Russland, die NATO und der Ukraine-Konflikt

Naja, aus Sicht Russlands geht es primär darum, ob die Ukraine irgendwann mal in der Zukunft theoretisch ein Mitglied der NATO werden könnte. Momentan steht das nämlich aus offensichtlichen Gründen nicht auf der Agenda.
Und selbst wenn das anders wäre: Ein eventueller zukünftiger Beitritt der Ukraine zur NATO (der wie gesagt momentan nicht konkret ansteht) kann kein Grund für militärische Angriffe sein, der als legitim zu akzeptieren ist. Natürlich muss man diplomatisch klug und vorsichtig agieren, auch was eine eventuelle NATO-Erweiterung betrifft, aber Russland kann der Ukraine nicht einfach befehlen, wie sie sich sicherheitspolitisch ausrichten sollen.

Die habe ich tatsächlich übersehen. Da handelt es sich erstens um ein kleines, wirtschaftlich und militärisch schwaches Land und zweitens um keinen direkten Nachbarn Russlands. Aber gut, streng genommen zählt das unter Osterweiterung.
Trotzdem ändert das nichts an den Zitaten von Gorbatschov und Putin (siehe Beitrag oben), die beide der Rechtmäßigkeit und Legitimität einer NATO-Osterweiterung zustimmten.

Rechtsextreme werden von nationalistischen Regierungen gerne als paramilitärische Kräfte eingesetzt. Insofern muss man natürlich zugestehen, dass auch Russland seinerseits in diesem Umfeld für den Krieg im Donbass rekrutiert hat. Ein bekanntes Beispiel ist die Beteiligung der Partei „Das andere Russland“:

en.wikipedia.org

The Other Russia of E. V. Limonov

The Other Russia of E. V. Limonov (Russian: Другая Россия Э. В. Лимонова, romanized: Drugáya Rossíya E. V. Limónova), formerly The Other Russia (Russian: Другая Россия, romanized: Drugáya Rossíya), is a non-registered Russian political party founded on July 10, 2010 by Eduard Limonov. The Other Russia was reorganized in September 2020, and The Other Russia changed the party’s name to „The Other Russia of E. V. Limonov“, to honor their deceased founder, who had died the same year. The Other Russ…

Wobei ich bei dem Fall nicht weiß, ob es auch Hinweise auf eine Unterstützung spezifisch für diese Aktivitäten durch russische Dienste gibt.

Etwas merkwürdig, warum sollte das keine Frage sein, die sich im Rahmen der Möglichkeiten der historischen Forschung beantworten lässt - und meines Erachtens auch klar beantwortet wurde.

Also Russland geht es letztlich nicht wirklich um die NATO als solche, es geht um die NATO-Länder als Operationsraum der USA. Was russische militärische Planer umtreibt ist sowas wie die Ausweitung von strategischen Elementen, wie die Raketenabwehrsysteme, die bereits in Osteuropa stationiert werden und die die Abschreckung russischer Kernwaffen oder Operationsfähigkeit anderer Raketenwaffen beeinträchtigen. Auch die Möglichkeit, dass die russischen Grenzstaaten mit US-Hilfe aufgerüstet werden oder sogar direkt US-Truppen dort stationiert werden, was wiederum eine Verstärkung der Grenzen auf russischer Seite erfordern und mehr Ressourcen binden würde. Und natürlich muss die Ukraine nicht in der NATO sein, um diese Rolle zu spielen. Intensivierte bilaterale Beziehungen zur USA, auch die Einflussoperationen der Vergangenheit, sowie die gegenwärtige Militärhilfe für die Ukraine, erfüllen für Russland ebenso das Bedrohungsszenario.

Man sollte sich auch klar machen, gerade die Militärs der Großmächte kalkulieren mit einer deutlichen Destabilisierung des Weltlage in der nahen Zukunft.

Was irgendwer, irgendwann gesagt hat, ist ziemlich egal. Was man selbst oder ein Vorgänger unterschrieben hat, ist schon relevanter. Aber bei dieser Frage ist einfach klar, dass die dominierenden, politischen Kräfte in Russland immer gegen die NATO-Osterweiterung waren, selbst wenn russische Politiker sie zu unterschiedlichen Zeiten als Fakt akzeptiert haben.

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Vielleicht wäre hilfreich, der NATO zu zeigen, dass man an einer internationalen Zusammenarbeit interessiert ist, indem man die Sanktionen gegen internationale Medien aufhebt.
Die NATO wäre dann in Zugzwang dieses Friedensangebot entsprechend zu würdigen.

Ich fand die Formulierung so interessant, weil sie zum Thema Moral von Waffenlieferungen eigentlich immer genau umgekehrt geht, wie du bestimmt weißt. Man kennts: Waffen töten, wer sie liefert beteiligt sich, usw. Tatsächlich werden die Waffenlieferungen ja u.a. explizit mit dem Ziel gefordert, potentielle Verluste zu maximieren! (Was von anderen gerne mal verklausuliert „militärischer Preis“ genannt wird, sind nämlich tote Menschen. Kann man ruhig auch mal so nennen)

Exactly. Gegenwärtig gibt es sogar noch Gespräche zur Vermittlung. Nun die Anschlussfrage, was meinst du hilft der Ukraine mehr gegen die enorme russische Übermacht: Ein paar alte Haubitzen oder das Beibehalten der Verhandlungen? Denn sobald der Vermittler eine der Konfliktparteien zwischen denen er vermittelt mit Waffen beliefert, untergräbt das wohl seine Rolle.

Das kann ich irgendwie nicht einordnen. Die Ursprungsforderung ist ja, es dem aktuell militärischen „Favoriten“ Russland möglichst schwer zu machen. Wenn Waffenlieferungen auf irgendetwas gerade nicht hinarbeiten, dann ist es ein möglichst kurzer Konflikt mit klarem Sieger.

Ich freue mich aber insgesamt zu lesen, dass auch du die zunehmende Kriegsgefahr bedauerst. Ich gebe auch gern zu, dass ich da mit meinem „Idealismus“ etwas alleine stehe, und Deutschland sich dazu enorm widersprüchlich verhält. Seit Jahren exportieren wir eifrigst Waffen in alle Welt - entgegen aller Beteuerungen natürlich auch in Krisengebiete. Und ausgerechnet jetzt fällt Berlin auf, dass Waffen ja womöglich auch eingesetzt werden könnten, hachje. Reichlich unglaubwürdig.

Mich würde auch interessieren, was die Situation der Ukraine deiner Meinung nach von anderen Waffenempfängern unterscheidet. Ist es das hier klare Verhältnis von Verteidiger-Aggressor?

Deutschland ist kein neutraler Vermittler.
Viele Deutsche sehen sich wohl gerne wie die Schweiz: Neutral und sich aus dem internationalen sicherheitspolitischen Theater weitgehend raushaltend. Das ist nur einfach völlige Realitätsverweigerung. Deutschland war die letzten 150 Jahre weder neutral, noch sicherheitspolitisch zurückhaltend und ist es auch jetzt nicht. Als EU- und NATO-Mitglied und als kapitalistische Demokratie sind wir in diesem Konflikt eindeutig positioniert.
Daraus folgt noch nicht zwangsläufig irgendetwas in Bezug auf Waffenlieferungen, aber die Rolle des neutralen Vermittlers, in der sich Deutschland gerne sieht, ist einfach realitätsfern.

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Ich stimme Makiolla zu.

Bin ebenfalls der Meinung, dass wir uns im Ukrainekonflikt viel zu viel mit teilweise falschen Fragen beschäftigen - so auch die letzte Lage. Sollen wir Waffen liefern? Welche Sanktionen sollen wir verhängen?

Was wir brauchen ist eine diplomatische Lösung, wenn wir einen Krieg verhindern wollen.
Und was gehört zu einer diplomatischen Lösung hinzu? Ein Kompromiss. Russland hat Forderungen gestellt und diesen sollte man Gegenforderungen gegenüber stellen um sich dann in der Mitte treffen zu können. Wenn die Ausweitung der NATO nach Osten ein Teil des Problems ist, dann gilt es genau darüber zu verhandeln.

Wollte ich auch so überhaupt nicht behaupten. Es finden jedenfalls Gespräche statt, und Deutschland nimmt dabei scheinbar eine derartige Rolle ein. Das Wording hab ich einfach von der Tagesschau übernommen. Wenn dir der Begriff zu Verantwortungsscheu ist, ersetze ihn eben durch „Organisator“ o.ä.
Jedenfalls ist das ein offener Gesprächskanal der sich bei Waffenlieferungen (von entsprechender Relevanz) schließen könnte.

Wenn du die Frage so stellst, dann sind es natürlich die Verhandlungen. Ich finde aber deine Prämisse (und die von @mimamoe) falsch. Verhandlungen/eine diplomatische Lösung und Waffenlieferungen/Drohungen mit Sanktionen schließen sich nicht aus. Das sieht man ja schon alleine daran, dass auch die Briten und insbesondere die US-Amerikaner mit Russland verhandeln, obwohl beide Staaten Waffen liefern.

Und ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Macht (wirtschaftliche und militärische) ist essenziell für erfolgreiche Verhandlungen mit Russland. Denn tatsächlich ist es doch so: Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten sind aktuell nur Zuschauer und haben letztendlich nichts zu melden. Und das liegt daran, dass Europa keine ausreichende Macht besitzt–weder militärisch noch wirtschaftlich. Der desolate Zustand der europäischen Streitkräfte bedarf keiner weiteren Erläuterung. Wirtschaftlich gibt es natürlich Hebel, aber die sind auch nicht wirklich glaubhaft. Denn wenn wir den Russen kein Gas mehr abkaufen, wird es eben schnell kalt bei uns Zuhause.

Somit verwundert es dann auch nicht, dass Russland eigentlich nur mit den USA verhandeln möchte – Europa hat sowieso keinen Einfluss.

Natürlich wäre eine diplomatische Lösung wünschenswert. Aber internationale Politik funktioniert nach anderen Regeln als Innenpolitik oder Konfliktlösung in der Schule. Letztendlich gilt das Recht des Stärkeren–das bedeutet nicht, dass internationales Recht oder Normen irrelevant sind. Aber es bedeutet, dass Staaten ihre Ziele auch immer mit militärischer Gewalt durchsetzen können, wenn sie niemand daran hindert. Und eine Weltpolizei gibt es nicht.

Ich vergleiche das immer mit einem Nachbarschaftsstreit: Nachbar A beschuldigt Nachbar B, dass dieser unrechtmäßig den Zaun um einen Meter verschoben habe. Nachbar B bestreitet dies und beruft sich auf die alten Grundstücksgrenzen von vor 30 Jahren. In einer optimalen Welt würde man sich die alten Dokumente anschauen, feststellen, dass Nachbar B nicht ganz unrecht hat, aber Nachbar A dann seinen geblieben Apfelbaum verlieren würde. Am Ende könnte man sich vielleicht darauf einigen, den Zaun nur um 50cm zu versetzen. Es gibt ja auch sicherlich Gesetze und etablierte Verfahren für solche Streitigkeiten.

Internationale Politik ist aber nicht diese ideale Welt. Hier ist Nachbar A bis an die Zähne bewaffnet mit Panzern, Artillerie, automatischen Waffen etc. Nachbar A weiß ganz genau, dass er im Zweifel das Grundstück von Nachbar B dem Erdboden gleich machen und dann „annektieren“ kann, denn Nachbar B besitzt nur einen alten Revolver aus dem Jahr 1960. Und Nachbar B kann auch nicht die Polizei rufen, weil es keine gibt. Das ist ein ganz anderer Ausgangspunkt für Verhandlungen. Wenn Nachbar A weiß, dass er seine Ziele sowieso mit Gewalt erreichen kann, dann gibt es keinen Grund für ihn, einen Kompromiss einzugehen. Anders wäre es, wenn Nachbar B ähnlich stark bewaffnet wäre.

Fairer Punkt, wirkt etwas deplatziert. :smiley: Ich wollte hier eigentlich nur auf das gängige, pazifistische Argument eingehen, dass Krieg und Militär per se schlecht sind und Waffenlieferungen deshalb auch. Diese Ansicht teilen leider nicht alle Akteure in der internationalen Politik. Und wenn man das nicht anerkennt, dann kann es einem am Ende so wie Nachbar B im Beispiel oben ergehen.

Genau. Aber auch sonst ist das Thema nicht so einfach, wie es normalerweise immer dargestellt wird. Es kann zum Beispiel auch Argumente für Waffenlieferungen in instabile Länder geben, etwa um das staatliche Gewaltmonopol dort zu stärken (ob das in der Praxis funktioniert, ist eine andere Frage). Aber das wäre jetzt wirklich offtopic.

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Jein. Die Geschichtswissenschaft kann natürlich rekonstruieren, was damals passiert ist. Zum Beispiel wurde ja klar herausgestellt, dass es damals Versprechungen von Genscher und Baker gab. Aber die Bewertung ist keine Frage für die Geschichtswissenschaft. Ob die NATO und die USA nun Wortbruch begangen haben oder nicht, das hängt etwa davon ab, welchen Stellenwert man mündlichen Versprechungen gibt. Sind nur schriftliche Vereinbarungen bindend oder auch mündliche? Man kann gut argumentieren, dass ein Verbot der Osterweiterung nicht vertraglich festgehalten wurde und damit nicht bindend war. Genauso kann man argumentieren, dass man Versprechen einhalten muss—einer Position, der man an anderer Stelle hingegen widersprechen könnte, etwa bei der Impfpflicht.

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Hallo,
die erfolgreiche Entspannungspolitik der 1970er Jahre hat gezeigt, dass es zur Lösung eines internationalen Konfliktes unbedingt erforderlich ist, sich in die Lage der anderen Seite hineinzuversetzen, um deren Erwartungshaltung und Position besser zu verstehen. Daraus können sich dann Ansatzpunkte für Kompromisse ergeben. Und ohne Kompromisse auf beiden Seiten wird es nicht gehen. Weder damals noch heute gibt es einen absolut bösen Akteur, der alles falsch macht, sondern beide Seiten haben haben Fehler gemacht, sind Fehleinschätzungen erlegen und haben ihren Beitrag zur Eskalation der Krise erbracht. Die Fehler Russlands erscheinen uns im Westen klar und deutlich. Unsere eigenen Fehler sind uns dagegen nicht so klar.
Wenn man den aktuellen Konflikt aus russischer Perspektive betrachtet, dann muss man feststellen, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Auflösung des Warschauer Paktes ein bis heute andauerndes machtpolitisches Trauma hinterlassen hat. Aus russischer Sicht haben damals die amerikanische und die deutsche Regierung Versprechungen im Hinblick auf eine Osterweiterung der NATO gemacht, die nicht eingehalten worden sind. Bis 2020 ist die NATO in fünf Schritten nach Osten hin erweitert worden. Und es besteht die erklärte Absicht, in Zukunft auch noch die Ukraine und Georgien aufzunehmen. Zusätzlich haben die USA Raketenabwehrwaffen in Rumänien. weitere sollen demnächst in Polen folgen.
Dass der Westen nicht nur Symbolpolitik betreibt, sondern auch richtige Kriege führen kann und somit eine reale Bedrohung darstellt, hat sich aus russischer Sicht in den vergangenen 30 Jahren beim völkerrechtswidrigen Angriff der NATO auf Serbien, beim Angriff der USA und ihrer Verbündeten auf den Irak und beim gewaltsamen Sturz des Gaddafi-Regimes in Libyen gezeigt. Auch die militärische Intervention des Westens in Afghanistan hat diese Sichtweise bestätigt. Und schließlich hat Aserbaidschan kürzlich mit Hilfe des NATO-Staates Türkei und des US-Verbündeten Israel dem russischen Bündnispartner Armenien eine empfindliche militärische Niederlage beigebracht. Insbesondere die westlichen Kriege im Irak, in Afghanistan und in Libyen haben unbestrittenermaßen ein sicherheitspolitisches Chaos in den betroffenen Weltregionen erzeugt, das kaum noch in Griff zu bekommen ist.
Und schließlich sollte auch nicht vergessen werden, dass sich die Ukraine bis heute weigert, wichtige Teile des Minsker Abkommens zur Lösung des Konfliktes in der Ostukraine umzusetzen.
Man muss diese russische Sichtweise nicht teilen. Sie ist sicherlich sehr einseitig. Aber man sollte sie ernst nehmen, weil sie sich durchaus mit Fakten belegen lässt. Aus diesem Grund sollte alles getan werden, um die aktuelle Situation nicht noch weiter zu eskalieren. Und man sollte im Gespräch bleiben.

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Fair Point zurück. Niemand kann bestreiten, dass (fehlende) wirtschaftliche und militärische Macht wirksame Verhandlungsmasse sind, da hast du Recht. Und ja, das schließt sich momentan noch nicht aus. Nur wie lange? Wird Moskau sich mit den - momentan nicht sehr erfolgreichen - Gesprächen dauerhaft beschäftigen lassen, und zusehen wie die Verteidigungsqualitäten der Ukraine peu à peu besser werden, ergo die eigene Überlegenheit schwindet? Eher nicht, oder? Ich weiß natürlich nicht wann, aber ab irgendeinem Punkt werden die Waffenlieferungen nicht mehr ignoriert werden. Und dann ist die diplomatische Option verspielt.
(Das alles unter der Annahme, dass Russland die Ukraine auch wirklich mit Waffengewalt nehmen will.)

Nun möchte ich dir sagen warum ich deine Prämisse für (teilweise) falsch halte, auch wenn das ein schöner Vergleich ist:). Zunächst einmal ist auch dein Szenario eine „ideale Welt“. Denn ja, Abschreckung kann durchaus funktionieren, aber das ist keineswegs garantiert.

Erstens muss die Abschreckung schon glaubwürdig sein. Wie du selbst ja richtigerweise sagst, die EU ist schwach und uneins, die wirtschaftlichen Drohungen sind hohl. Weder EU noch USA haben vor, der Ukraine direkt militärisch beizuspringen. Also was bleibt in der Hinsicht? Die Ukraine innerhalb kürzester Zeit auf russisches Niveau hochrüsten? Halte ich für aussichtslos, aber da lasse ich mich auch gern belehren.

Zweitens unterstellt das Prinzip Abschreckung eine gewisse Rationalität. Man müsse nur entsprechende Militärmacht zur Schau stellen, dann sieht der Feind schon ein, dass es so keinen Zweck hat. Um im Bild zu bleiben: Wenn B ebenfalls genug Panzer hat, bleibt der Zaun wo er ist und wir haben Ruhe. Aber ausgerechnet Rationalität werden wir doch nicht müde Putin abzusprechen. Gerade Autokraten ziehen auch aus völlig irrationalen Gründen in den Kampf, z.B. verletztes Ehrgefühl. Es kommt sogar manchmal vor, dass der Unterlegene den Stärkeren angreift. Und überhaupt steigt mit der Bedeutung des bedrohten Interesses oft auch die Opferbereitschaft.

Und nicht zuletzt muss die Kommunikation zwischen potentiellem Angreifer und Verteidiger trotzdem funktionieren, und beide Parteien sollten einander nicht in eine Lage manövrieren, in der als Ausweg nur noch die Eskalation bleibt. Vielleicht bist du ja besser informiert als ich, aber ich lese eigentlich nur was von ausgewiesenen Diplomaten, Putin droht, Biden droht zurück, usw. Momentan bezeichnen beide Seiten gefühlt alles als „unverhandelbar“.
Wenn das nicht gegeben ist, dann bedeuten mehr Waffen nicht Konfliktvermeidung, sondern einfach heftigere Eskalation.

Nun, es ist doch offensichtlich, dass sie nicht bindend sind. Sonst wäre es nicht zur NATO-Osterweiterung gekommen oder mit der Aufdeckung gäbe es plötzlich eine Handhabe sie rückabzuwickeln. Letztlich ist das nur eine Beschwerde darüber nicht fair behandelt oder getäuscht worden zu sein. Sind halt gebrochene oder nie ernst gemeinte Zusagen gewesen. Wie gesagt eine nebensächliche Frage.

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Lt.Spiegel-Artikel sind grosskalibrige Artillerie eindeutig eine Offensivwaffe:

Jedenfalls waren sie 2015 noch der Meinung …

Weil es zur Osterweiterung kam, können die Garantien nicht bindet gewesen sein? Folglich wären die Garantien dann bindend gewesen, wenn es keine Osterweiterung gegeben hätte? Das birgt ein wenig die Gefahr der Tautologie. Genauso könnte man ja zudem argumentieren, dass die Pflicht zum Kauf eines ÖPNV-Tickets nicht bindend sein kann, weil es ja genügend Menschen gibt, die ohne Ticket fahren. :wink:

Ich würde ja zustimmen, dass die Frage nebensächlich ist (Russland hat die ersten beiden Runden der Osterweiterung ja auch geschluckt), aber so einfach sollte man es sich dann doch nicht machen.

Als Faustformel gilt ja, dass der Angreifer den Verteidiger um den Wert 1,5–2 übertrumpfen muss, um die Offensive mit Sicherheit zu gewinnen. Russisches Niveau wäre also nicht erforderlich. Aber natürlich ist das im Hinblick auf die aktuelle Krise trotzdem illusorisch – war auch eher der Long View.

Ansonsten hast du natürlich einen Punkt: Abschreckung unterstellt ein gewisses Maß der Rationalität, dass nicht immer gegeben sein muss. Und sie muss auch glaubhaft sein. Letztendlich ist die Frage aber ja: Setzen wir auf Abschreckung – mit allen ihren Schwächen – oder auf gar keine Abschreckung? In Deutschland tendieren wir ja zu letzterem. Das sind jetzt alles Gedanken, die in der aktuellen Krise keine Relevanz haben – aber die Deutschland sich langfristig schon mal stellen sollte.

Glaubhaft halte ich die Abschreckung im Fall Ukraine übrigens schon. Natürlich nicht die militärische, aber die wirtschaftliche. NordStream 2 zumindest wird nicht in Betrieb gehen, wenn Russland einmarschiert – ob die Bundesregierung das will oder nicht. Washington wird Berlin schon klar zu verstehen gegeben haben, dass der Congress sonst Sanktionen gegen NordStream 2 erlassen wird. Putin hat zumindest schon mal einen Ausweg aus der Krise zurechtgelegt, ohne schwach aussehen zu müssen.

Auch die Kommunikation funktioniert doch hervorragend. Ständig sind russische und westliche Diplomat:innen in Kontakt. Blinken und Lavrov sprechen ständig, zuletzt am 2. Februar. Liz Truss reist demnächst nach Russland. Nicht die öffentlichen Auftritte mit Diplomatie verwechseln. Bei öffentlichen Auftritten geht es auch immer darum, nach innen (also in den Staat) zu kommunizieren, und da möchte natürlich niemand schwach aussehen. Es geht auch um die Rückversicherung nach außen; Polen und die baltischen Staaten wünschen sich eine harte Linie gegenüber Russland, das muss die US-Administration bei ihren Statements auch berücksichtigen. Es gibt schon einen Grund, warum Verhandlungen (auch Koalitionsverhandlungen!) am besten hinter verschlossenen Türen stattfinden. Da kann man einfach freier sprechen.

Was hinter verschlossenen Türen besprochen wird und ob das zielführend ist, weiß ich natürlich auch nicht. Aber die Verhandlungen über den Iran-Deal starteten auch im Geheimen, jahrelang bevor das überhaupt bekannt wurde. Am Ende stand ein sehr guter Deal, aus dem die Trump-Regierung dann leider ausgetreten ist. In der Öffentlichkeit wäre das vermutlich nicht möglich gewesen. Das bedeutet jetzt nicht, dass die USA und Russland gemeinsam einen Friedensvertrag für die Ukraine aushandeln. Aber es wird in einigen Aspekten (Rüstungskontrolle etwa) sicherlich konstruktiv zugehen.

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Sicherlich. Genau das bedeutet bindend. Hätten sich die NATO-Länder an gegebene Zusagen, die NATO nicht nach Osten zu erweitern, gebunden gefühlt, hätten sie davon abgesehen.

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Interessante Argumentation, nach der ein Vertragsbruch per se nicht möglich ist. Bei dieser merkwürdigen Logik klinke ich mich dann mal aus. :wink:

Sind Sie nicht langsam müde, immer wieder auf den angeblich gebrochenen Versprechen der Nato herum zu reiten?
Vielleicht war es für einige westliche Politiker 1990 noch gar nicht abzusehen, wie schnell die baltischen Staaten, Polen oder Rumänien, um mal drei zu nennen, sich um eine Nato Mitgliedschaft bemühen würden. Im weiser Voraussicht, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Russland keine Wurzeln schlagen und das Land früher oder später zu seiner traditionell aggressiven Außenpolitik zurückkehren wird.
Wäre die Ukraine nicht so lange von pro russischen Autokraten regiert worden und hätte es sich früher nach Westen orientiert, dann würde eventuell die Krim und das Donezkbecken noch unter ukrainischer Souveränität stehen.

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Ich hatte überlegt, ob ich dieses semantische Detail erwähnen soll. Da du darauf bestehst:

Streng genommen, wenn man vertraglich etwas zugesichert hat, und dann dagegen verstößt, war der Vertrag nicht bindend. In einer Rechtsordnung gibt es dann aber die Möglichkeit einer Sanktionierung durch eine übergeordnete Instanz, die über die Gewalt verfügt, die Bindung nachträglich zu erzwingen oder, falls nicht mehr möglich, kompensiert oder zumindestens bestraft. Aus Sicht dieser Instanz hätte der Vertrag bindend sein müssen. Defacto war er es nicht.

Das gibt es im Völkerrecht so nicht. Hätte die NATO also vertraglich zugesichert die Erweiterung auszuschließen und sich darüber hinweggesetzt, kann man sicherlich sagen, dass Russland die Erwartung haben konnte, dass sich die NATO durch den Vertrag gebunden fühlt. - In jedem Fall eine wesentlich höhere Erwartung als bei mündlichen Zusagen an Gorbatschow. Ich nehme an, daran hatten sie trotz des Beschwerens gar keine Erwartung. - Defacto wäre eine Bindung nicht gegeben.

Das ist eigentlich genau Teil des Problems: Es gibt die Perspektive, dass Russland nach den Regeln des ersten Szenarios zu spielen hat, aber das tun sie nicht und tun wir auch nicht. Hat man die übergeordnete Instanz, die sich gegenüber dem Vertragsbrecher durchsetzen kann, besteht eine Art Fiktion der Gültigkeit, eine Konvention, wo selbst ein Vertrag, der gebrochen wurde, als bindend verstanden wird, also de jure versus de facto. Im Völkerrecht muss man eher sagen selbst ein geschlossener Vertrag, ist möglicherweise noch nicht bindend. Was im Prinzip auch klar ist, da sich „Völker“-Beziehungen an den Machtverhältnissen ausrichten.

(Die semantische Unterscheidung in der Metapher des Bindens liegt darin, dass du sagst, wer gebunden ist, aber sich losreißt, war dennoch vorher gebunden. Ich würde sagen, der Zweck des Bindens ist, dass man sich nicht lösen kann, wenn doch war das Band nicht „bindend“. Es war vielleicht zeitweise bindend, aber ist es offenkundig nicht mehr, sobald man sich gelöst hat.)

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