Also die These geistert ja jetzt seit Wochen durch die Medien, mit unterschiedlichen Jahreszahlen. So richtig plausibel erklärt, wie genau ein Russland, welches nicht in der Lage ist die vom Westen unterversorgte Ukraine aus dem Feld zu schlagen, dazu in der Lage sein wird, hat allerdings niemand.
-Der derzeitigen Berichterstattung zum Ukrainekrieg entnehme ich, dass Russland WK II Panzer aus dem Museum holt, weil die insane hochgetunte Rüstungsindustrie nicht in der Lage ist, die verheerenden Verluste zu ersetzen. Die industrielle Rüstungsproduktion ist aber schon ziemlich am Anschlag, nicht umsonst holt Russland ja bereits Munition und Soldaten aus Nordkorea, weil man aus eigener Produktion den Bedarf derzeit nicht decken kann.
-Wenn ich mich im Internet über Russlands Waffensysteme versuche zu informieren, dann haben die von ihren wirklich modernen Systemen immer eine verschwindend geringe Anzahl, die sie nicht mal in der Ukraine einsetzen. Diese Systeme können sie aber auch mit ihrer Kriegswirtschaft nicht einfach unbegrenzt nachproduzieren.
- Der Hinweis, dass Russland seine Landstreitkräfte umorganisiert mit Fokus auf den Westen ist auch irgendwie billig: Selbstverständlich strukturieren sie ihre Landstreitkräfte um, immerhin funktioniert es im Moment ja nicht besonders gut. Dass sie das im Westen tun ist auch logisch, weil sie da zum einen Krieg dort führen und sich im Osten die Flanke freigeschaufelt haben, weil dort mit China und Nordkorea „neutrale Verbündete“ sitzen. Also aus diesem Punkt allein einen Angriffskrieg herauszuorakeln finde ich total schwierig. Ganz Europa organisiert ja derzeit auch seine Truppe um - wir haben sogar welche an die russische Grenze nach Litauen verlegt - und dennoch plant Deutschland keinen Angriffskrieg gegen Russland. Umorganisation ist gerade Teil des Geschäfts und mir ohne weiteren Kontext als Argument einfach zu wenig.
- (Wie immer: Erwägt Russland wirklich Deutschland letztenendes mit Atomwaffen anzugreifen, dann erzeugt man da durch konventionelle Rüstung keine Abschreckung).
- Russland muss ja die NATO auch erstmal spalten bis 2030, damit Deutschland allein da steht. Das werden sie versuchen, aber ein Erfolg dieser Strategie ist ja auch mitnichten ausgemacht.
Damit sage ich nicht, dass so ein Angriffs Russlands auf Deutschland vollkommen ausgeschlossen ist - theoretisch ist er ohnehin immer denkbar. Die Frage ist ja, inwiefern er angesichts der eben nur angerissenen Punkte (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) auch realistisch ist. Was mir daher in diesem Zusammenhang im Lagesegment gefehlt hat, ist eine kritische Betrachtung der Akteure, die derzeit vor einem Angriff warnen. Genannt wurden Geheimdienstchefs, der Verteidigungsminister und seine Generäle - das sind aber alles interessierte Akteure. Sie alle respräsentieren Einrichtungen, die ein Interesse daran haben diese Gefahr als sehr real zu portraitieren, damit ihre jeweiligen Einrichtungen Geld und Kompetenzen bekommen. Das heißt nicht, dass sie zwingend lügen, aber dass hier ein Interessenskonflikt bestehen könnte, der sie hinsichtlich eines drohenden Angriffs etwas dicker auftragen lässt, sollte zumindest mal thematisiert werden. Das muss mMn sogar zwingend immer gemacht werden, wenn die „Expterten“ zugleich interessierte Parteien sind.
Außerdem finde ich, dass man konkreter hinterfragen müsste, wie ganau Russland die oben angerissenen Hürden denn bis 2030 überkommen soll/will. Die in verschiedenen Geschmacksrichtungen wiedergegebene Aussage „Russland rüstet auf“ ist halt nicht selbsterklärend, wenn sie derzeit ihren gesamten Rüstungsfortschritt in der Ukraine gleich wieder verschrotten. (Von der zu betrachtetenden Frage, ob Russland wirtschaftlich in der Lage wäre diese Rüstungsanstrengungen mit ~30% GDP bis 2030 durchzuhalten, mal ganz abgesehen).
tl;dr:
Die Vorraussage, dass Russland bis 2030 bereit für einen Angriff auf NATO / Deutschland wäre, ist nicht selbsterklärend und braucht konkrete Erläuterungen, wie das in Anbetracht großer Herausforderung eigentlich geschen könnte. Das bloße Expertenwort reicht hier nicht, insbesondere wenn die in diesem Zusammenhang genannten Experten alle auf die ein oder andere Weise als interessierte Akteure zu gelten haben. Deren potentielle Interessenskonflikte wären bei der Betrachtung des Sachverhalts ebenfalls hervorzuheben.