LdN 330 - Interview mit Ronen Steinke - Klassenjustiz?

Erst mal ein fettes Dankeschön für dieses ausführliche und sehr interessante Interview mit Ronen Steinke! Ich fand es ebenso erhellend wie erschreckend zu erfahren, welchen krassen „sozialen Bias“ das Strafsystem (kann man das so nennen?) in Deutschland hat.
Ich denke gerade über das nach, was Steinke zum Begriff „Klassenjustiz“ gesagt hat. Natürlich leben wir nicht mehr in den 1920ern, natürlich gibt es keine so klar abgegrenzten sozialen Klassen mehr und natürlich hat es diverse Öffnungen gegeben, aber wenn einerseits ein so hoher Anteil von Verurteilungen Menschen mit bestimmten Vergehen und aus bestimmten sozialen Lagen bzw. mit bestimmten psychischen Dispositionen trifft und andererseits ein (vermute ich mal) sehr hoher Anteil an Staatsanwält:innen und Richter:innen aus eher besser gestellten sozialen Schichten kommen, ist das von der Tendenz her ja nicht grundlegend anders oder?
Die einfachste Lösung für mich wäre daher eine Entkriminalisierung von Handlungen, bei denen a) die Verhältnismäßigkeit der Strafe zum verursachten Schaden nicht gegeben ist (etwa ein halber ALG-II- Satz weg wegen eines Ladendiebstahls im Wert von € 3,50, oder b) bei deren Bestrafung keine individualpräventive Wirkung absehbar ist (etwa bei sogenanntem Mundraub oder Fahren ohne Ticket). Ich bin, wie sicher zu merken ist, kein Jurist, aber das derzeite System, so wie Steinke es geschildert hat, klingt für mich wie eine Ansage: Ja, wir wollen einen Großteil unserer Ressourcen auf die Strafverfolung von Menschen verwenden, denen es eh schon mies genug geht.

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Hallo liebe Lage,

ich fand hier einige Fehler und war sehr enttäuscht, obwohl ich das Thema im Ergebnis total richtig und wichtig finde und ich mich total gefreut habe als ihr das zum Thema gemacht habt.

Es fehlt, dass seit etwa drei Jahren (2019?) einem Beschuldigten noch vor Beschuldigtenvernehmung ein Pflichtverteidiger bestellt werden muss, wenn ein Haftbefehl beantragt werden soll/Haftgründe vorliegen.

Eine total sinnvolle Gesetzesänderung, die scheinbar dem Interviewpartner nicht bekannt ist (140a II 1 Nr.1 StPO). Hier war die Aufzählung unvollständig.

Ausserdem zum Beispiel der Dame mit Demenz: jeder/jede Beschuldigte wird von der Polizei vernommen und dies doch in aller Regel persönlich- genau hier fällt dies doch auf und wird dann auch vermerkt. Dann wird nach 140 I Nr.10 seitens der StA ein Pflichtverteidiger bestellt. Das habe ich zigmal erlebt - spätestens in der Hauptverhandlung wird doch dann unterbrochen und ein neuer Termin mit Pflichtverteidiger bestimmt falls es aus irgendeinen Grund bei der polizeilichen Vernehmung nicht auffiel. Bei Zweifel wird ein Gutachten in Auftrag gegeben. Dass die Justiz bei alkoholkranken Obdachlosen in Einzelfällen nicht die selbe Fürsorge an den Tag legt, ist ein anderes Thema.

Schliesslich wird von 153a doch nicht nur bei komplexen Fällen Gebrauch gemacht, sondern gerade auch bei der Alltagskriminalität, zB bei Ersttätern bei Diebstahl von Sachen mit geringem Wert oder bei Betrug von Sozialleistungen, weil eine Arbeitsaufnahme zu spät angezeigt wurde- aber eben nur um wenige Tage. Dass dieses Instrument nur den Privilegierten nützt, kann ich nicht nachvollziehen. Auch den Privilegierten ist sicherlich richtig.

Beste Grüsse und dennoch Danke für das Aufgreifen des wichtigen Themas.

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Liebe Lage,

ich teile die inhaltliche Kritik von „MagKuchenMitBuch“. Ihr möchte ich noch hinzufügen, dass die Strafprozessordnung sehr wohl Rechtsmittel gegen Entscheidungen der Staatsanwaltschaft kennt (insbesondere § 458 StPO, der eine Vielzahl der von Euch aufgezeigten Fälle erfasst), die es ermöglichen, dass eine Richterin noch einmal über eine Entscheidung drüberschaut. Über diese Rechte wird auch belehrt. Im Übrigen werden Strafbefehle NICHT von der Staatsanwaltschaft erlassen, das ist in dem Podcast jedenfalls nicht eindeutig klargestellt worden, nachdem es aber eindeutig falsch ausgeführt wurde (ab Minute 37:45). Erschreckend in diesem Zusammenhang, dass Herrn Bandes Einwurf „Und wir haben Sie nicht angehört“ (Minute 37:55) unwidersprochen bleibt, obwohl §§ 163a/169a StPO auch im Strafbefehlsverfahren gelten und ein Strafbefehl deshalb niemals ohne die Möglichkeit zu rechtlichem Gehör ergehen darf.

Daneben möchte ich zu Bedenken geben: wir haben im demokratisch verfassten, gewaltengeteilten Rechtsstaat die Justiz, die sich der Souverän zu leisten bereit ist. An ihr ist sicherlich vieles nicht in Ordnung und ganz besonders teile ich die Kritik, dass sie viel zu wenig divers ist. Aber wenn man sie kritisiert, dann sollte man auch die Rechtstatsachen richtig darstellen. Und man sollte den Menschen auch reinen Wein einschenken: das Recht der Armen zu bezahlen ist Aufgabe der Reichen. Die Partei will ich sehen, die damit Wahlkämpfe führt und gewinnt.

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Formaljuristisch mag das ja stimmen, aber was bedeuten die Möglichkeiten, Rechtsmittel einzulegen und die Möglichkeit zum rechtlichen Gehör denn praktisch in Fällen wie denen, die Steinke geschildert hat? Diese Regelungen setzten ja Menschen voraus, die über ausreichende Kompetenzen und Ressourcen verfügen um diese Möglichkeiten auch auszuschöpfen oder liege ich da falsch?

Um es mal etwas polemisch zu fassen: Das macht doch jede Partei, die Law-and-Order-Wahlkampf betreibt, wenn sie lieber Gefängnisse bauen und Polizist:innen einstellen will, als z. B. bezahlbaren Nahverkehr und Sozialarbeiter:innen zu finanzieren, was für die Allgemeinheit deutlich günstiger sein dürfte.

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Ein super interessantes Thema, fand es aber etwas enttäuschend, dass es so dargestellt wurde als müssten Geldstrafen immer sofort und vollständig bezahlt werden, weshalb Leute die am Existenzminimum leben dadurch besonders belastet würden und die Möglichkeit der Anordnung der Ratenzahlung nach 42 StGB komplett außen vorgelassen wurde. Von dieser wird meines Wissens nach zumindest in BW regelmäßig Gebrauch gemacht. Natürlich belasten Geldstrafen Menschen ohne Rücklagen (unangemessen) mehr, dass sie sich jedoch aufgrund von 50 Tagessätzen von je 10 EUR automatisch z.B. einen Monat nichts zu essen leisten können ohne dass es andere Möglichkeiten als die Herabsetzung der Höhe der Tagessätze gäbe, stimmt daher nicht so ganz.

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Das ist das zweite Problem, das ich persönlich mit der Folge habe: sie beruht im Wesentlichen auf anekdotischer Evidenz IM Gerichtssaal. Der Podcast reißt drei oder vier Fallkonstellationen auf - in einer durchschnittlichen Strafrichtersitzung werden dreimal so viele Fälle am Tag verhandelt. Mir fehlt die Antwort auf die Frage, wie viel der „Elendsstraftaten“ es erst gar nicht in das Gericht schaffen, weil sie bereits bei der Staatsanwaltschaft ausgefiltert werden. Und wie groß der Anteil der aufgezeigten Probleme, die es sicherlich gibt und gegeben hat, an den hunderttausend Fällen ist, die Strafrichterinnen und Strafrichter jedes Jahr zu entscheiden haben. Phillip hat genau das mehrfach nachgefragt - und keine einzige befriedigende Antwort erhalten.

Ich will gar nicht bestreiten, dass psychische Probleme die Begehung von Straftaten begünstigen. Aber nicht alle Bagatellstraftäterinnen sind psychisch krank oder so limitiert, dass sie nicht das Wort „Beschwerde“ auf ein Blatt Papier schreiben können. Die Staatsanwaltschaft muss - und nach meiner Erfahrung tut sie das auch - selbst solche Schreiben stets für den Verfasser günstig auslegen (§300 StPO), so dass sich dann eine Richter*in beschäftigen wird. Aber was soll er/sie denn dann entscheiden: das ist formalistisches Vollstreckungsrecht. Es gibt ein Urteil, es gibt einen Tenor und die Strafe ist nicht gezahlt. Auch ein Richter kann dann nur auf Ersatzfreiheitsstrafe befinden, es sei denn, ihr/ihm wäre die Macht an die Hand gegeben, selbständig über die Vollstreckung von Strafurteilen zu entscheiden. Na dann Prost Mahlzeit - in einer Welt, in der ein Richter unabhängig entscheiden kann, ob ein einmal im Namen des Volkes gefälltes Urteil vollzogen werden soll, möchte ich nicht leben. Dann braucht es nämlich gar keine Richterinnen und Richter mehr.

Und wenn denn tatsächlich eine Erkrankung dazu führt, dass man keine Briefe öffnet: in jedem Bundesland hat Strafvollzug die Aufgabe, zu resozialisieren. Das natürlich unter finanziell angespannten Bedingungen, aber was, wenn die Inhaftierung zur Folge hat, dass ein engagierter Sozialdienst der JVA sich erstmals eines Menschen annimmt? Auch diese Seite wird nicht beleuchtet.

Ich will auch nicht ausschließen, dass psychisch kranke Menschen durch das Raster der Massenjustiz fallen. Ob sie aber die Praxis in amtsrichterlichen Gerichtssälen dominieren - das würde ich aus meiner forensischen Erfahrung verneinen wollen. Daneben gilt halt auch der alte Grundsatz: die Spitzen des Rechts sind nicht das Recht. - summum ius, summa iniuria. Es ist gut, dass auf diese Gruppe von Menschen in diesem Podcast aufmerksam gemacht wird. Aber dafür unter teilweiser falsch-verkürzender Darstellung der Rechtslage die Systemfrage zu stellen, greift vielleicht ein wenig kurz. Auch wenn Rechtsthemen immer eine gewisse Simplifikation brauchen, damit sie in der Breite aufgenommen werden.

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Sehr interessante Folge, und das ist natürlich ein großes Problem…
Aber irgendwie hätte ich mir noch mal konkreter gewünscht da über Lösungsansätze zu sprechen zumindest das Gesagte am Ende nochmal zusammenfassen (Erstens, Zweitens, Drittens…), so fehlte mir da etwas der rote Faden.

So ganz ist mir auch nicht klar, wie man das nun machen soll… Okay, den Hartz4-Empfänger mit Haftstrafen zu belasten ist nicht angemessen. Habe ich verstanden… Geldstrafe logischerweise auch nicht… Okay…

Und nu?

Einfach auf irgendwelche Konsequenzen zu verzichten kann ja nun auch nicht der Weg der Wahl sein. Stelle mir auch die Frage, ob man die Haft-, und Verfahrenskosten hier wirklich als Maßstab heranziehen sollte und das in andere Dinge umrechnen sollte (die erwähnte Rechnung, dass der Verzicht auf Strafverfolgung, den öffentlichen ÖPNV finanzieren würde, möchte ich auch gerne mal sehen)
Das sind imo einfach Kosten die in einer Gesellschaft entstehen und die auch einfach wichtig sind.

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Exakt. Hier hat sich Ronen Steinke ja auch auf Nachfrage um eine Antwort gedrückt. Dabei wäre genau das ja der springende Punkt. Was ist eine sinnvolle Alternative?

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Ich hätte mir auch gewünscht, dass sich intensiver auch kritisch mit den Argumenten außeinandergesetzt wird, denn ich halte einige Vorträge von Steinke für Effekthascherei, jedenfalls aber werden Argumentationsstränge vermischt.

Fast alles was er sagt, lässt sich letztlich darauf zurückbrechen, dass Armut negative Konequenzen mit sich bringt, die damit zusammenhängen, dass Geld fehlt. Danke dafür! Das ist natürlich richtig, aber keine große Entdeckung sondern Konsequenz einer politischen Systementscheidung. Es ist auch unfair, dass Arme und Kranke sich kein so tolles Essen leisten können wie Andere. Das ist dann aber Grundsatzkritik. Sich einen spezifischen Lebensbereich (Justiz) raussuchen und diesem dann vorzuwerfen in diesem System konsequent zu agieren, halte ich insgesamt für einen schwachen Ansatz.

Außerdem wird durchgehend strafprozessuale Praxis mit straftheoretischen Verhältnismäßigkeitserwägungen durcheinandergebracht. Es mag unfair sein, dass bzw. wie wir Elendsdelikte bestrafen. Das sind aber gesetzliche Entscheidungen, denen gegenüber die Justiz neutral stehen muss. Es kann nicht Aufgabe der Justiz sein, vermeintliches Unrecht bestehender Strafnormen durch eine entsprechende Praxis vollständig aufzufangen. Das Buch lässt sich aber letztlich so lesen, als ob die Justiz an ungerechten Strafgesetzen (Mit-)Schuld trägt. Dieser Vorwurf müsste viel tiefer erläutert werden.

Letztlich basieren auch die meisten kritischen Punkte auf der klassischen Boomer Prämisse, dass Geld und nicht das Angebot knapp sind. Der Staat müsse ja nur mehr Richterstellen schaffen („immer gut“) und es wäre auch fair, jedem Angeklagten einen Pflichtverteidiger breitzustellen. Klar! Aber wer solls machen? Praktisch würde das ja bedeuten, dass man die Menge der Staatsanwäöte verdoppeln müsste, wenn jedem StA in der Verhandlung ein PV gegnüberstehen soll. Dies Menge an Anwälten gibt es einfach nicht. Die Justiz muss ja jetzt schon Notenanforderungen senken um genug Leute zu kriegen. Da hilft alles Geld der Welt nicht, man kann nicht kaufen was es nicht gibt.

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Mich beschäftigt vor allem eine Frage.
So wurde gesagt, dass man sich das Geld (die Strafe) ja von jemand anderem erstatten lassen könne.
Das ist nach meinem Verständnis dann eine Schenkung und dementsprechend würde bei hohen Strafen Schenkungsteuer anfallen?
Wer das über crowdfunding macht, ist natürlich fein raus.
Aber im Falle des VW-Chefs (ich nehme an Winterkorn) hat das ja sein Unternehmen gemacht. Da muss er ja dann dementsprechend zumindest um die 30% nochmal draufgezahlt haben, wenn es als Lohn gesehen wurde, evtl. sogar noch mehr.

Oder greift hier das überwiegende betriebliche Interesse? Das wäre dann schon zu hinterfragen, ob das dem Sinn einer Bestrafung dann nicht zuwider läuft.

Ich habe das Buch nicht gelesen, aber was das Interview angeht finde ich nicht, dass Steinke den Eindruck erweckt hat, dass die Justiz verantwortlich für die Gesetze ist, die sie umsetzt.

Und ja, er hat eine Grundsatzkritik formuliert, und zwar eine grundsätzliche Kritik an der Blindheit der Gesellschaft (bzw. der sozialen Gruppen, die in staatlichen Institutionen und Medien vorwiegend agieren) gegenüber bestimmten sozialen Lagen und dem damit verbundenen „Klassencharakter“ der Justiz sowie an dem eklatanten Widerspruch, in dem dieder zur im Grundgesetz verbrieften Gleichheit vor dem Gesetz steht.
Steinke hat aber meines Wissens nie behauptet, dass es diese Probleme nur in der Justiz gibt oder dass die Justiz allein für dieses gesellschaftliche Verhältnis zu Armut verantwortlich wäre.
Daher würde ich mir eher noch mehr ähnliche Analysen sozialer Ungleichheit in anderen Bereichen der Gesellschaft wünschen (z. B. Bildung, politische Partizipation oder Gesundheit).

Es wäre auf jeden Fall schon mal gut, Fahren ohne Fahrschein würde auf eine Ebene mit Falschparken gestellt, ersteres ist eine Straftat, letzteres eine Ordnungswidrigkeit, bei dem dann die Verkehrsbetriebe selbst einen zivilrechtlichen Prozess anstrengen müssten.

Bei Straftaten bzw. einem Offizialdelikt muss meinem Verständnis nach die Staatsanwaltschaft selbstständig anklagen. Auch ob der Diebstahl eines Apfels vom Baum nun gesellschaftlich wirklich „schlimmer“ ist, als das Zuparken eines Behindertenparkplatzes ist für mich fragwürdig. Mit Steuerhinterziehung will ich hier gar nicht anfangen.

Die Beispiele sind kein Problem der Justiz sondern solche des Gesetzgebers. Vermutlich sollte es nicht Klassenjustiz sondern Klassenlegislatur heißen.

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Hinter der Grundsatzkritik stehe ich auch total, aber ich finde schon, dass der Kontext nicht klar wird. Ich finde auch super, dass überhaupt das Thema mal auf den Tisch kommt.
Zum Thema rechtliches Gehör bei Vollstreckung der Ersatzhaft wird ja z.B. schon gestritten, aber nur im Fachkontext (RiBvferG Radtke sieht sie z.b. auch als notwendig an). In der Hinsicht ist das Buch natürlich sehr wertvoll!

Vielleicht ist das auch zu sehr mein persönlicher Eindruck, dass hier zu sehr versucht wird, der Justiz als gesellschaftlichem Teilbereich ein gesamtgesellschaftliches Problem in die Schuhe zu schieben.

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Genau.
Außerdem bitte Autos, die Fußgänger und Radfahrer durch Falschparken behindern, direkt abschleppen. Die Ordnungswidrigkeitsstrafe für solche Leute ist viel zu gering. Das ist kein Kavaliersdelikt.
Und hier sieht man auch wieder ein Ungleichgewicht: Menschen, die sich gar kein Auto leisten können, werden für vergleichbare „Taten“ viel, viel härter bestraft. Das ist kein Zufall, denke ich.

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Das ist etwas durcheinander. Die Ahndung der Owi obliegt der Verfolgungsbehörde und es gilt das „Opportunitätsprinzip“, § 47 OwiG. Die Behörde entscheidet also anders als im Strafverfahren (dort „Legalitätsprinzip“) nach Ermessen. Man kann aber auch im Rahmen des Owi-Verfahren in Erzwingungshaft, § 96 OwiG. Die Abstufung des „Schwarzfahrens“ zur Owi bringt also in der Hinsicht nicht so viel.

Mit den zivilrechtlichen Ansprüchen der jeweils Geschädigten hat das alles aber nicht zu tun.

Nein, das ist schlicht nicht der Fall.
Jeder Beschuldigte wird von der Polizei vorgeladen, aber der Vorladung zu Folgen ist weder gesetzlich vorgeschrieben, noch i.d.R. empfehlenswert. Allenfalls, wenn die Person auf frischer Tat ertappt und vorläufig festgenommen wird erfolgt eine Anhörung oft vor der Entlassung (auch die ist natürlich nicht verpflichtend!). Aber da wir hier über Straftaten reden, die im Strafbefehlsverfahren gelöst werden, sind das in aller Regel keine Straftaten, bei denen es zu einer vorläufigen Festnahme gekommen wäre.

Gerade die Personengruppen, über die wir hier sprechen (Demente, die überfordert sind, Depressive, die ihre Post nicht öffnen können usw.) werden regelmäßig nicht von der Polizei vernommen. Die werden irgendwo bei einer Straftat erwischt, die Mitarbeiter nehmen die Personalien auf und leiten die Anzeige zur Polizei weiter. Auf die Vorladung der Polizei zur Vernehmung wird dann - aus oben genannten Gründen - nicht reagiert, sodass es auch zu keiner Vernehmung kommt.

Hier muss man klar zwischen Theorie und Praxis unterscheiden.
Ja, ein Gericht muss bei einem Strafbefehlsverfahren zustimmen, aber das ist in der Praxis eine reine Formalie, weil die Richter in aller Regel auf die Einschätzung der Staatsanwälte so weit vertrauen, dass sie den Fall maximal überfliegen. Da findet jedenfalls keine eingehende rechtliche Prüfung statt.

Bei dem von dir angeführten § 163a StPO weise ich auf Abs. 1 S. 2 hin, denn da spielt die Musik:

Und da sind wir dann wieder beim rein schriftlichen Verfahren, in dem der Beschuldigte aus o.g. Gründen nicht antworten kann und folglich auch keine wirksame Anhörung stattfand. Zumindest ist es mehr als vertretbar, zu argumentieren, dass eine Anhörung auch voraussetzt, dass sie vom Betroffenen faktisch in Anspruch genommen werden kann (siehe Dolmetscher-Pflicht und co.), was hier im Hinblick auf psychische Störungen, die das ausschließen, nicht der Fall ist.

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Aber genau um diese Leute geht es. Es spielt dabei keine Rolle, ob die Gruppe besonders groß ist. Sie existiert. Das genügt, um eine Änderung zu fordern. Es geht in dem ganzen Beitrag natürlich nicht um Menschen, die einfach keinen Widerspruch einlegen wollen, sondern um solche, die es tatsächlich nicht können.

Das Resozialisationsziel im Strafvollzug ist ein ehrenwertes Ziel, keine Frage.

Aber es darf nicht dazu führen, dass wir den Strafvollzug als Therapie-Ersatz betrachten. Im Strafvollzug sollen ausschließlich Menschen landen, die nach dem Schuldprinzip bestraft werden sollen - wenn nun regelmäßig durch das Strafbefehlsverfahren Fälle im Strafvollzug landen, die im Falle eines Gerichtsprozesses möglicherweise als Schuldunfähig aus der Sache gegangen wären, ist das unbestreitbar ein großes Problem - und kann unter keinen Umständen mit der Resozialisationsaufgabe des Strafvollzugs gerechtfertigt werden.

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Und genau solche Begriffe und Konzepte machen es sogar mir mit abgeschlossenem Studium schwierig, dies zu durchdringen. Justiz und Behörden koppeln sich durch unverständliche Sprache ab, können aber im Nachgang dann immer belegen, dass ja ein Einspruch hätte eingelegt werden können.

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Ich kann mich an keinen Strafbefehl erinnern, der beantragt wurde vor dem Hintergrund, dass jmd nicht auf die Vorladung zur Beschuldigtenvernehmung reagiert hat. Also kein explizites „ich möchte hierzu nichts sagen“, sondern ein Verstreichen lassen der Frist. Ich möchte nicht behaupten, dass es sowas nicht gibt, aber für mich scheint das Beispiel weit weg von der mir erlebten Praxis.

Nur ein Gedanke und eine Richtigstellung, dann soll es von meiner Seite aus gut sein: mir sind keine Richter bekannt, die sich zum Büttel der StA machen (lassen). Ganz im Gegenteil - und den nicht durch Zahlen belegten Vorwurf, ein Gericht erlasse quasi ungeprüft, was ihr die StA vorlegt, ist ein Schlag ins Gesicht all derjenigen, die nach meiner Erfahrung verantwortungsvoll über Menschen entscheiden.

Im Übrigen kann die vermeintliche Schwäche des Systems nicht mit denjenigen Einzelfällen begründet werden, die Normen nicht anwenden, die dem Schutz des Bürgers dienen. Das bedeutete, das Institut des Eigentums mit der Tatsache in Frage zu stellen, dass es Diebe gibt. Es gilt insoweit vielmehr: in der Justiz eine ordentliche Fehlerkultur etablieren. Die Fälle ausmachen, in denen es schiefgeht und dabei untersuchen, ob es Einzelfälle sind oder strukturelle Probleme. Schon da hört man in der Podcastfolge nichts zu. Bis auf anekdotische Evidenz.

Wenn es aber Probleme sind, die der Gesetzgeber lösen muss - Stichwort: schriftliche Anhörung - dann soll man auch akzeptieren, dass wir in einem gewaltengeteilten Land leben und die Justiz sich nicht aussuchen kann, welche Gesetze sie anwenden soll. Und der Haushaltsgesetzgeber (erste Gewalt) - unbeschadet der Frage, ob man entsprechende Stellen auch besetzt bekäme - die Dritte Gewalt mit Haushaltsmitteln so knapp hält, wie er das eben tut.

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