Gerade im Forum aus einem anderen Grund angemeldet und über diesen Thread gestolpert und eingetaucht. Möchte den Themenvorschlag ausdrücklich unterstützen und noch eine Empfehlung für einen Podcast-Gast abgeben. Dr. Johanna Wenckebach Leiterin des Hugo Sinzheimer Institut und bei Twitter unter https://mobile.twitter.com/jo_wenckebach?
Zum Thema: Gewerkschaften stehen traditionell für die Demokratisierung der Arbeitswelt. Ihrer Stärke verdanken wir das Betriebsverfassungsgesetzt und damit den Betriebsräten und der betrieblichen Mitbestimmung in ihrer jetzigen Form. Studien zeigen, Unternehmen mit starker betrieblicher Mitbestimmung sind nicht nur besser für die Beschäftigten, sondern auch die wirtschaftlich nachhaltiger.
Wichtig bei einer Diskussion zu Gewerkschaften ist zu beachten, dass sie nicht nur für die Demokratisierung der Arbeitswelt einstehen, sondern selber auch versuchen, demokratische zu arbeiten. Dh das es auf allen Funktionsebenen, von Wahlgremien gibt, die alle 4 Jahre neu gewählt werden und das Handeln der Gewerkschaften und Funktionäre kontrolliert und legitimiert. Führungspositionen sind idR Wahlämter und ab den oberen Führungsebene, müssen die Führungskräfte regelmäßig wiedergewählt werden.
Auch Streiks und Tarifverträge, sozusagen die „Hauptprodukte“ der Gewerkschaften, werden häufig demokratisch, durch Urabstimmungen, legitimiert.
Das ist in der Theorie super und aus meiner Sicht sehr bewundernswert. In der Praxis macht es Gewerkschaften oft eher behäbig und strukturkonservativ. Die Frage, wer Zeit hat, sich in diesen Gremien zu engagieren und was die Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Ehrenamt angeht ist ein eigenes und umfangreiches Thema. Auch die Reaktionsgeschwindigkeit auf unternehmerisches Handeln oder Entwicklungen auf dem Markt sind nicht besonders schnell. Gewerkschaften sind strukturell erstmal an ihrer bestehende Mitgliederstruktur gebunden. Neue Branchen, neue Unternehmen sind erstmal nicht im Fokus von Gewerkschaften. Hier bedarf es in der Regel der Selbstorganisation der Beschäftigten. Siehe dazu die aktuellen Auseinandersetzung rund um Fahrradlieferdienste in Deutschen Innenstädten. Erst ab einer Kritischen Masse von gewerkschaftlicher Selbstorganisation entsteht eine gewerkschaftliche Machtbasis, die kollektives Handeln möglich macht und am Ende oft darin mündet, dass Hauptamtliche Gewerkschaftsstrukturen entstehen.
Gewerkschaften haben aus meiner Sicht diese strukturelle Schwäche erkannt und versuchen mittlerweile Branchen und Unternehmen aktiv zu erschließen und gewerkschaftliche Selbstorganisation zu unterstützen. Siehe dazu die IG Metall Strategie in Grünheide beim neuen Teslawerk.
Im Zusammenhang des Mitglieder
Schwundes bei Gewerkschaften darf das Thema Union Busting nicht fehlen. Damit ist eine Unternehmensstrategie gemeint die aktiv die Etablierung von gewerkschaftsstrukturen im Unternehmen verhindert. Amazon hat diese Strategie perfektioniert, aber auch im deutschen Rettungsdienst können solche Strategie beobachtet werden. Siehe hier Arbeitsunrecht e.V…
Einen weiteren Aspekt würde ich hier noch zu bedenken geben. Gewerkschaften haben ihren Bereich des Handels in manchen Bereichen in den letzten Jahren explizit ausgeweitet.
Neben Löhnen und Arbeitszeit haben die Beschäftigten auch die Frage der Arbeitsqualität in die eigene Hand genommen. Pflegekräfte haben in Berlin erfolgreich bindende Persobaluntergrenzen auf Dein Stationen in der Charité und Vivantes mit der #Berlinerkrankenhausbewegung durchgesetzt. Das gleiche findet aktuelle bei den Unikliniken in NRW statt.
Hier wird das Versagen der deutschen Gesundheitspolitik gewerkschaftlich beantwortet. Vergleichbares wird aktuell von den Beschäftigten des Sozial- und Erziehungsdienst versucht. Sie fordern neben der Aufwertung ihrer Berufsgruppen (traditionelle Frauenberufe) bessere Arbeitsbedingungen, die die Qualität ihrer pädagogischen Arbeit zu erhöhen. Kleine Gruppen in der frühkindlichen Bildung usw…
Um meinen Enthusiasmus wieder etwas zu relativieren. Die Arbeitsbedingungen in der Pflege und bei den Erzieherinnen werden durch diese Auseinandersetzung nicht mit einem Mal super sein. Hauptgrund ist der im Vergleich zur Autoindustrie schlechte Organisationsgrad der Beschäftigten. Dort ist ein Organisationsgrad von über 90 % heute immer noch nicht unüblich. Pflegepersonal und Erzieherinnen sind deutlich schlechter organisiert.