LdN301: Mindset

Ich arbeite seit vielen Jahren in der Softwareindustrie für Banken, Versicherungen und auch Behörden, ich glaube nicht dass es in absehbarer Zeit zu einer aus IT-Sicht guten Lösung kommt die auch für alles funktioniert.
Gemeinsame Datenformate zu definieren ist sicherlich ein guter Anfang, kostet aber aus Sicht der Behörden erstmal nur Zeit und Aufwand, da es keine Software gibt die damit umgehen kann. Und wer soll diese Datenformat definieren? Es wird immer Regionalfürsten geben, die ihre eigenen, doch schon vorhandene Insellösung durchsetzen wollen. Neues wird immer misstrauisch beäugt, und wenn das Neue aus irgendeinen Grund (Serverausfall, Internet kaputt etc,) mal nicht funktioniert, dann wird hämisch auf das Neue gezeigt, "seht ihr, habe ich doch gleich gesagt*.
Selbst bei grossen Banken ist es sehr schwierig einheitliche Lösungen einzuführen, obwohl es dort eigentlich „par ordre du mufti“ relativ einfach durchzusetzen wäre. Grund ist natürlich auch, dass nur sehr wenige Behördenleiter EDV-affin sind, sie haben naturgemäss keine Erfahrungen mit Softwareentwicklung, insbesondere im grossen Massstab, Word und Excel oder mal eine „App“ daheim programmiert zu haben reicht da nicht.

In Behörden und Verbänden herrscht auch einfach ein anderes Mindset, die "agile"Vorgehensweise, also einfach ausprobieren und dann schrittweise verbessern bis es „gut genug“ ist, funktioniert dort nicht. Vermutlich ist das bei Prozessen und Verfahren die das Leben eines anderen Menschen stark beeinflussen können, auch besser so :wink:

Und noch eine Anekdote aus meinem Berufsleben, ich war vor vielen Jahren auf einer Dienstreise bei einem grösserem Stadtwerk um eine neue Softwareversion zur Leitungsdokumentation auszuliefern. Danach hatte ich noch eine gute Stunde Zeit bis mein Zug fuhr und sah wie mehrere Mitarbeiter Daten aus einem Excel abtippten um sie in unsere Software zu übertragen, immerhin schon grösstenteils mit Cut&Paste. Ich habe dann eben schnell eine Art Makro geschrieben um die Daten automatisch einzulesen, diese hätten nur noch, wie die händisch erfassten Daten selbst, einmal auf Konsistenz überprüft werden müssen. Als der dortige Teamleiter das mitbekam, hat er mich gebeten diese Daten doch bitte wieder zu löschen, da er sonst nicht wüsste wie er seine Leute in den nächsten Wochen beschäftigen soll.

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Oh Gott, das ist das Traurigste, was ich bisher zu dem Thema gehört habe.

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Ähnliche Beispiele gibt es auch in der Privatwirtschaft, eigentlich überall in grossen Organisationen wo die Parkinsonschen Gesetze gelten.
Aus dem Beginn der Digitalisierung in einer Grossbank „wenn dieser Prozess automatisiert wird, dann kann ich im nächsten Jahr meine Aufwände nicht mehr rechtfertigen und ich verliere Planstellen“
Weniger Stellen → kleinere Abteilung → weniger wichtig :wink:
Meiner Meinung nach ist dieses Mindset einer der gründe, warum Gerade Privatbanken gern komplette Abteilungen auflösen und die IT outsourcen

Ich erlebe meinen Arbeitsalltag anders. Einige sind vielleicht kurz vor der Rente und wollen nicht dass sich jetzt nochmal alles ändert und das finde ich verständlich, darauf kann man Rücksicht nehmen. Der Rest ist größtenteils unzufrieden und möchte Dinge ändern - das Problem ist nur zu oft, dass die von oben aufdiktierte Lösung des Problems die Dinge oft nur schlimmer macht (nicht funktionierende Software, komplizierte Masken, Abfrage sinnloser Daten mit dutzenden Pflichtfeldern, veraltete Hardware…). Insofern kann man auch die Skepsis verstehen wenn, der Chef der Abteilung von dem alle wissen dass er keinen Schimmer hat wie die tägliche Arbeit aussieht eine „neue“ und „agile“ Lösung für das digitale Büro anschleppt.

Meine Sorge ist, dass die Sorgen und Wünsche der Mitarbeiter*innen die diese neuen Prozesse umsetzen müssen wieder mal nicht zugehört wird, was die Akzeptanz verringert und dazu führt, das Neuerungen nur gegen massiven Widerstand der Behörden eingeführt werden können. Wenn man es schaffen würde, dass sich der Arbeitsplatz gleichzeitig mit der Digitalisierung entscheidend verbessert würde das denke ich massiv helfen diese Dinge schnell umzusetzen.

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Ich bin jetzt selbst nicht in der Verwaltung, habe aber engen Kontakt, und kann das nur bestätigen.
Was noch hinzu kommt ist die Unfähigkeit, die einzelnen Bereiche, Abteilungen, Behörden und Länder zusammen zu bekommen, so dass sie alle am selben Ziel arbeiten.

Ich habe das anhand von digitalen Schnittstellen mitbekommen. Das ist alles spezifiziert, die wissen alle was zu tun ist, aber sobald es irgendwo mal hakt und man Hilfe von woanders braucht (sei es dem Fehler auf den Grund zu gehen, sei es von Applikationsseite mit den Netzwerkern nach dem Fehler zu suchen, etc), dann wird die Bremse rein geworfen.

Nicht weil keiner helfen will. Sondern weil er
a. nicht darf,
b. keine Zeit hat,
c. sein Chef meint was gehen mich die Deppen von Fachbereich Z an,
d. weil der Netzwerker nicht „Schuld“ sein will (ist nur ein Beispiel),
usw usw …

Dann fährt das Projekt mit Quietschen und Krachen an die Wand, kommt zum Stehen, ist in einem 75% fertigen Zustand, funktioniert aber nicht besser als die analoge Welt (weil eben die 25% zur vollständigen Automatisierung fehlt und wenn man 25% per Hand machen muss hilft es dann eben auch nicht) und die Akzeptanz geht flöten. Dann dümpelt es herum, keiner ist mehr motiviert, überall sind nur Hindernisse, die Sachbearbeiter mosern rum, die Laune wird immer schlechter. Und am Ende stirbt das Projekt einen wimmernden Tod in der Ecke der IT.

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Mindset und 1000% absicherndes Absicherungsdenken.

Im Landratsamt (?) sollte auch eine digital signierte PDF aus dem eigenen Haus!!! genügen.

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Das Parkinsonsche Gesetz verstehe ich anders. Damit würde man erklären, warum man immer noch genau so viel Personal braucht.

„Leiter“ sind glaube ich weit weg von Excelmacro oder App programmieren. Aber auch bei Ingenieuren können das vielleicht nur 2%.
Hätte auch gar wenig Sinn wenn jeder ein bisschen rumdoktert. Damit könnte der Alltag ein wenig geschmeidiger werden, aber für eine systemische und übergreifende Lösung braucht es andere Herangehensweisen. Leider zeigen Projekte zum E-Rezept oder dem digitalen Perso, dass auch mit viel Geld der Erfolg nicht garantiert ist.

Dann dreh’ das Parkinson’sche Gesetz einfach mal um: Demnach kannst du die Aufgaben auch noch erledigen, wenn du weniger Personal zur Verfügung hast.

Die Digitalisierung wäre demnach eher der Vorwand, um die Stellen streichen zu können, als tatsächlich notwendig, um die Arbeitslast zu reduzieren.

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Erinnert mich auch irgendwie an „Passierschein ‚A 38‘“ aus Asterix & Obelix.

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Ich weiß manchmal nicht, was ich darüber denken soll. So etwas gibt es auch in Firmen. Bleiben die Stellen erhalten, sind die Leute in Lohn und Brot und belasten sic nicht die Arbeitslosenversicherung.

Theoretisch könnten sie dann ja etwas Sinnstiftendes machen, aber wollen sie das dann auch? Klar gibt es in z.B. der Pflege Bedarf. Vermutlich ist das dann anstrengender und leider auch noch schlechter bezahlt.

Dazu kommt die bedrückende Erfahrung der Arbeitslosigkeit. Ich habe schon als Student 1994 mal CSV importieren/Monatszellen selektieren /einfügen einer Monatssummenformel durch ein Excel Makro ersetzt; dadurch wurden 6-8h HiWi Job durch 40 Sekunden Makrolaufzeit ersetzt pro CSV Datei. Hatte mich/die Firma damals 2h Programmieraufwand gekostet und der Firma fast 400 HiWi PT erspart.

Glücklicherweise hatte die Firma damals etwas anderes für den anderen HiWi zu tun, aber nachdenklich hatte mich das schon damals gestimmt.

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Ich sehe, was du meinst und die Zeiten waren auch mal anders. Aber im Augenblick sucht zumindest in meiner Gegend ungefähr jeder Betrieb Arbeitskräfte, insbesondere die Verwaltung ist vielerorts überlastet. Egal mit welcher Qualifikation findet man hier gerade was. Da finde ich es doch traurig, wenn ein Abteilungsleiter (so die Geschichte von oben) Angst hat, dass er seine Leute nicht beschäftigen kann und ihnen dann lieber Quatsch aufträgt. Gerade in der Verwaltung hätte dieser Chef mit etwas nachdenken bestimmt was sinnvolleres gefunden.

Zum generellen Problem, das du ansprichst: ich weiß auch nicht, wie man das lösen kann, vielleicht hülfe ein bedingungsloses Grundeinkommen.

Denn solche Jobs nicht zu automatisieren bedeutet auch nur, kein bedingungsloses, sondern ein bedingtes Grundeinkommen zu zahlen. Wenn du nen Job hast, den mittlerweile ein Computer besser machen kann, Glückwunsch, du darfst weiter Geld kriegen und einen Bullshit job machen. Wer das glück nicht hat, kriegt dann halt (immerhin…) Hartz4.

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Ernst gemeinte Frage: Wie viele von den Stellen, die dort zu besetzen sind, werden deutlich (!) über Mindestlohn bezahlt (ich rede hier von 20€/h und mehr)?

Sicher? Oder hätte er nur eine andere Stelle gefunden, an der mangelhafte Digitalisierung zu kompensieren ist?

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Da ich gerade keinen Job suche und auch nur bestimmte Qualifikationen habe: genau weiß ich es nicht, ich schätze aber schon. Hast du da besseren Einblick?
Was auch geht, ist Umschulen. Das ist blöd, aber auch kein Weltuntergang.

Selbst wenn: das wäre dennoch deutlich besser gewesen, als den schon digitalisierten Job manuell zu machen.
Und was mir direkt einfällt: Lade die Leute ein, Verbesserungsvorschläge zu machen. Kostet Zeit, die man nie hat und es kann mehr dabei herumkommen, als wenn sie papiere abtippen.
Oder, wenn nichts anderes sinnvoll erscheint: mach dich ehrlich und sage ihnen: aus Versicherungsauflagen darf ich euch nicht heimschicken (falls es denn so ist), aber nehmt euch doch die nächste Woche nen Buch mit auf die Arbeit. Immer noch besser, als Leute mit Quatsch zu beschäftigen.
Das passiert wahrscheinlich nicht, weil der Vorgesetzte Angst vor der Rechtfertigung bei seinem eigenen Vorgesetzten hat oder wirklich, weil er keine Verkleinerung seiner Abteilung im Nachgang hinnehmen möchte.
Aber das Ergebnis ist, dass wir DDR-mäßig Leute Erde von A nach B schaufeln lassen, die wer anders dann zurückschaufelt.

Deshalb sagte ich, es sei eine „ernst gemeinte Frage“: Mein Eindruck ist, dass diese Jobs halt irgendwo um den Mindestlohn rumdümpeln, und dann auch gerne nur 450€-Kräfte und keine Vollzeit-Festanstellung: Kassieren im Supermarkt, Servicekraft im Restaurant, Aushilfe in einem Laden, etc.
Klar gibt’s dann noch die klassischen Mangelberufe im IT-Umfeld, und je nach Fach auch Lehrer.

Solange wir aber Leuten gute Gehälter zahlen, damit sie in einer Verwaltung oder sonstwo rumsitzen, darf es uns nicht wundern, dass sie nicht in die Pflege, an die Supermarkt-Kasse oder ins Restaurant wechseln möchten.

Mein Punkt war: Ich erlebe es momentan relativ häufig (sowohl hier im Forum, als auch bei meiner Arbeit), dass alle sagen, wie viel Arbeit zu tun ist und wie dringend mehr Leute gebraucht werden.
Wenn man sich anbietet, diese Arbeit zu machen, ist sie „gerade“ leider nicht da. Es kann auch niemand konkreter sagen, was genau diese ganze Arbeit ist.

Deshalb bin ich so auf dein Statement angesprungen, dass die Leute, die gerade „frei“ geworden sind, ganz locker für andere Arbeit eingesetzt werden können. Erfahrungsgemäß existiert diese andere Arbeit nicht.

Den einzigen Mangel, den ich sehe und daher glaube, sind in Berufen, die schon immer für schlechte Arbeitsbedingungen standen. Das ist aber nichts neues.

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Ich glaube, ich möchte zurückrudern, da ich, außer dem Eindruck, den ich so höre, keine belastbaren Daten dazu habe.

Allerdings schmälert das meines Erachtens meinen Punkt von oben nicht: Der Chef hätte irgendetwas anderes machen können, als die automatisierte Lösung einer Aufgabe zurückzuhalten, um die Leute diese Aufgabe dann händisch machen zu lassen. Bezahlter Sonderlaub wäre meiner Meinung nach immer noch besser gewesen.
Und zu dem Punkt, den du machst, möchte ich sagen: Ich habe gar nichts dagegen, wenn Angestellte lieber ihren Bullshit-Job behalten wollen, denn daran hängt ja ihr Gehalt. Aber Aufgabe eines Chefs ist es nunmal, die ihm Anvertrauten Angestellten möglichst sinnvoll einzusetzen und da hat der Mensch aus der Anekdote halt versagt, denn: Dann lieber Sonderurlaub als Erde von A nach B schaufeln lassen.

Wer entscheidet, was Bullshit-Jobs sind? Auch eine ernst gemeinte Rückfrage: nicht jede(r) ist in der Lage, anspruchsvolle Tätigkeiten umzusetzen. In unserer Gesellschaft bist du aber nichts, wenn du nicht arbeitest. Und wer sagt eigentlich, dass mit dem Besen die Straße zu kehren, obwohl dies langsamer ist und mehr Personal benötigt, dann die schlechtere Alternative zu (immer zu lauten) Laubbläsern ist?

Leider sind diese Jobs schlechter bezahlt und im Zweifelsfall müssen die hier Tätigen dann zusätzliche Ersatzleistungen beantragen, ein Skandal aus meiner Sicht.

Gerade in der Verwaltung sehe ich viele Jobs, deren Zweck ich nicht verstehe (Compliance bläst dann im Anschluss an Automatisierung viele Prozesse gerne wahnsinnig auf).

Nun, das Beispiel oben war Excellisten händisch in eine Software übertragen, obwohl es schon eine Software gab, die das konnte.
Das ist in meinen Augen ein Bullshit-Job.
Es händisch zu machen hat nur Nachteile, weil es länger dauert und fehleranfälliger ist.

Straßenkehren zum Beispiel erfüllt das nicht: Ein Vorteil ist, dass es leiser ist.

Ja, das ist genau das Problem. Eigentlich könnten wir auf eine Welt hinarbeiten, in der man höchstens 3 Stunden am Tag zu arbeiten hat, stattdessen redet der Gesamtmetall-Präsident vom Wiedereinführen der 42-Stunden-Woche und Rente ab 70. Auch das macht mich ziemlich traurig.
Unsere Gesellschaft wertet Menschen ohne Arbeit ab, also will jeder Arbeit haben, also gibt es dämliche Jobs, wie Excellisten abtippen, statt dass wir von unserem Arbeitsfetisch runterkommen. Auch hier wieder: der einzelne Mensch, der sich gegen die Automatisierung seiner Arbeit wendet, handelt rational, das System setzt halt schädliche Anreize.

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Da bin ich bei dir, das wichtige wäre hier der Zwang. Ich denke, mir macht meine Arbeit sehr viel Spaß und da wären mir 3 Stunden zu wenig. Vielleicht leide ich aber auch nur unter dem Stockholm Syndrom, weil ich das schon so lange mache und die Welt wäre eine bessere, wenn alle einfach nur mehr Sudokus rechnen :sweat_smile:

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Das kann ich nicht beurteilen, aber in dem Falle leide ich auch darunter :upside_down_face: