Seit dem Bruch der Ampel wird von verschiedenen Seiten immer wieder über Gesetzesvorhaben zur Vermeidung der Kalten Progression geredet. Sowohl hier in der LdN in den letzten Folgen als auch von Politiker:innen wird immer wieder dieses Vorhaben als eine Maßnahme herausgestellt, die auch noch vor Neuwahlen verabschiedet werden sollte, um den Menschen ganz konkret in ihrem Alltag und in ihrer finanziellen Situation zu helfen. Soweit so gut und prinzipiell ja auch ein löbliches Ziel.
Mein Problem ist aber, dass es die kalte Progression doch gar nicht in dem Sinne gibt? Oder liege ich da völlig falsch (gerne dann auch korrigieren!). Die Idee, dass Menschen durch eine Gehaltserhöhung in eine insgesamt höhere Besteuerung reinrutschen, ist doch faktisch falsch, da wir eine progressive Einkommenssteuer haben. Nur jeder zusätzliche Euro würde höher besteuert werden, aber damit bliebe ja am Ende trotzdem mehr Netto über.
Vielleicht habe ich auch etwas komplett falsch verstanden, aber ich verstehe nicht, warum immer wieder die kalte Progression aufgegriffen wird, wenn es die so gar nicht in Deutschland gibt…
P.S: Mir ist schon klar, dass natürlich dann die Gehaltserhöhung sich nicht 1:1 aufs Netto überträgt und das für einige Menschen vielleicht blöd ist. Aber das ist ja nunmal grundsätzlich so bei einer progressiven Einkommenssteuer.
ich hatte die Existenz der kalten Progression hier im Forum auch schon mal angezweifelt, habe mich dann aber noch mal genau eingelesen und korrigiert:
Allerdings ist die Lage wohl auch so, dass die Korrektur der kalten Progression (also das Anheben des Grundfreibetrages und das anpassen des progressiven Steueranstieges) bedeutet, dass der Staat bei all jenen Arbeitnehmern, die vom Chef keinen Inflationsausgleich bekommen, quasi (Steuer-) Miese macht.
Denn
der Kaufkraftverlust führt ja auch zu einer Verringerung der realen Steuereinnahmen und
ist die Korrektur der kalten Progression ja erst einmal nur eine Steuersenkungen und solange der Chef keine Lohnerhöhung gewährt, die tatsächlich die Inflation ausgleicht verliert eben auch den Staat einen Teil seiner (inflationsbereinigten) Steuereinnahmen.
Es geht nicht darum, dass die Leute netto als absoluter Betrag weniger auf dem Konto haben, sondern netto weniger Kaufkraft besitzen.
Denn wenn bei z.B. 5% Inflation der Lohn zwar auch um 5% steigt, durch höheren Durchschnittssteuersatz das netto aber nur um 4 %, dann verliert die Person Kaufkraft, verdient also insgesamt weniger.
Werden die Stufen nicht angepasst wären wir in einigen Jahren an dem Punkt wo selbst Mindestlohnempfänger (sofern dieser mit der Inflation mitwächst) beim Spitzensteuersatz landen.
Deshlab entspräche durch immer weiter steigende durchschnittliche Steuersätze das Ausbleiben einer Erhöhung dieser Grenzen quasi einer Steuererhöhung, da der Anteil an Lohn der als Lohnsteuer abgezogen wird von Jahr zu Jahr steigen würde.
Ich würde dir zustimmen, ginge es um Gehaltserhöhungen für eine Beförderung oder so.
Bei der Diskussion um kalte Progression geht es aber um eine Lohnerhöhung zwecks Ausgleich von Kaufkraftverlust durch Inflation.
Nehmen wir bspw. eine jährliche Inflationsrate von 2%. Nun erstreiten die Tarifgemeinschaften eine Erhöhung der Löhne von ebenfalls 2% zum Ausgleich der Kaufkraftverluste der Belegschaft.
Tatsächlich führt die Kälte Progression nun aber trotzdem zu einem Kaufkraftverlust, da die Belegschaft auf ihre Lohnerhöhung höhere Steuern zahlen.
Ich denke mal ich weiß jetzt, was du meinst, @mxber . Und ich würde dir auch zum Teil recht geben, denn ich meine auch, dass im Podcast gesagt wurde, dass eine inflationsbedingte Gehaltserhöhung durch die kalte Progression aufgefressen würde. Aber das kam eben so rüber, als bliebe Nichts von der Gehaltserhöhung übrig. Das wäre aber mWn auch falsch.
Die kalte Progression sorgt halt „nur“ dafür, dass z.B. eine Inflation von 2 % nicht vollständig durch eine 2-prozentige Lohnerhöhung ausgeglichen werden kann, weil eben der Steuersatz steigt. Aber ich vermute mal, da Ulf und Philip sonst auch immer gut im Thema sind, dass sie sich da nur etwas unklar ausgedrückt haben.
Ich will mal ein Rechenbeispiel geben, so wie ich das Problem verstanden habe:
Sagen wir jemand verdient so, dass er als zu versteuerndes Einkommen (das sog. zvE) 15.000 € pro Jahr hat. (Wichtig: Das zu versteuernde Einkommen ist nicht das Bruttogehalt, den im Bruttogehalt sind z.B. noch die Sozialversicherungsabgaben enthalten, die beim zvE schon abgezogen sind.)
Von diesen 15.000 € zahlt ein Single in 2024 laut BMBF-Rechner (Quelle) genau 548 € Einkommensteuer (ESt). Es bleiben also 14.452 € Netto. Das ist die ursprüngliche Nettokaufkraft, sozusagen der Ausgangszustand.
Jetzt geht man z.B. von 2 % Inflation aus und gleicht diese durch eine Gehaltserhöhung aus. Dann steigt das zvE auf 15.300 € an. Laut ESt-Rechner erhöht sich damit die Steuer auf 610 € (Das ist ja der Effekt der kalten Progression). Damit bleiben noch 14.690 € übrig.
Da fehlt aber natürlich noch der Einfluss der Inflation, den die verringert die 14.690 € auf eine reale Kaufkraft von 14.401,96 €, das ist tatsächlich weniger, als die 14.452 €, die vor Gehaltserhöhung und Inflation zur Verfügung standen, genauer gesagt sind es 50,04 € weniger.
Aber dabei darf man nicht vergessen, dass dieser Realkaufkraftverlust ohne die Gehaltserhöhung noch höher ausgefallen wäre. Dann wären die ursprünglichen 14.452 € direkt auf 14.168,63 € geschrumpft und es stünden somit 283,37 € weniger an realem Einkommen zur Verfügung.
Verringertes Einkommen durch Inflation (o. Gehalts-Erhöh.):_____ 14.168,63 €
Neues Netto mit Inflation und Gehalts-Erhöhung ______________ 14.401,96 €
Man sieht also: Durch die Kalte Progression kann die 2-prozentige Lohnerhöhung den Kaufkraftverlust durch die 2 % Inflation nicht vollständig ausgleichen, aber es ist keinesfalls so, dass die Lohnerhöhung dadurch vollständig aufgefressen wird oder das gar weniger Netto-Kaufkraft als ohne Gehaltserhöhung bliebe.
Ich hoffe ich habe da keinen Fehler gemacht, aber so habe ich das Problem „Kalte Progression“ verstanden.
Das hat aber ja auch die Lage nicht behauptet, sondern lediglich, dass die Kaufkraft des Einkommens durch die kalte Progression sinkt.
Und es würde eben auch dafür sorgen, dass die Steuereinnahmen unter der Annahme, dass die Löhne gemäß der Inflation steigen kaufkraftbereinigt immer weiter steigen würden, weshalb es praktisch eine Steuererhöhung durch die Hintertür ist.
Die Mehrbelastung mag gering sein, wenn wir das nur von einem Jahr aufs nächste rechnen, aber über die Jahre wäre es deutlich spürbar.
Naja, niemand hat behauptet, dass die kalte Progression den Bezieher einer inflationsausgleichenden Gehaltserhöhung schlechter stellt, als den, der nicht einmal eine inflationsausgleichende Gehaltserhöhung bekommt.
Nein, es bleibt real weniger als nichts übrig. Die „Gehaltserhöhung“ selbst sorgt ja schon nur dazu, dass man genau so viel hat wie vorher. Man bekommt 0 Kaufkraft dazu. Wenn man dann aber noch mehr Steuern zahlt, dann hat man trotz Inflationsanpassung weniger.
Außerdem: wenn man die kalte Progression nicht irgendwie eindämmt, dann zahlt man in 25-40 Jahren Spitzensteuersatz bei Mindestlohn.
Die Rechnung war nicht als Antwort auf die Aussage in der LdN gedacht, sondern bezogen auf den Beitrag von @ThomasAnderson .
Naja ursächlich ist doch erstmal die Inflation für den Kaufkraftverlust und nicht die progressive Einkommenssteuer.
Aber es stimmt natürlich, dass durch den progressiven Anstieg ein „einfacher“ Inflationsausgleich (also Lohnanstieg = Inflation) zu wenig ist um die Kaufkraft zu erhalten.
Fair enough, da habe ich vermutlich eine andere Vergleichsgrößen. Wenn ich von einer Gehaltserhöhung spreche, dann vergleiche ich das mit der Situation ohne Gehaltserhöhung aber mit Inflation, weil mir das am realistischten erscheint.
Wenn man natürlich immer automatisch eine inflationsausgleichende Erhöhung „erwartet“, dann stimmt deine Betrachtung natürlich. Und das wird vermutlich auch der allgemeine Ansatz sein.
Mich persönlich stört dabei aber immer ein bisschen, dass es so klingt, als würde der Staat einem da vorsätzlich etwas wegnehmen. Aber das mag vielleicht auch nur meine individuelle Sicht sein.
Aber so ist es doch. Die Existenz der kalten Progression ist hinlänglich bekannt und wenn man dagegen nichts unternimmt, dann will man wohl, dass Bürger absolut und relativ immer mehr Steuern zahlen, selbst wenn sich ihre Kaufkraft nicht verbessert.
Die Lösung des Problems ist relativ banal und ich kreide allen Parteien die je in Regierungsverantwortung waren sehr negativ an, dass man da nichts gegen gemacht hat. Auch jetzt will man das Problem ja nicht lösen, sondern nur vertagen.
Der allgemeine Ansatz ist, dass der durchschnittliche Steuersatz immer weiter steigt wenn die Inflation ausgeglichen wird und das ist nunmal nichts anderes als eine Art der Steuererhöhung.
Ohne Anpassungen würde die Bevölkerung immer mehr Anteil des Lohnes als Lohnsteuer abführen und der Staat würde die Einnahmen über das Maß der Inflation hinaus erhöhen.
Würde der Staat heute den Freibetrag senken und die Grenzen der Sätze ebenso, dann würde doch auch keiner sagen, dass das keine Steuererhöhung sei weil man schliesslich ja trotzdem mehr netto bekommt wenn man gleichzeitig eine Gehaltserhöhung bekommt.
Deine Rechnung kann man nachvollziehen. Eine Frage noch:
Wäre es aber nicht so, dass bei der Anpassung oben und unten angehoben wird? Also das zvE ggf. auch ohne Lohnerhöhung kleiner wird, da der Freibetrag steigt?
Dann würde bei Personen ohne Lohnerhöhung wenigstens das zvE kleiner werden, z.B von 15000€ auf 14700€ sinken.
Dh die Eckpunkte zu 14%, 24% 42% verschieben sich jedes Jahr. Der für 45% bleibt auch mal fix.
Früher dachte ich, das passiert nur sehr selten. Dann könnte man von einer „kalten“ Progression sprechen: über mehrere Jahre steigt das Gehalt, und selbst wenn das nur ein Inflationsausgleich ist, würde man so in der Steuerkurve „hochrutschen“.
Tatsächlich ist das Erhöhen der Eckpunkte aber eine jährliche Sache.
Da kann man sich die Tabellen runterladen. Steuertabellen
Das Problem ist der §32a, der die Berechnung enthält.
Da dort statische Zahlen drin stehen, muss er jährlich durch ein Änderungsgesetz angepasst werden.
Man könnte auch eine Variable einsetzen und die mit dem offiziellen Wert der Inflationstabelle füllen. Der Staat weil aber lieber die Kontrolle behalten (was im Hinblick der theoretischen Gefahr einer plötzlichen unerwarteten Hyperinflation vielleicht auch besser ist).
In irgendeinem anderen Thread hat jemand letztens eine Grafik gepostet, die gezeigt hat, dass der Durchschnittslohn (oder Median wäre besser) in der Vergangenheit immer weiter an den Spitzensteuersatz herangekommen ist. Das würde ja dafür sprechen, dass die kalte Progression nicht ausreichend bekämpft wurde oder? Sofern es der Medianlohn war
Stimmt natürlich. Aber in den letzten Jahren wurde ja etwas dagegen unternommen, wie @Marie-Luise ja angemerkt hatte.
Stimmt, aber in diesem Jahr ist genau diese Lösung ja ausgeblieben, wie Ulf und Philip ja in der Lage gesagt haben, da die Union ja jetzt ihre Zustimmung zu dem aktuellen Steuerfortentwicklungsgesetz (Link zur Drucksache des BT) verweigern wird. Aber mit genau diesem Gesetz würde ja die notwendigen Anpassungen des Grundfreibetrages und der Eckpunkte der Steuerprogressionskurve erfolgen.
@pbf85
Ich denke mal von den Fakten her sind wir uns einig. Wir haben vermutlich nur aus politischen Gründen andere Sichtweisen auf das Problem.
Das wäre dann aber nicht der Grundfreibetrag, um den es bei der kalten Progression, nach meinem Verständnis immer geht, sondern einer der anderen Freibeträge (z.B. der Kinderfreibetrag), da diese tatsächlich vor der Festlegung des zu versteuernden Einkommens (zvE) abgezogen werden.
Aber nach meiner Auffassung werden diese (anderen) Freibeträge aber nicht zur Bekämpfung der kalten Progression genutzt, da sie eben für andere Zwecke gedacht sind, wie zum Beispiel die Entlastung von Familien mit Kindern.
Das ist z.B. in meinen Augen ein guter Grund für die aktuelle Regelung, also statische Zahlen im Gesetz und dann jährlich anpassen.
Das diese Anpassung in diesem Jahr an der mangelnden Kooperation von CDU und FDP nach dem Ampel-Aus scheitern dürfte, werden deren (gut verdienende) Wähler hoffentlich bis zum Wahltermin nicht vergessen, da sie ja bis zur Anpassung im nächsten Jahr mehr Steuern bezahlen werden.
Theoretisch kann man das Gesetz im November beschließen und alle Löhne im Dezember nachrechnen lassen. Und die Steuererklärungen gibt es ja auch noch.
Das Thema läuft nicht weg.