollen könnten. Die Drohung ist deswegen real, weil sie auch tatsächlich umgesetzt werden könnte. Die Möglichkeit der reellen Gewaltanwendung ist entscheidend. Ansonsten würde der hybride Krieg nicht funktionieren. Stellen wir uns das ruhig wie in einem Gangster-Film vor: Wenn jemand zur Drohung eine Waffe auf den Kneipen-Tisch legt, dann funktioniert die Einschüchterungsstrategie so lange, wie jeder der Beteiligten die Waffe für echt hält. Sobald aber klar wird, dass die Waffe in Wahrheit eine Wasserpistole aus Plastik ist, fällt die als lächerlich enttarnte Bedrohung auf den Gangster selbst zurück.

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vlt hab ich es überlesen aber diese argumentation hat hier niemand gemacht.
wenn es darum geht „den preis in die höhe zu treiben“ funktioniert das über wirtschaftliche hebel deutlich effektiver. die nato länder haben klar gemacht, dass sie militärisch bei einem angriff nicht intervenieren. damit ist die urkaine, aufgrund der deutlichen militärischen unterlegenheit, russland ausgeliefert. will man russland von einem angriff abbringen, dann über den geldbeutel und nicht waffenlieferung, die den krieg vlt über tage oder wochen verlängern. man muss sich schon deutlich machen, wie immens unterschiedlich die militärischen kapazitäten beider kontrahenten sind

Also „demokratisch“ war die Bundesrepublik Jugoslawien nicht - obwohl ich nicht weiß, was das zur Sache tut. Souverän war sie in jedem Fall. Der aus dieser Sicht ironisch benannte Kosovo-Krieg war im Prinzip ein Überfall auf Serbien und Kosovo wurde zwar nicht annektiert, aber irgendwie ist es unter der NATO-Besatzung in die (teilanerkannte) Unabhängigkeit ausgebüchst, also eigentlich genauso wie im Fall der Autonomen Republik Krim. Man sollte auch darauf hinweisen, dass dieser Entzug im Fall der Krim letztlich durch einen Zusammenbruch der Verfassungsordnung innerhalb der Ukraine auf den Weg gekommen ist, weil der 2010 wohl nach allgemeiner Einschätzung tatsächlich demokratisch gewählte Präsident durch eine Revolution entfernt wurde.

Ich nehme an das bezieht sich auf die Separatistengebiete im Donezbecken. Also da leben Menschen, so drei Millionen meine ich. Aber ich würde sagen, mit dem Standard: Der andere Krieg der NATO, Afghanistan. Wiederum kein „demokratischer“ aber ein souveräner Staat, wo diverse Regionen und Städte von einem Stellvertreterkrieg zwischen der afghanischen Armee und den Taliban betroffen waren.

Kosovo-Krieg. Mit der Einschränkung von oben und der zusätzlichen Einschränkung, da in diesem Fall die Luftkriegsführung ein großes Gewicht hatte, waren es vorallem entsprechende Übungen und Vorbereitungen, die von der NATO begleitend zu den Forderungen und Verhandlungen diverser NATO-Länder mit der Bundesrepublik durchgeführt wurden.

Beispiel: NATO Press Release (98)80

Ein Unterschied: Die NATO sagt hier sehr klar, dass man die eigene Luftmacht demonstrieren will, im Zusammenhang damit, dass man Teil der Antwort der internationalen Gemeinschaft ist. Russland behauptet dagegen, es würde der Ukraine nicht mit einem Angriff drohen und die Verhandlungen gibt es eigentlich hauptsächlich, weil der Westen darauf besteht, dass sie es doch tun.

Also ich sehe anhand der Beispiele vorallem, dass militärische Interventionen mit katastrophalen Folgen für die betroffenen Länder, wenn es sich dabei nicht um ein „demokratisches Land“ handelt, offenbar Petitessen sind, gegenüber der unerklärten Drohung einer Intervention in einem - sind wir ehrlich - europäischen Land.

Ich bin mir nicht sicher, dass man das so pauschal sagen kann. Die Sowjets waren Afghanistan in einem viel größeren Maße militärisch überlegen, die Amerikaner den Vietcong ebenfalls. Man kann einwerfen, dass das die meiste Zeit asymmetrische Konflikte waren, aber auch mit einer solchen Entwicklung muss Russland rechnen.

Und selbst in einer symmetrischen Konfrontation, Russland hat schätzungsweise 130000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen, die Ukraine selbst hat ein Militär von 200000 Soldaten plus noch einmal 900000 Reservisten. Russland ist technisch mit Sicherheit deutlich überlegen und wenn Russland alles daran setzt, werden die ukrainischen Streitkräfte die Russen nicht aufhalten, aber das Kräfteverhältnis scheint mir schon nicht so zu sein, dass Putin mal eben den Daumen nach unten dreht und schon steht die russische Armee in Kiew.

im unterschied zu kriegen wie in afghanistan oder vietnam gibt es in der ukraine keine geographischen gegebenheiten, die den technischen vorteil der angreifer nullifizieren. der dschungel und tunnelsysteme haben amerikanische luftangriffe verpuffen lassen, panzer waren schwierig einzusetzen. in afghanistan kämpfte man gegen ein „bergvolk“, das luftangriffen und panzern gut entgehen konnte.

Sollte Russland die Ukraine angreifen, wovon ich nicht ausgehe, wären sie zb ob der schieren luftüberlegenheit in der lage die Urkaine so lange zu bombardieren, bis kein stein mehr auf dem anderen steht. die ukraine könnte nicht dagegen unternehmen. dass nach der invasion noch lange partisanenkämpfe stattfänden ist klar. der eigentliche krieg würde keine zwei wochen dauern.