Progressiveres Framing zu Staatsfinanzen-, Schulden und Geld - Modern Monetary Theory

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Dass momentan größtenteils darüber diskutiert wird, wo eingespart werden muss, und nicht ob überhaupt gespart werden muss, finde ich erschreckend und lässt mich glauben, dass folgende Aussage tatsächlich stimmt:

[…] wie Umfragen zeigen, hat nach vierzig Jahren neoliberaler Propaganda eine Mehrheit der Menschen in Deutschland mehr Angst vor Schulden als vor der Zerrüttung des Klimasystems und dem Zerfall der öffentlichen Infrastruktur.
Samuel Decker

Falls Ihr ein anderes Bild der öffentlichen Diskussionen habt, würde ich mich natürlich freuen, korrigiert zu werden.

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Meiner Wahrnehmung nach dominiert momentan die Annahme, dass der Staat nur ausgeben könne, was er zuvor eingenommen hat. Wenn man dem widerspricht, kommt schnell die Beschuldigung, man wolle unbegrenzt Geld drucken. Dass es jedoch nicht so Schwarz-Weiß ist und die Wahrheit irgendwo dazwischen liegt, wird viel zu selten thematisiert.
Beim betrachten der Staatsschuldenquote ist es m.E. nur nachvollziehbar nach Grenzen zu suchen, bis wohin noch alles im grünen Bereich ist (0%?, 100%?, je mehr desto besser/schlimmer? Who knows?)
Die Tatsachen, dass

wirft bei mir hingegen die viel kompliziertere Frage auf, wann und in welchem Rahmen Staatsverschuldung möglich und notwendig ist.

Diese Punkte räumen m.E. dem Staat lediglich mehr Handlungsspielraum ein und ist u.A. eine Erkenntnis, die ich aus der MMT mitnehme. Ich kann nur hoffen, dass in den Ökonomie-Grundkursen dieser Welt sich nicht auf die beiden Extreme (Einnehmen, um ausgeben zu können; MMT = unendlich Geld drucken) beschränkt wird.

Wie schon erwähnt hatte ich die MMT so verstanden, dass sie dem Staat lediglich einen größeren Handlungsspielraum zugesteht. Weder ist der Staat bei Ausgaben auf die Steuereinnahmen angewiesen, noch sollte der Staat unbegrenzt Geld ausgeben.
Die Forderung nach mehr Staatsausgaben folgt nur in Zeiten maroder Infrastruktur und unterirdischer Bildungs- und Gesundheitssysteme daraus. Dass in guten Zeiten vielleicht die Steuereinnahmen für die geplanten Staatsausgaben reichen mögen, mag sein, bedeutet jedoch nicht, dass der Staat auf diese Einnahmen für die notwendigen Ausgaben angewiesen ist.

Sorry, bin nicht eher zum Antworten gekommen.

Nein so würde ich das nicht sagen. Die Bundeswehr ist ja von der Regierung verwaltet, daher schuldet sie ihr erstmal nichts. Den Kauf von Rüstung übernimmt, soweit ich weiß, das Beschaffungsamt in Koblenz, was direkt von Rüstungsunternehmen kauft.

Tatsächlich ist es so, dass bei Käufen/Verkäufen immer Schuldbeziehungen vorhanden sind. Beispiel: das Koblenzer Beschaffungsamt kauft von Rheinmetall Panzer X. Dabei schuldet die Bundesregierung Rheinmetall den Wert des Panzers und Rheinmetall schuldet den Panzer der Regierung. Die Regierung begleicht ihre Schuld, indem sie dem Unternehmen einen neuen Schuldschein in die Hand drückt, einen, der universell in der Wirtschaft angenommen wird. Das gilt im Übrigen auch für uns Private bei jeglichen Kaufverträgen, die wir abschließen. Wenn wir etwas kaufen, dann schulden wir dem Verkäufer Betrag Y. Begleichen können wir diese Schuld, indem wir sie an den Staat mit der Zahlung in Bargeld oder an eine Bank mit der Zahlung in Giralgeld übertragen (die Bank schuldet Person Z allerdings lediglich die Umwandlung in staatliches Geld). Staatliche Währung hilft folglich immens als einheitlicher Schuldschein bei Transaktionen in der Wirtschaft.
Er drückt aber immer nur genau eine Schuldbeziehung aus: zwischen Staat und Währungsnutzern. Die Schuld ist die, dass der Staat das Geld für Steuerzahlungen akzeptiert. Es gibt keine darüber hinausgehende Schuld (abgesehen davon, dass natürlich bei einem Kauf durch gewisse rechtliche Bedingungen bspw. ein Unternehmen eine Schuld hat, und zwar bestimmte vom Käufer erworbene Güter bereitzustellen. Das kommt aber ganz auf den Kaufvertrag an und hat erstmal nix mit der Funktionsweise von Geld an sich zu tun). Ich meine mit staatlichem Geld hier nicht Staatsanleihen.

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Natürlich braucht es Steuern, das stellt kein MMTler infrage. Und niemand von den MMTlern möchte auch nur annähernd ein Ausgaben/Steuern Verhältnis von 1/1.000.000, das ist ja völlig fernab der Realität.

Im Prinzip ja, auch wenn man das in der MMT anders ausdrückt. Zu sagen „Steuern treiben eine Währung an“ oder „Steuern erzeugen Nachfrage nach Währung und lassen somit Akzeptanz für die Währung als allgemeines Zahlungsmittel entstehen“ ist treffender.

Nein. Niemand in der MMT wünscht sich eine Kontrolle der Geldmenge. Das was du meinst ist ein Einfluss auf die Nachfrage. Geldmenge und Nachfrage sind aber zwei fundamental unterschiedliche Dinge, das eine ist eine Bestands(stock)- und das andere eine Fluss(flow)größe. Das darf man nicht verwechseln. Denn Geldmenge an sich kann keine Wirkung haben, wie sich auf Preise zu entfalten. Geldmenge an sich ist einfach nur eine unbewegliche Zahl. Die Größe, die tatsächlich Wirkung entfalten kann, ist die Nachfrage. Denn nur wenn Geld ausgegeben wird, passiert etwas in der Wirtschaft.

Die Beeinflussung der Nachfrage über Steuern ist außerdem nur wenig diskretionär, sondern passiert von alleine über die automatischen Stabilisatoren wie eine progressive Einkommenssteuer, Grundsicherung, etc. In einer Rezession gehen bei gut konstruiertem Steuer- und Ausgabensystem von ganz alleine die Ausgaben hoch und Steuerbelastung runter, in einer voll ausgelasteten Wirtschaft von alleine wieder Ausgaben herunter und Steuerbelastung hoch.

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Das wird es auch immer. Denn wenn der Staat sein Defizit vergrößert, nimmt er auch automatisch mehr ein (= das Defizit verkleinert sich automatisch wieder). Einkommen steigen, Menschen zahlen mehr Steuern + rutschen in eine höhere Einkommenssteuerklasse = zahlen noch mehr Steuern. Dabei ist es irrelevant, ob die Einkommen steigen, weil mehr produziert wird – das reale Volkseinkommen steigt, oder ob sie steigen, weil die Nachfrage zu hoch ist, die Wirtschaft überhitzt und auf allen Ebenen Preise (schließt auch Löhne ein) steigen. In beiden Fällen wird automatisch das Staatsdefizit während eines Haushaltsjahres kleiner ausfallen als geplant, da automatisch Einnahmen steigen. (Zusätzlich werden auch Ausgaben niedriger ausfallen, denn wenn die Konjunktur sich aufgrund erhöhter Staatsausgaben bessert → weniger Arbeitslose in Grundsicherung → weniger Staatsausgaben als geplant)
Dieser Effekt fällt geringer aus, wenn man gleichzeitig zu erhöhtem Defizit Steuern stark kürzt. Irrational Steuern zu kürzen fordert allerdings niemand von der MMT. Auch wenn natürlich einige Steuern runter, bzw. ganz weg könnten. Andere stattdessen hoch. Beispiel Einkommenssteuer: für untere - mittlere Einkommen kürzen und für höhere Einkommen drastischer steigen lassen. Das ist aber eine andere Frage. Solche Maßnahmen können die Wirtschaft natürlich ankurbeln, sie setzten mehr Nachfrage frei als Steuersenkungen für Reiche.

Die MMT als Theorie hat keine bestimmte Fiskalpolitik wiederentdeckt, sie beschreibt lediglich deskriptiv wie Geldsysteme und bestimmte Teile von Volkswirtschaften funktionieren.
Zu deinem Argument: ich würde sagen, dass die Wirtschaft nicht nur in einer Rezession nicht ausgelastet ist, sie ist chronisch nicht ausgelastet. Exakt das war ja auch die Kritik von Keynes an der klassischen Theorie, dass sie eben nicht allgemein gilt, sondern nur in einer Grenzsituation, die fast nie so eintritt: volle Auslastung der Wirtschaft. Häufig wird es so dargestellt, als hätte er nur gesagt, dass nur in Rezessionen der Staat expansiv auftreten soll. Tatsächlich war er der Auffassung, dass die Wirtschaft von alleine nicht dazu in der Lage ist, in einer Normallage, zu voller Auslastung zu kommen. Die Schlussfolgerung daraus ist, dass der Staat dauerhaft (in Normalsituationen) ein Defizit haben sollte.

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Ja, der Staat kann nicht exakt steuern, wohin der Multiplikator der Ausgaben in bestimmte Sektoren fließt. Dennoch wird der Sektor, in den eine bestimmte Ausgabe fließt, deutlich stärker angekurbelt als die allgemeine Wirtschaft.

Meistens ist diese Sektorunterscheidung aber wahrscheinlich gar nicht so sehr genau notwendig, da in den meisten Fällen die gesamte Wirtschaft unter ihrem Potenzial arbeitet, daher auch den Multiplikator aus anderen Branchen dankend annehmen wird. In den meisten Fällen wird sich die Auslastung nicht grundsätzlich in den Sektoren unterscheiden, d. h. meistens werden alle Sektoren entweder ein staatliches Defizit oder einen staatlichen Überschuss benötigen. Denn die Wirtschaft ist so eng verflochten, die grundsätzlichen Hoch und Tiefs, wenn auch mit sektoralen Unterschieden, sind meistens ähnlich.

Es kann als Unterbau dazu dienen, ist aber nicht zwangsläufig so. Es kann ebenso auch als Unterbau zu einem neoliberalem Programm mit Steuerkürzungen mit der Hoffnung auf Trickle-Down dienen. Denn dass auch dies finanzierbar wäre, wird aus den Einsichten der MMT deutlich
Natürlich wird man bei der gegebenen Realität mit dem Verständnis der MMT häufig zu der Schlussfolgerung kommen dass mehr Schulden derzeit sinnvoll sind. Das liegt aber an der Realität, nicht an der MMT. Wäre die Realität so, dass strukturell die Volkswirtschaften ausgelastet sind und die Gleichung Nachfrage = Angebot der klassischen Ökonomen wie z. B. von Ricardo oder Mill gelten würde, dann wäre die häufigste Schussfolgerung aus der MMT nicht, dass mehr Schulden gemacht werden sollten. Denn: die MMT beschreibt nur wie, Geldsysteme funktionieren. Nicht was man als Policymaker damit machen soll.

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Keiner der MMTler tut so, eigentlich alle MMTler betonen wie am Fließband, dass es ein unüberwindbares Limit gibt: unsere realen Ressourcen. Das ist im Prinzip unüberhörbar. Ich weiß nicht wie dir das entgangen ist.

Ich will mal nur sagen, einer der „Gründer“ der MMT war Investmentbanker. Dieser Berufsstand steht nicht gerade im Verdacht linksradikal (oder staatsgläubig) zu sein.

Nein. Ich sage jedes Land kann die Theorie als Instrument nutzen, um ggf. bessere Handlungsspielräume zu haben, bzw. die eigene Situation besser zu verstehen. Zunächst einmal gibt es in der MMT das Konzept der monetären Souveränität. Anhand von vier Kriterien kann der monetäre Handlungsspielraum eines Landes auf einer Skala eingeordnet werden. Die Kriterien sind:

  1. Eine eigene Währung besitzen
  2. Steuern in dieser Währung erheben, um Nachfrage nach ihr zu erzeugen (+ Handlungsfähige Institutionen, die ggf. Steuerhinterziehung bekämpfen können)
  3. Keine Fremdwährungsverschuldung
  4. Kein fester Wechselkurs zu einem Edelmetall/einer ausländischen Währung

Wenn diese Kriterien alle erfüllt sind, dann ist eine Regierung voll handlungsfähig. Was bedeutet: sie kann alle Ressourcen im Inland (z. B. Arbeitskräfte/Land/Maschinen) nutzen/kaufen, sie kann allen Menschen im Inland einen Job geben. Das gilt für alle Länder der Erde, die die Kriterien erfüllen. Was diese Länder möglicherweise nicht unbegrenzt können, ist Güter aus dem Ausland zu kaufen. Da gibt es für Entwicklungsländer keine optimale Lösung, das wird auch mit dem Verständnis der MMT deutlich. Dennoch ist es mit der MMT etwas einfacher eine Lösung zu finden als ohne, denn sie erweitert das ökonomische Verständnis z. T. erheblich. Es gibt einen breiten Spielraum von möglichen Werkzeugen die bedient werden können, von Kapitalverkehrskontrollen um eine Währungsabwertung zu vermeiden, über inländische Preiskontrollen etc. DIE Lösung gibt es da nicht, jedes Land muss individuell die beste für sich finden. Das sind tiefgehende internationale Machtverhältnisse, zulasten der Entwicklungsländer, die kann die MMT nicht einfach so abschaffen. Aber sie kann helfen, diese (aus dem Westen heraus) zu ändern. Etwa indem man (wie die EZB das schon z. B. gegenüber der FED oder der BoE macht und umgekehrt) den Zentralbanken der Entwicklungsländern unbegrenzte Kredit- oder Notfallkreditfazilitäten zur Verfügung stellt.

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