LdN297 - offener Brief: „Die Ukraine kann nicht gewinnen“

Ich möchte gerne im Zusammenhang mit dieser Diskussion eines der Prämissen der Diskussion verstehen

Ich verstehe den offenen Brief „in a nutshell“ wie folgt:

Da die Ukraine nicht gewinnen können, seien die Opfer dieses Krieges völlig sinnlos. Unter anderen deshalb soll der Westen für Frieden auf den Verhandlungswege sorgen, der kein Diktatfrieden sein müsse.

Ausgangspunkt ist die Behauptung, die Ukraine könne diesen Krieg ohnehin nicht gewinnen. In diesem Forum wird das von vielen Teilnehmern mit Verweis auf sog. Experten bestätigt und geteilt. Ich beschäftige mich sehr viel mit dieser Frage und ich höre von sog. Militär- und Kriegsexperten sehr unterschiedliche Aussagen dazu, die sich dann noch von Woche zu Woche ändern.

Kennt jemand hier eine seriöse Quelle, in der sich ein Fach-Journalist oder ein Wissenschaftler sorgfältig und faktenbasiert mit der Frage beschäftigt und dazu eine qualitativ belastbare Aussage treffen kann?

Dabei muss man m.E. sehr differenziert argumentieren:

Kann die Ukraine diesen Krieg gewinnen?

(a) Was genau heißt „gewinnen“: Rückgewinnung des Territoriums in den Grenzen von vor dem 24.2.? Oder auch Rückgewinnung der Krim (was nach meinem Verständnis aufgrund der Insellage eine sehr viel größere Herausforderung wäre)?

(b) Aus eigener Kraft? Oder nach ausreichender Lieferung von solchen Offensivwaffen, die nicht nur den Vormarsch der Russen stoppen können, sondern den Ukrainer Geländegewinne ermöglichen (nach meinem Verständnis sind das Kampfpanzer (im Gegensatz zu vielen anderen Panzertypen)

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Dazu möchte ich auch noch mal etwas sagen.

In dem letzten offenen Brief wurde als das „Gewinnen“ der Ukraine ja explizit mit der Rückeroberung aller verloren Gebiete seit Februar UND der Rückeroberung der Krim sowie der kompletten Separatisten-Gebiete gleich gesetzt.

Das ist aber nicht die offizielle Haltung der ukrainischen Regierung. Laut Andrij Melnyks Interview bei Jung und Naiv will die Ukraine in der aktuellen Auseinandersetzung lediglich den Stand vom Februar diesen Jahres wiederherstellen.

Das ist also schon mal eine deutlich realistischere Forderung, als beispielsweise die Rückeroberung der Krim. Und daher ist die millitärische Unterstützung auch keinesfalls aussichtslos.

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Oberst Markus Reisner des österreichischem Bundesheers gibt auf YouTube immer wieder Updates hierzu:

Von den urpsrünglich 81 ukrainischen Battalionsgruppen sollen noch rund 60 bestehen.
In der selben Zeit seien die russischen Streitkräfte in der Ukraine von 93 auf 108 erhöht worden.

Von einer nahezu Parität sind die russischen Streitkräfte nun also laut Oberst Reisner bei nahezu 2 zu 1 angelangt.

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Die meisten Experten sind dazu eher zögerlich mit Aussagen ob die Ukraine gewinnen oder verlieren wird und mussten zb. durch Journalisten regelrecht zu einer Aussage getrieben werden.
Zb:

Sowas lässt sich eben schwer vorhersagen und liegt in der Natur des Krieges. Es gibt schlichtweg zu viele Unbekannte, die von der Ebene der einzelnen Soldaten bis hin zum Oberbefehlshaber reichen, Dinge wie Moral, die man nicht quantifizieren kann usw.

Militärs versuchen ja seit jeher sowas in Übungen zu simulieren, was alles von brettspielähnlichen Kriegsspielen bis hin zu riesigen Manövern mit >100000 Mann beinhalten kann. Aber auch hier gibt es keine sicheren Antworten (gibt ja genug Beispiele aus der Geschichte wo man damit enorm falsch lag). Wir reden hier eben nicht von Klimamodellen die mit meist gut verstandenen physikalischen Prozessen wie den Treibhauseffekt gefüttert werden.

Ich glaube, dass wir als Gesellschaft immer davon ausgehen jederzeit sichere Antworten bzw. Prognosen zu haben, wie beim Wetterbericht für den nächsten Tag und kommen nur schwer damit klar, wenn es nicht diese Sicherheiten gibt. Das sah man ja schon an den negativen Reaktionen aus Teilen der Bevölkerung während der Coronapandemie sehr schön, als Politiker bestimmte Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung nicht sicher ausschließen konnten, da sie schlichtweg nicht sicher wussten, wie sich bestimmte Parameter entwickeln würden.

Was aber unbestritten ist, soweit ich persönlich es anhand Aussagen von Experten überblicken kann, ist, dass die Russen ohne Hilfslieferungen an die ukrainischen Streitkräfte zweifelsfrei immer weiter an Überhand gewinnen werden.

Es gibt eben nicht immer sichere wissenschaftliche Daten auf die man sich stützen kann (bei so einem Thema sowieso). Vielleicht gehört diese Realisierung auch zur sogenannten Zeitenwende.

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Naja - demgegenüber steht halt die Aussage Selenskys, die praktisch die gesamte deutsche Presse als Kriegsziel „Rückeroberung der Krim“ aufgefasst hat [3].

Hier mal das, was ich so auf die Schnelle sammeln konnte. Wie @TomCarlos schon sagte, halten sich die Experten da ja öffentlich sehr zurück. Verschriftliche Statements finde ich kaum.

In der Presse gibt es immer wieder Aussagen, wie z.B. [1]

„Militärisch, das ist wohl auch Präsident Selenskyj klar, gilt eine Rückeroberung selbst unter besseren Vorzeichen als derzeit quasi als unmöglich“

Leider fehlt dann aber die entsprechende Quelle, was das Ganze wenig belastbar macht.

Claudia Major äußert sich dazu nicht. Was sie auf der anderen Seite klar macht [2] (Interview vom 30.05.), ist dass ein aktiver Verzicht auf z.B. die Krim auf Ukrainischer Seite dem Frieden wenig hilft.

Auch General Bühler drückt sich um die Frage, wie schon oben erwähnt.

Gemäß [4] schätzen Kreise der Bundesregierung die Rückeroberung der Krim als utopisch ein. In diese Richtung argumentiert wohl auch Stefan Meister (weniger Militär- als eher Außenpolitik-Experte). Hier finde ich auch den Aspekt interessant, dass die strategische Bedeutung der Krim Russland noch einmal motivieren könnte, einiges mehr zu investieren, um das Territorium zu verteidigen.

Eine Einschätzung, dass die Ukraine mit ausreichend Waffenlieferungen die Krim zurückerobern könnte habe ich auf die Schnelle nicht gefunden. Vielleicht wäre es dazu hilfreich auch herauszufinden, mit welcher Geschwindigkeit man das Ukrainische Militär denn realistisch gesehen aufrüsten und ausbilden könnte – mal angenommen der Willen wäre da.

[1]

[2]

[3]

[4]

Okay, stimmt. Hatte ich auch schon mal gehört, aber nicht mehr auf dem Schirm. Gut okay, dann ist es legitim, das als Verwendungszweck der Waffen zu sehen.

Danke für die Quelle. Ich werde mir die Quelle mal etwas genauer ansehen und vorher z.B. die Infos dieses Oberst stammen.

Schon dieser Ausgangspunkt ist abwegig.

Wer würde Arbeitskämpfe für unsinnig erklären wollen mit der Begründung, dass es den Gewerkschaften absehbar nicht gelingen wird, damit ihre zuvor verlautbarten „Kriegsziele“ komplett zu erreichen? Sie können also eh nicht „gewinnen“. Zwischen Sieg und Niederlage gibt es jedoch unzählige Abstufungen von möglichen Endzuständen.

Was bereits jetzt durch die Ukraine erreicht wurde, ist das Abwenden einer kompletten Niederlage in Form der Besetzung der Hauptstadt und Zerschlagung der Regierung. Insofern wurde schon etwas gewonnen aus Sicht der Verteidiger.

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Das ist sicher ein Erfolg.
Aber derzeit erobert Putin-Russland eine Stadt nach der anderen, wenn auch vermutlich langsamer als ursprünglich gedacht. Und es kann die Verluste wohl mehr als ersetzen (siehe Video von Oberst Markus Reisner). Solange das so bleibt, hat es zum einen eigentlich keinen Grund, in Verhandlungen der Ukraine irgendwelche signifikanten Zugeständnisse zu machen, und ist es zum anderen nur eine Frage der Zeit, bis auch Kiew fällt.

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Sich realistische Ziele zu setzen ist dagegen selbst hier sinnvoll. Mit der Forderung 20% Lohnerhöhung ins Rennen zu gehen würde auch einen Arbeitskampf schnell scheitern lassen.

Ich denke schon, dass die Ukraine den Krieg langfristig gewinnen kann. Das wird aber nur der Fall sein, wenn Russland weiterhin international isoliert ist und keine Ersatzteile für sein Militärequipment bekommt. Wenn Länder wie China, Indien und Brasilien Waffen und andere Rüstungsgüter an Russland liefern sollten, dann kann der Krieg noch das gesamte Jahrzehnt lang dauern. Sozusagen als Stellvertreterkrieg zwischen den demokratisch und autoritär regierten Nationen auf der Welt.

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Auch wenn ich selbst hier nicht gemeint bin: Es würde den Diskurs konstruktiver machen, wenn man auf solche harte Formulierungen verzichtet. Wir passiert das allerdings auch immer wieder (wie ich meine: immer seltener). Aber angesichts des zunehmend schwierig werdenden Diskurs in unserer Gesellschafter - nicht nur in Social Media, sondern inzwischen schon im Freundes- und Bekanntenkreis - fände ich es toll, wenn sich jeder explizit die Mühe geben würde, auf solche „Diskus-Blocker“ einfach zu verzichten.Es geht ja nicht darum, den anderen vorzuführen, sondern einzig und allein ihn für sein eigenes Argument zu öffnen.

Das Ziel von Arbeitskämpfen ist letztlich ein Kompromiss der Positionen.

Zumindest für einen nicht unbeträchtlichen Teil der Teilnehmer an Diskussionen zu diesem Thema geht es ja gerade nicht um einen Kompromiss. Das ist auch die offizielle Linie der ukrainischen Regierung und auch der Bundesregierung. Es geht ihnen um die Durchsetzung internationalen Rechts: Also darum, dass Russland keinerlei Erfolg bekommen darf. Damit für Russland, aber auch z.B. für China und andere imperialistischen Mächte kein Anreiz entsteht, sowas nochmal zu zu versuchen. Und damit in Waffenstillstandsvereinbarungen Russland gar nicht auf die Idee kommt, einem Waffenstillstand zuzustimmen und im Stillen bereits fest zu planen, das gewonnene Territorium in einigen Jahren noch zu erweitern.

Das aber macht nur Sinn, wenn überhaupt eine realistische Chance existiert, dass die Ukraine mit westlichen Waffenlieferungen das Territorium in den Grenzen vom 23.2. zurückgewinnt. Sollte man das ausschließen.

Wenn eine solche Chance nach der Überzeugung der meisten Militärexperten nicht existiert, dann muss sich die Ukrainische Regierung fragen, ob alle die Toten den Kampf noch wert sind. Ich habe jedoch nicht den Eindruck, dass es eine solche „Mehrheitsmeinung der Experten“ gäbe. Vielmehr rätseln alle wild durcheinander. Krieg scheint eben mit (Natur)wissenschaftlichen Methoden nicht zu analysieren zu sein.

Wenn aber eine solche Chance besteht und es den unterstützenden Staaten es um die Durchsetzung von internationalem Recht geht, dann gebietet es die Moral, die Ukraine schnellstmöglich und umfänglich mit allen Waffen zu beliefern, die notwendig sind, damit es mit geringstmögliche Verlusten auf der eigenen Seite die Territorium in den Grenzen vom 23.2. zurückgewinnt.

Jede Zwischenposition, jedes Herumlavieren leistet der Perpetuierung des Krieges Vorschub. Er wird unnötig in die Länge bezogen, ohne dass man in dem Ziel, internationales Recht durchzusetzen, näher kommt und sehr viele Menschen sterben - auf beiden Seiten. Und dabei nimmt das Risiko, dass Russland den Krieg immer weiter eskaliert, eher zu als ab. Gleichzeitig steigt in den unterstützenden Ländern der Unmut in der Bevölkerung über die wirtschaftlichen und v.a. sozialen Opfern, die sie erleiden müssen.

Denjenigen, die auf das Risiko verweisen, in den Krieg hineingezogen werden, sage ich: Ihr müsst Euch entscheiden. Wenn Ihr dieses Risiko nicht eingehen wollt, müsste ihr auf die Durchsetzung des internationalen Rechts verzichtet. Denn: Wer internationales Recht durchsetzen will, will den Misserfolg für Putin. Und wie Putin auf einen solchen Misserfolg reagiert, kann niemand vorher sagen. Es bleibt das Risiko, dass er A-, B- oder C-Waffen einsetzt. Wenn wir dieses Risiko nicht eingehen wollen, müssen wir auf die Durchsetzung internationalen Rechts verzichten und und in einer Welt leben, in der Imperialisten vor Augen geführt bekommen, dass die Bevölkerung der westlichen Welt nicht bereit ist, für ihre Werte Risiken einzugehen.

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Recht hast du. Ich werde mich bessern.

Es gibt Kriege, an deren Ende die Vernichtung einer der beiden Parteien steht. Paradebeispiel ist der Zweite Weltkrieg, der damit endete, dass Deutschland und Japan besetzt wurden und ein neues Regierungs- und Gesellschaftsystem aufoktroyiert bekamen. Totaler Sieg auf der einen, totale Niederlage auf der anderen Seite.

Dies ist aber nicht die „typische“ Form von zwischenstaatlichen Krieg, wenn man sich die Weltgeschichte anschaut. Stattdessen geht es darum, sich gegenseitig Schaden zuzufügen, bis ein neues Gleichgewicht der Kräfte gefunden ist, das beide Seiten akzeptieren (müssen). Von der Struktur her ist das mit einem Arbeitskampf vergleichbar. „Sieg“ und „Niederlage“ sind hier nicht total, sondern relativ. Und es ist sogar wichtig, den Gegner nicht in eine Situation zu bringen, in der dieser sich genötigt sieht, unabhängig von den eigenen Verlusten immer weiter zu kämpfen. Das würde auf beiden Seiten nur die Kosten in Höhen treiben, die kein realistisch erreichbarer Sieg mehr rechtfertigen kann. (Anders ist es beim Anstreben eines totalen Sieges, wo der „Ewigkeitsnutzen“, den die unumkehrbare Ausschaltung des Gegners verspricht, alle für den Sieg notwendigen Kosten im Hier und Heute übersteigt.)

Das wesentliche Kriegziel auf Seite der Ukraine und des Westens (aus meiner Sicht), besteht darin, die russische Führung davon zu überzeugen, dass der totale Sieg - also die dauerhafte Unterwefung wesentlicher Teile der Ukraine unter russische Vorherrschaft - nicht erreichbar ist. Sobald dies erreicht ist, wird es schnell zu Verhandlungen kommen, denn die Kosten, die dieser Krieg auf beiden Seiten verursacht, sind aberwitzig wenn es dabei lediglich um ein paar 1000 km2 Land geht und nicht darum, die Ukraine als eigenständigen Staat zu erhalten bzw. auszulöschen.

Das ganze Gerede davon, ob es nun ein sinnvolles/erreichbares Kriegsziel sei, die Russen auf den Stand vom 23.2.2022 zurückzuwerfen, erscheint mir demgegenüber völlig untergeordnet. Der Westen könnte prima damit leben, wenn Russland marginale territoriale Gewinne erzielt, dafür jedoch seine halbe Armee aufgerieben hat und künftig eine bis an die Zähne bewaffnete und in den Westen integrierte Ukraine an seiner Grenze dulden müsste. Denn faktisch hätte Russland dann den Krieg verloren.

Mit dem Verkünden von „realistischen Zielen“ ist es vermutlich nicht so leicht möglich, die Motivation der ukrainischen Bevölkerung und vor allem der Soldaten aufrechtzuerhalten. Vor diesem Hintergrund sollte man alle Äußerungen der ukrainischen Führung betrachten. Und natürlich können die Unterstützer im Westen dies nicht offen in Frage stellen.

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Zunächst mal wäre der Kampf auch dann sinnvoll, wenn er „nur“ dazu führte, Russland weniger gewinnen zu lassen. Und das ist derzeit eindeutig der Fall.
Gemessen an den Szenarien unmittelbar nach dem Kriegsbeginn hat die Ukraine bisher klar gewonnen im Sinne einer umfangreichen Schadensbegrenzung, indem den Russen ihre Kriegsziele bisher nahezu komplett um die Ohren fliegen. Wenn man sich den kümmerlichen „Vormarsch“ den die Russen unter maximalem Kräfteeinsatz erzielen, um völlig zerstörte und weitgehend entvölkerte Gegenden zu besetzen (kaum mehr als 1km/Tag), kann man dagegen in meinen Augen maximal von taktischen Erfolgen sprechen. Wenn man sich zusätzlich anschaut, welchen Effekt schon relativ wenige moderne westliche Waffen, wie die langstrecken Raketenwerfer der USA haben, ist auch diese Art taktischer Erfolge völlig davon abhängig, dass der Westen sich bisher bei Waffenlieferungen noch unerklärlich zögerlich zeigt. Die angebliche Eskalationsdominanz, auf die in dem Zusammenhang verwiesen wird, scheint mir auch eher spekulativ und eine wackelige Annahme zu sein, denn wenn das so einfach wäre, hätte Putin nicht massive militärische Nachteile in Kauf genommen um den Kriegszustand und eine Generalmobilmachung zu vermeiden. Das deutet stark darauf hin, dass er sich der Unterstützung der Bevölkerung und/oder Teilen der Elite nicht so sicher sein kann, wie deutsche Intellektuelle behaupten und es sehr wohl sein kann, dass Russland nicht in der Lage wäre, den Konflikt unbegrenzt zu eskalieren oder durchzuhalten. Umso mehr, als die Sanktionen ja ähnlich wie russische Gaslieferstopps erst wirklich „zubeißen“, wenn es Winter wird (schon jetzt prognostiziert die russische Zentralbank allerdings einen ökonomischen Zusammenbruch mit einer Schrumpfung des BIP um 10%, mutmaßlich noch eher zurückhaltend geschätzt)
Strategisch kann Russland schon jetzt nichts mehr in der Ukraine gewinnen, das den mutmaßlich langfristigen Zusammenbruch der Beziehungen mit Europa, den USA und den NATO-Beitritt Schweden und Finnlands aufwiegen würde. Vor Ort ist die Ukraine heute (zumindest soweit ich das als Außenstehender beurteilen kann) gefestigter, demokratischer und anti-russischer als vor der Invasion. Von daher ist in meinen Augen der Sinn des ukrainischen Widerstands sehr wohl gegeben. Besonders, wenn man sich die Verhältnisse in den russisch-besetzten Gebieten und den „Volksrepubliken“ vor Augen hält. Da halte ich es gradezu für amoralisch, den Ukrainern ihr Recht auf Widerstand und den Sinn ihres Kampfes abzusprechen. Gegen solche Barbarei ist kämpfen bis zum Schluss das einzig Sinnvolle. Wie bei vielen Spielen ist es auch im echten Leben manchmal sinnvoll, hochwertige Karten einzusetzen, selbst wenn die von Gegnern übernommen werden können, eben damit der Gegner diese Ressourcen an dieser Stelle einsetzen muss und nicht an anderer investieren kann.

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Eine (von sehr vielen) herausragende Analyse der Lage hinsichtlich der Bedeutung von Artillerie findet sich auf Youtube durch Perun: "Outgunned" - Artillery & The War in Ukraine - Developments, lessons, & logistics - YouTube Sehr empehlenswert, wie eigentlich alle seiner Videos zum Thema Ukraine.

Die Videos der Österreichischen Militärakademie schaue ich auch regelmäßig, ich schätze die (manchmal schon erschreckend) pragmatische Analyse.
In diesem Video geht Oberst Markus Reisner ein paar Szenarien durch und macht das Zeitfenster „nächstes Frühjahr / nächster Sommer“ auf; im Winter wird es möglicherweise „ruhiger“.

Wohlwissend, daß Krieg ein enorm dynamisches Geschehen ist und niemand voraussagen kann, was morgen geschieht, halte ich einen Gedanken an ein weiteres Jahr Krieg beim Meinungsbilden für nicht verschwendet.

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Danke für die Eröffnung dieses Threads. Ich habe mir darüber tatsächlich auch schon viele Gedanken gemacht und mich gewundert, warum die Prämisse „Die Ukraine kann nicht gewinnen“, meist ohne nähere Erläuterung ständig angeführt wird.
Abgesehen von politischen Motiven die hinter einer derartigen Behauptung / Interpretation stehen könnten (ist natürlich Spekulation), geht die Vorstellung von der Unbesiegbarkeit Russlands vermutlich auf die nominell wesentlich größeren Ressourcen Russlands zurück, das auf dem Papier mehr von allem hat.
Ich denke, man muss kein Militärexperte sein, um zu erkennen, dass mit dieser Prämisse etwas nicht stimmen kann. Hier mal meine Gedankenkette dazu: Je länger der Krieg dauert, desto größer (Stand jetzt) die Wahrscheinlichkeit, dass die ukrainische Armee stark genug wird, um einen russischen Sieg zu verhindern. Ergo: Russland ist an einem möglichst schnellen Kriegserfolg interessiert. Dazu scheinen aber die Mittel zu fehlen. Wir sehen aber keine großen russischen Reserven, die rasch in die Ukraine verlegt werden. Wir sehen keine großflächigen Panzerschlachten und kein großer Bewegungskrieg wie er uns im Mai / April noch prophezeit wurden. Stattdessen konnte man beobachten, wie die russische Armee, wenn sie alles zusammenkratzt, sich fast zwei Monate lang an einer einzigen Stadt abkämpft, die kleiner ist als Reutlingen (Grüße an die Nachbarstadt :wink: ). Man konnte beobachten, wie an er 1000 km langen Kontaktlinie an einem Abschnitt von vielleicht 20 km Breite überhaupt irgendwelche Fortschritte erzielt wurden. An einem guten Tag 1 km.
Klar, die Ukraine verliert diesen Kilometer am Tag. Aber gemessen an der Ausgangslage ist es nicht nur ein beachtlicher, sondern ein geradezu gewaltiger Erfolg, die zweitgrößte Armee der Welt auf einen 20 km breiten Frontabschnitt runterzudampfen. Die „Unbesiegbarkeit Russlands“ kann man meines Erachtens nur widerspruchsfrei konstatieren, wenn man dem tatsächlichen Kriegsverlauf keine Beachtung schenkt.
Zur Quellenfrage: Ich sehe mir regelmäßig die täglichen Berichte des „Institute for the Study of War“ an (ISW). Gibt es in zum Teil schlecht übersetzter und zusammengefasster Form auch auf Zeit Online.

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Auf die militärische Stärke der Konfliktparteien zu schauen und daraus zu folgern, dass die stärkere Partei zwangsläufig gewinnen müsse, ist ohnehin zuhöchst zweifelhaft. Letztlich konnte der Vietcong die USA besiegen, die Taliban konnten sowohl die Sowjets als auch die NATO langfristig besiegen, die Russen haben sich an Tschetschenien mehrfach fast die Zähne ausgebissen, bis sie es letztlich mit extrem hohen Verlusten einnehmen konnten (wobei das Gebiet bis heute nicht völlig befriedet ist…).

Es gibt einfach so viele Beispiele, in denen eine extrem viel mächtigere Kriegspartei gegen eine viel, viel schwächere in dem Sinne verloren hat, dass sich die stärkere Partei zurückziehen musste, weil sie einsehen musste, dass sie es nicht schaffen wird, den Krieg in einer sinnvollen Form, daher mit vertretbaren Verlusten, zu gewinnen.

Daher ist und bleibt der Zweck der Waffenlieferungen an die Ukraine, die Verluste auf russischer Seite und somit den Preis für den Krieg, den Russland zu zahlen hat, so weit in die Höhe zu treiben, dass selbst Putin diesen Krieg irgendwann nicht mehr gegenüber seiner Bevölkerung und seinen Generälen vertreten kann. Sowas würde man als „Defensiv-Sieg“ bezeichnen - der Sieg ist halt nicht, den „Angreifer restlos zu vernichten“, sondern dem Angreifer so viele Verluste zuzufügen, dass er sich zurückziehen muss.

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Das Skurrile dabei ist ja, das z.B. Russland ja für sich (vorrangig innenpolitisch) jederzeit den großen Sieg für sich verkünden kann. Bei einer „militärischen Spezialoperation“ ist das noch einfacher. Wenn er im Herbst verkündet, man habe den Donbass, die Krim und die Südukraine komplett erobert und die Ukrainer sind militärisch in die Steinzeit zurückgebombt, die Nazi-Herrschaft dort sei vernichtet, dann stellt das in Russland niemand offiziell in Frage, sondern man feiert das mit einer Parade.
Wen die Ukraine mit Gegenoffensiven Gebiete zurückerobert, wird das in den russischen Medien umgedreht zu belanglosen terroristischen Anschlägen.
Also letztlich greift hier das Pippi-Langstrumpf-Prinzip „Ich mach mir die Welt wie sie mir gefällt“. Das ist in der Kriegspropaganda allerdings nicht unüblich, auch die Aussagen der Ukraine sind schwer nachprüfbar und sollen wie schon erwähnt eine motivationale Wirkung haben.
Ob die Ukraine gewinnt, entscheidet demnach auch die Ukraine - per Definition.

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Ich weiß nicht, ob es wirklich so gemeint ist, aber das hört sich sehr schwarz / weiß an. Und - ich weiß ich widerhole mich – die Absolutheit der (moralischen) Grundsatzpositionen ist eins der größten Probleme in dieser Debatte – nicht zuletzt seitens der Lage.

Ja – für das Vorgehen gegen Russland muss man Risiken eingehen. Aber: es gibt aus gutem Grund rote Linien (Flugverbotszone etc.) die wir nicht überschreiten, auch wenn dadurch unsere Kriegsziele gefährdet werden.

Ja – Russland darf mit der imperialen Politik keinen Erfolg haben. Aber: dazu muss man nicht die Krim zurück erobern. Vermutlich noch nicht mal den Donbass (über letzteres kann man ganz sicher streiten).

Ja – die Durchsetzung internationalen Rechts ist wichtig. Aber: eine grundsätzliche konsequente Durchsetzung ist realpolitisch illusorisch. Dass wir im Fall der Ukraine hier all in gehen und im Falle Syriens nicht mal den kleinen Finger rühren ist kaum durch internationales Recht zu begründen sondern eher durch eigene Interessen.

Ja – die Ukraine hat ein Recht, selbst zu entscheiden, welche Gebiete sie zurückerobert. Aber: wir als Unterstützer haben weit mehr abzuwägen als nur das Recht der Ukraine ihre Grenzen wieder herzustellen. Dazu gehört sicher unser Interesse einer Abwendung eines russischen Erfolges. Auf der anderen Seite stehen unsere ganz unmittelbaren persönlichen Interessen, wie Wahrung des Wohlstands / des gesellschaftlichen Zusammenhaltes. Das ist sicher ein Interesse, das man etwas zurückstellen kann. Schwieriger ist das schon mit den internationalen Folgen, die ein längerer Krieg mit sich bringen würde.

Angenommen, wir würden uns entscheiden, einen langanhaltenden Krieg mit dem Ziel der Rückeroberung der Krim oder auch nur der Donbass-Regionen zu unterstützen, dann müssen wir neben unseren eigenen, sicher zu bewältigenden Problemen auch die internationale Energie- und Nahrungsmittelknappheit im Auge behalten. Um zu vermeiden, dass es in ärmeren Ländern zu einer humanitären Katastrophe kommt und sich diese Länder (freiwillig oder gezwungenermaßen) stärker Russland zuwenden, müssten wir aufhören den Weltmarkt von knappen Gütern leer zu kaufen.

Am Ende – und das ist der springende Punkt – müssen alle diese Dinge in die Waagschale geworfen werden:

  • Wie viele Tote Ukrainer und ggf. zum Kriegseinsatz gezwungene russische Soldaten würde der Konflikt fordern?
  • Wie realistisch ist es, das Kriegsziel zu erreichen? Welchen Nutzen hätte das Kriegsziel?
  • Wie weit müssen wir gehen, um Russland davon zu überzeugen, dass sich der Kriegseinsatz nicht gelohnt hat?
  • Wie hoch ist das Risiko einer nuklearen Eskalation bei Schritt XY?
  • Welche Folgen haben Krieg und Sanktionen auf die nationale und internationale Lage?
  • Welches Signal setzt eine Verweigerung der Hilfe an die Ukraine und wie würde es international aufgenommen?

Die Entscheidung für eine Handlung ist demnach aus meiner Sicht an eine Lageeinschätzung gebunden und nicht an grundsätzliche moralische Positionen. Daraus folgt zum einen, dass es völlig deplatziert ist, wenn sich Unterzeichner verschiedener offener Briefe gegenseitig Zynismus und diabolische Motive vorwerfen. Zum anderen zeigt es, dass eine realistische Einschätzung der Lage ungemein wichtig ist, auch wenn sie schwierig ist.

Die Forderung, die Ukraine nicht zu unterstützen, weil sie keine Chance hat, zu gewinnen ist demnach ebenso ein Fehlschluss, wie die bedingungslose Unterstützung der Ukraine bei ihren selbst gesetzten Zielen.

In der Konsequenz hat all das realistisch betrachtet keinen Einfluss darauf, dass wir jetzt sehr schnell viel mehr Waffen liefern müssen. Es könnte aber einen Einfluss darauf haben, wann wir aufhören sollten, zu liefern und welche Kriegsziele wir ausgeben.

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Aber genau das ist es doch, was wir nicht wollen, wenn wir sagen: „Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen“. Eben auch nicht ein bisschen (z.B. den Donbas erobern).

Nein, das wesentliche Kriegsziel sollte ein, die russische Führung davon zu überzeugen, dass sie letztlich gar nichts gewonnen hat. Andernfalls wird Russland nie aufhören!

Eben nicht. Sonst wird der Krieg nur eingefroren und Russland wartet ein paar Jahre um sich noch ein teil der Ukraine zu holen. Das hat mit Durchsetzen internationalen Rechts nichts zu tun.

Und die Ukraine wird damit schon gar nicht leben können … aber die fragt ja keiner …

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