LdN 330 - Interview mit Ronen Steinke - Klassenjustiz?

Ich schon, wie in dem anderen Thread geschrieben war ich längere Zeit als gesetzlicher Betreuer tätig und hatte zwei Fälle, bei denen in der beim Antrittsbesuch überreichten, ungeöffneten Post ein (mittlerweile rechtskräftig gewordener) Strafbefehl aufgefunden wurde. Diese Fälle existieren (oder existierten, da das Ganze schon 10 Jahre her ist) daher - zumindest hier in NRW - definitiv und ich sehe nicht, warum sie nicht existieren sollten. Denn die Gesetzeslage lässt diese Fälle - leider - zu.

Sorry, aber die Diskussion hatten wir schon öfter, z.B. auch im Hinblick auf Durchsuchungsbeschlüsse und die Sinnhaftigkeit der Einführung weiterer Richtervorbehalte (wo es regelmäßig ein valides Argument ist, dass die inflationäre Nutzung von Richtervorbehalten bei gleichzeitiger hoher Arbeitslast der Richter dazu führen kann, dass der Schutzzweck des Richtervorbehalts in einigen Fällen verfehlt wird, weil die Abarbeitung des „Vorbehaltsstapels“ geradezu mechanisch erfolgen muss.

Es ist zudem ganz natürlich, dass sich zwischen Richtern und Staatsanwälten, die ständig einander zuarbeiten, ein Vertrauensverhältnis entwickelt, welches dazu führt, dass man - gerade unter hoher Arbeitslast - Anträge der Staatsanwaltschaft nur flüchtig prüft und im Zweifel zustimmt.

Das Problem besteht arbeitspsychologisch - unabhängig von der Justiz - immer dann, wenn Entscheidungen von einer Stelle vordefiniert werden und eine andere Stelle diese Entscheidungen nur noch bewerten soll. In diesem Fall ist die Zustimmung immer einfacher als die Ablehnung.

Im Bezug auf die Justiz wird es immer dann problematisch, wenn eine schützende, einen Richter einbindende Funktion rein auf Aktenlage basiert (Beispiele sind hier eben das Strafbefehlsverfahren und der Richtervorbehalt beim Durchsuchungsbeschluss). In diesen Fällen ist die Grundsituation immer, dass die Staatsanwaltschaft sich erheblich in einen Fall eingearbeitet hat und dem Richter dann ihr Resultat mit Bitte um Genehmigung vorlegt. Der Richter kann hier nur eine rudimentäre Überwachungsfunktion ausüben, es kann nicht vom Richter verlangt werden, sich mit dem gleichen Zeitaufwand, den die Staatsanwaltschaft investiert hat, in die Sache einzuarbeiten (oder gar Ermittlungsergebnisse der Staatsanwaltschaft zu hinterfragen).

Deshalb ist das Resultat der Betrachtung, dass zwar faktisch ein Richter das Strafbefehlsverfahren absegnet, es aber letztlich ganz schwerpunktmäßig auf die Initiative und Bewertung der Staatsanwaltschaft hinausläuft, ob ein solches durchgeführt wird oder nicht.

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Hier sind wir uns absolut einig - natürlich ist vor allem der Gesetzgeber gefragt, die Situation zu ändern. Ich sehe den Vorwurf der Klassenjustiz aber auch nicht explizit an die Justiz gerichtet, natürlich ist das, was in der Justiz passiert, durch die jeweilige Gesetzeslage weitestgehend bestimmt.

Es ist auch völlig klar, dass sich eine Änderung der Problematik nur über eine Änderung der Rechtslage erreichen lassen wird. Insofern verstehe ich die im Podcast und von Ronen Steinke vorgebrachte Kritik auch vor allem als Kritik an der Gesetzeslage, nicht an der Richterschaft oder Staatsanwaltschaft. An Richter und Staatsanwälte kann man höchstens appellieren, im Falle von Beurteilungsspielräumen (z.B. bei der Festlegung der Tagessatzhöhen bei ALG II-Beziehern) die Problematiken der Klassenjustiz im Hinterkopf zu behalten, tiefgreifende Änderungen werden hier nicht erreicht werden.

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Genau darum geht es doch im Podcast. Wenn etwa 50% der jährlichen Hafteinweisungen nicht wegen vom Gericht verhängten Haftstrafen, sondern wegen Ersatzfreiheitsstrafen verbüßt werden, deutet das auf ein signifikantes, systematisches Problem hin.

Es geht in der gesamten Folge nicht um Einzelfälle, sondern um systematische Probleme, die sich auch belegen lassen - und die teilweise ja auch durchaus begründet sind (natürlich ist die Fluchtgefahr beim Obdachlosen oder beim Flüchtling höher als beim Deutschen Michel im Eigenheim mit Frau und Kind). Nichtsdestotrotz ist es wichtig, darüber zu sprechen, ob wir in einer Gesellschaft leben wollen, in denen nur die Ärmsten der Armen die volle Härte des Rechts zu spüren bekommen.

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Ich muss jetzt doch noch einmal kontern, weil es geboten ist: die „Härte“ des Gesetzes bekommen noch immer alle zu spüren, die mit dem Gesetz zu tun bekommen. Ob es alle gleich hart trifft, darüber kann man streiten, wobei sich auch fragt - muss das Gesetz denn wirklich hart treffen, damit der Zweck, nämlich zu resozialisieren, erreicht wird?

Die Kritik an dem Podcast erschließt sich doch schon, wenn man sich nur die Mühe macht, die gerichtliche Verurteilungsstatistik zu bemühen. Richten wir doch mal den Blick auf das Beispiel der dementen Person: angeblich, laut Steinke, sollen altersbedingte körperliche Leiden der Hauptgrund für den Missbrauch von Notrufen sein (behauptet er ab Minute 43:45). Das wäre strafbar nach § 145 StGB.
Nach der gerichtlichen Verurteilungsstatistik (abrufbar hier: Strafverfolgung - Statistisches Bundesamt) gab es bundesweit im Jahr 2021 insgesamt 915 gerichtliche Verurteilungen wegen Missbrauch von Notrufen (§ 145 StGB). Unter den Verurteilten waren aber nur 785 Erwachsene. Von denen wiederum waren 346 Verurteilte zwischen 30 und 60 Jahre alt, im Alter darüber gab es nur 64 (!) Verurteilungen bundesweit. Die Seriosität der Aussage zum Hauptgrund für den Missbrauch von Notrufen muss doch ernsthaft in Frage gezogen werden, wenn nach dem statistischen Bundesamt (abrufbar auf deren Website) 286 verurteilte Personen unter 30 Jahre alt und fast die Hälfte davon - 130 verurteilte Personen - noch in einem Bereich waren, in dem das Jugendgerichtsgesetz zur Anwendung hätte gebracht werden können bzw. müssen.

Im Übrigen dürfte es doch für einen Journalisten ein Leichtes sein, sich die 64 Fälle von Verurteilungen über 60 Jahren anzusehen (da kann man möglicherweise ohne großen Aufwand sogar physisch die Akten lesen, wenn man ein entsprechendes Datenschutzkonzept bei den Justizministerien vorlegt) und dann zu fragen, in wie vielen Fällen die von Steinke angesprochene Problematik „unerkannte Demenz, die auf Grund verschiedenster Umstände dazu führt, dass nie ein Volljurist den Beschuldigten/Angeklagten gesehen hat“ zum Tragen gekommen ist. DIESE Einordnung, die fehlt im Podcast. Und da hätte man sich von den Gastgebern, die sich nämlich sonst dadurch auszeichnen, genau solche Einordnungen vorzunehmen, etwas mehr den Hinweis gewünscht, dass ein anekdotischer Fall - ebensowenig wie 64 Fälle in der Verurteilungsstatistik - den juristischen Sommer ausmacht.

Und nun will ich aber wirklich nichts mehr dazu sagen.

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Hallo in die Runde,
als jemand der beruflich (Krankenpfleger Im Justizvollzug) mit der Materie befasst ist, kann ich nur sagen Ronen Steinke hat mit nahezu allem Recht was er sagt, auch wenn es teilweise anekdotisch (Dame mit Demenz) anmuten mag. Ich erlebe täglich schizophrene Menschen, die denken, sie sind der Herrscher der Welt, und dann muss man doch verdammt nochmal auch umsonst Bus fahren dürfen…Mindestens 90% der Inhaftierten (m/w/d auch wenn es zu 98% Männer sind) haben Suchterkrankungen, teilweise so massiv, dass Methadon substituiert werden muss oder mehrtägige bis mehrwöchige Entzugsbehandlungen erfolgen, mit dem Ergebnis, dass diese Menschen nach wenigen Tagen oder Wochen in Ihr vorheriges Millieu entlassen werden, ohne dass auch nur die geringste Chance besteht, an der Grunderkrankung etwas geändert zu haben!!
Wenn man Bürgergeldemfängerinnen automatisch ein Sozialticket bereitstellte, würde sich das Problem mit Sicherheit um ca.25%!! verringern.
Noch ein Wort zu den engagierten Sozialarbeiter
innen: Wieviel Zeit und Engagement bekommt ein Mensch wohl, wenn er/sie einer von weiteren 50 Klientinnen ist ?? Da reicht es gerade aus das notwendigste zu organisieren (Gespräche mit evtl. vorhandenen Angehörigen, Erhalt von evtl. vorhandenem Wohnraum, Evtl. organisation vor Ratenzahlungen oder Arbeit statt Strafe etc.)

Beste Grüße

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Sehr gutes Argument für ein Sozialticket!

Ganz genau. Das ist das Problem. In vielen Bereichen- so auch hier- wurde und wird zu sehr gespart.

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Ich glaube es ist anders. Es ging glaube ich darum, dass es egal ist wer die Strafe zahlt. Das ist vermutlich wie bei einem Knöllchen. Du kriegst einen Brief: Bitte Kohle überweisen. Von wem das Amt das Geld überwiesen bekommt ist denen egal, solange es fristgerecht eingeht. Vermutlich ist das damit noch nichtmals eine Schenkung…

Aber deswegen bin ich der Meinung: Ab einem gewissen Einkommenslevel, gibt es keine Geldstrafen mehr, sondern nur noch Knast. Ich glaube, dass es irgendeinem Vorstand der Millionen verdient durchaus gut tun würde mal einzusitzen - selbst wenn es nur kurz ist.

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Von mir auch ein fettes Dankeschön - ich wünsche mir das Buch direkt von meinen Eltern zum bevorstehenden zweiten Staatsexamen. Herr Steinke formuliert viele der Punkte, die mir in der Staatsanwaltschaftsstation meines Referendariats aufgestoßen sind, die ich aber nur in Ansätzen benennen und systemisch einordnen könnte. Beispielsweise einen Menschen, der bereits in Haft ist, zu einer Geldstrafe zu verurteilen, weil er Dinge aus der Drogerie geklaut hat, mit denen er dachte ein medizinisches Problem bekämpfen zu können, ging schlicht nicht in meine Kopf.

Hinzufügen möchte ich noch die Dimension der strukturellen Diskriminierungen, insbesondere auch des strukturellen Rassismus in unserer Gesellschaft insgesamt. Diese sind in der Justiz natürlich - es gibt ja nicht etwa flächendeckende Fortbildungen oder ähnliches - genauso präsent wie in anderen Bereichen. Ich meine damit explizit nicht böswilligen Fremdenhass. Im extrem grundrechtssensiblen Strafrecht kann es den entscheidenden Unterschied machen, wenn der/die Richterin es unterbewusst plausibel findet, dass der eingewanderte arabische Mann es mit der Rechtstreue eben nicht so genau nimmt oder schneller zu Gewalt greift. Die Frage, ob Zeuginnen geglaubt wird, ist eben keine exakte Wissenschaft und die Sozialisierung des Hörers kann nicht ausgeblendet werden.

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Und jetzt bitte nochmal für deutsche Muttersprachler ohne Jurastudium übersetzen.

Wenn du das geschafft hat, kannst du noch versuchen dass in ein Deutsch zu bringen welches eine Migrant versteht.

Du hast sicherlich Recht mit dem was du schreibst, nur nützt es dir nichts, wenn dein Gegenüber nicht versteht, dass du Recht hast ^^

Also so wie ich das in dem Interview verstanden habe, belegt die „anekdotische Evidenz“ das Vorhandensein des Problems, aber da sich bisher von allen Beteiligten niemand mit der Untersuchung befasst hat, weiß man eben nicht ob es Einzelfälle oder strukturelle Probleme.

Die Einwände hier (nicht nur deiner) lesen sich wiederum ein wenig so: naja, so lange er nicht mehr als anekdotische Evidenz hat brauchen wir das Problem ja nicht untersuchen.

Ohne Untersuchung keine Ergebnisse, also bleibt alles wie es ist.

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Und beim Ermessen würde vielleicht die Fahrt ohne Fahrschein bei einem obdachlosen Alkoholiker eher zur Einstellung führen als beim Legalitätsprinzip? Und vielleicht entscheidet sich das Staatsanwalty bei Falschparkern dann seltener für eine Anklage, weil es das so ermisst?

1) Also erstmal der Status Quo: Schwarzfahren ist eine Straftat.

Schwarzfahren ist eine Straftat nach § 265 StGB („Erschleichen von Leistungen“)

Durch § 265a Abs. 3 i.V.m. § 248a StGB ist geregelt, dass bei Geringfügigkeit ein Strafantrag nötig ist. Hier wird das Legalitätsprinzip bereits durchbrochen, weil die Staatsanwaltschaft hier schon nur bei einem besonderen öffentlichen Interesse überhaupt tätig werden darf, wenn der Geschädigte (also der Verkehrsbetrieb / die Bahn) keinen Strafantrag stellt. Die Fahrkarte, die erschlichen wird, liegt in aller Regel unter den 50 €, die i.d.R. für eine Geringwertigkeit angenommen werden, sodass es hier eigentlich immer um geringwertige Sachen geht.

Die meisten Verkehrsbetriebe stellen bei einmaligem Schwarzfahren keinen Strafantrag, sondern fordern ihre 60 Euro und die Sache ist gegessen. Bei Wiederholungstätern hingegen wird dann natürlich auch ein Strafantrag gestellt. Wenn ein solcher Strafantrag betreffend einer Person nun erstmals bei der Staatsanwaltschaft landet und die betroffene Person bisher nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, wird die Staatsanwaltschaft das Verfahren i.d.R. wegen Geringfügigkeit einstellen, oft mit einer Geldauflage.

In der Regel geht es bei den typischen Fällen der Schwarzfahrer aber um Multi-Problem-Fälle (Drogensucht, Obdachlosigkeit, psychische Krankheiten…), sodass es hier zu ziemlich vielen Strafanträgen und dann natürlich auch zu Strafbefehlen und Anklagen kommt. Wird auf den Strafbefehl nicht reagiert oder die festgelegte Geldstrafe nicht gezahlt, kommt es zu den Fällen, die hier im Zentrum der Debatte stehen, die dann leider oft genug mit einer Ersatzfreiheitsstrafe enden.

Die Höhe der Geldstrafe richtet sich nach dem Einkommen des Betroffenen und liegt daher im Bereich von einem bis mehreren Monatslöhnen.

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2) Nun zum fiktiven Fall, dass Schwarzfahren nur eine Ordnungswidrigkeit wäre:

Die Staatsanwaltschaft wäre hier erstmal gar nicht involviert, sondern nur das Ordnungsamt. Dieses würde die Ordnungswidrigkeitenanzeigen der Verkehrsverbünde aufnehmen und dann - nach schriftlicher Anhörung - Bußgelder erheben. Werden die Bußgelder nicht gezahlt, weil die Betroffenen z.B. die Post nicht öffnen, würde irgendwann mit Erzwingungshaft gedroht werden. In der Regel wird ein Gerichtsvollzieher beauftragt, die Forderung einzutreiben. Dieser würde den Betroffenen vor einem Hausbesuch anschreiben. Wenn der Betroffene dem Gerichtsvollzieher glaubwürdig seine Zahlungsunfähigkeit nachweist (was bei den hier genannten Betroffenen i.d.R. unproblematisch ist) ist die Sache erstmal gegessen und eine Erzwingungshaft abgewendet.

Kann der Gerichtsvollzieher den Betroffenen bei mehreren Versuchen nicht antreffen, wird irgendwann ein Haftbefehl beantragt. Das ist der Zeitpunkt, an dem die Staatsanwaltschaft involviert wird. Wird die Person dann bei Routinekontrollen der Polizei festgenommen, wird i.d.R. schnell auffallen, dass die Person nicht zahlungsunwillig ist, sondern handlungs- und zahlungsunfähig. In aller Regel sollte es daher nicht zum Haftantritt kommen, sondern der Betroffene legt eine eidesstattliche Erklärung ab und darf nach Hause gehen. Denn der Zweck der Erzwingungshaft ist ja gerade nicht die Strafe, sondern den Zahlungsunfähigen zu zwingen, Zahlung zu leisten. Daher bleibt die Forderung der Geldbuße auch nach Verbüßen einer Erzwingungshaft bestehen, während sie im Falle einer Geldstrafe durch Absitzen der Ersatzfreiheitsstrafe verfällt.

Im Ergebnis würde also, wenn Schwarzfahren nur eine Ordnungswidrigkeit wäre, niemand, der z.B. aus psychischen Gründen nicht handlungsfähig ist, im Strafvollzug landen.

Die Höhe der Ordnungswidrigkeit ist entweder fix (wie im Straßenverkehrsrecht) oder liegt in einem Bereich. Generell wäre sie wohl deutlich günstiger als eine vergleichbare Geldstrafe.

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3) Zu guter Letzt der Fall, dass Schwarzfahren nur zivilrechtlich verboten wäre, also weder Straftat noch Ordnungswidrigkeit ist

Hier würden die Verkehrsbetriebe das erhöhte Beförderungsentgelt zivilrechtlich einklagen. Wenn der Betroffene auf die Zustellung der Vorladung zum Prozess nicht reagiert, ergeht ein Versäumnisurteil. Dieses kann über einen Gerichtsvollzieher vollstreckt werden. Für den Rest gilt das oben gesagte, in den Strafvollzug käme der Betroffene lediglich, wenn er zahlungsfähig, aber nicht zahlungswillig ist oder sich weigert, eine eidesstattliche Versicherung abzugeben. Auch in diesem Fall würde ein Verbüßen der Erzwingungshaft nicht vom Zahlungsanspruch befreien.

Die Höhe der zivilrechtlichen Forderung beträgt nur aktuell 60 Euro, wird aber durch Mahnkosten, Inkassokosten, Gerichtskosten, gegnerischen Anwaltskosten natürlich deutlich höher liegen. Insgesamt werden die Kosten i.d.R. vermutlich niedriger als Strafverfahren, aber höher als im Ordnungswidrigkeitenverfahren liegen. Dabei muss bedacht werden, dass die zivilrechtlichen Forderungen mit allen ihren Konsequenzen auch im Straf- und Bußgeldverfahren neben der Geldstrafe bzw. der Ordnungswidrigkeit bezahlt werden müssen

Schwarzfahren zur Ordnungswidrigkeit herabzustufen erscheint mir daher der sinnvollste Weg zu sein.

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Korrekt. Abstufung auf Owi wäre insofern schon ein Fortschritt. Frage ist nur wie groß dieser praktisch ausfällt. Aktuell gibt es ja schon das gelebte Verwarnungssystem, da die Betriebe erst bei dritten mal Strafantrag erheben. Ein Ermessen der StA würde sicher nicht dazu führen, dass sämtliche Fälle eingestellt werden, sondern auch hier letztlich wieder eine Art Verwarnungspraxis eingeführt würde. Praktisch erhielte man also nur einen zusätzlichen „Strike“
Von den Fällen psychisch Kranker spreche ich hier nicht, da diese meiner Ansicht nach auch im Rahmen des Strafverfahrens - bei korrektem Vorgehen der Justiz - nicht belangt werden sollten/müssten.

Das ist viel wichtiger. Für die mittellosen Schwarzfahrenden gäbe es keine Haft, da die Zahlungsunfähigkeit die Vollstreckung ausschließt, § 96 Abs. 1 Nr. 2,4 iVm § 66 Abs. 2 Nr. 2 b) OwiG.

Hier muss man dann nun aber entscheiden, welches System gerechter ist. Schuldenberge ewig vor sich herzuschieben, kann sich vielleicht ähnlich schlimm auswirken als eine Haft, sowohl psychisch als auch praktisch. Also schon aus Sicht des Owi-Täters ist der Trost nur ein Kleiner. Und dann muss man natürlich der Gesellschaft erklären, warum die Mittellosigkeit, wenn man sie nur ewig durchzieht, vor der Strafe schützt. Das ist wohl eine offene Gerechtigkeitsfrage, die demokratisch in beide Richtungen entschieden werden kann.
Jedenfalls würde ich vor dem Schluss „Erzwingungshaft = besser/niedrigschwelliger als Ersatzhaft“ warnen. Er scheint mir nicht absolut eindeutig.

im Ergebnis wahrscheinlich schon richtig, allerdings aufgrund der oben genannten Gründe aus meiner Sicht nicht der Skandal, den viele ausmachen wollen.

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Danke für das Interview. Bei vielen Fällen dachte ich mir: Wir haben kein Justiz-Problem, sondern ein Problem mit der mentalen Gesundheit in Deutschland, bzw. der Unterstützung Betroffener.

Dann dachte ich ein paar mal: einfach nicht bestrafen, kann doch auch nicht die Lösung sein. (Wobei es natürlich viele Bereiche gibt, bei denen genau das die Lösung ist. Schwarzfahren, viele Drogendelikte. Nicht aber Diebstahl…)

Fast schon lustig fand ich, wie ein Richter für Strafrecht Empörung darüber spielt (ich übertreibe), dass nicht bezahlte Geldstrafen zu Haftstrafen umgewandelt werden, ohne dass der Verurteilte vorher einem Richter vorgeführt wird. Wenn die Strafrichter das wüssten, dann würden sie NIE Geldstrafen verhängen… Klar hat der vorher einen Richter gesehen. Und wenn der Richter in der Hauptverhandlung nicht gerafft hat, dass der Typ einen psychotischen Schub hatte, als er die Notbremse gezogen hat, warum sollte er es bei der Vorstellung zur Haft erkennen? Das rechtfertigt nicht, sojemanden ins Gefängnis zu stecken, aber die beschriebene Lösung geht mMn am Problem vorbei.

Ganz klar bei euch bin beim Thema Strafbefehl. Das ist schon fast böswillig, hier von Zustimmung auszugehen. Das werden gerade nicht die Manager mit Firmenanwalt machen (oder andere, die die Ressourcen haben), sondern in erster Linie Menschen, die keine Post mehr öffnen, weil sie Angst vor den darin enthaltenen Rechnungen haben.

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Eine Lösung der Problematik wäre auch bei Geldstrafen ähnlich wie bei Ordnungswidrigkeiten festzulegen, dass auch Geldstrafen nicht bei Zahlungsunfähigkeit in Haftstrafen umgewandelt werden, sondern nur bei Zahlungsunwilligkeit. Dann braucht es auch nicht die Halbierung der Tagessätze für die zu verbüßende Haft, denn wer die Geldstrafe nicht zahlen will, darf ruhig die volle Zeit absitzen (da hier der Strafanspruch im Gegensatz zum Ordnungswidrigkeitenrecht ja auch mit dem Absitzen erlischt)

Das Problem bei der Logik der Umwandlung von Geld- in Haftstrafen ist doch gerade die Festlegung des Tagessatzes. Wenn dieser beim Hartz-IV-Empfänger, wie leider häufig der Fall, auf 15 Euro festgelegt wird (weil er ja ein Nettoeinkommen von 450 Euro im Monat zur Verfügung hat), aber dessen Einkommen signifikant unter jeder Pfändungsgrenze liegt und auch ein ratenweises Abbezahlen der Geldstrafe in jedem Fall dazu führen wird, dass der Betroffene weit unter das Existenzminimum rutscht, ist es reichlich fragwürdig, diesen Leuten dann die Ersatzfreiheitsstrafe aufzubrummen, weil wir dann den Fall haben, dass wir gerade die Ärmsten der Armen vor die Wahl stellen, entweder
a) in menschunwürdiger (dh. unter dem Existenzminimum liegenden) Art zu leben oder
b) für eine Strafe in Haft zu gehen, die auch aus Sicht des Richters eigentlich keine Haft, sondern nur eine (milde) Geldstrafe begründet

Und das ist der Vorwurf der Klassenjustiz in diesem Fall. Dass ein Tagessatz von 15 Euro jemanden am Existenzminimum zwangsläufig signifikant mehr „straft“ als ein Tagessatz von 50 Euro jemanden straft, der 1500 Euro Netto im Monat hat, weil letzterer - im Zweifel mit Ratenzahlung - die Geldstrafe abstottern kann, ohne unter die Pfändungsfreigrenze oder gar das Existenzminimum zu fallen.

Daher wurde ja auch der Vorstoß der Berliner Generalstaatsanwältin angesprochen, die sich dafür einsetzte, dass die Staatsanwaltschaft in diesen Fällen nur einen Tagessatz von 5 Euro fordern soll, weil dieser Tagessatz von seiner subjektiven Strafwirkung einem „normalen Tagessatz“ beim Werktätigen vergleichbar ist…

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Ohne von der Hauptdiskussion wegführen zu wollen: das ist ohne Zweifel ein großes Problem in Deutschland (aber). Ich kenne das System von beiden Seiten: einerseits leide ich unter Depression und einer generalisierten Angststörung und war >3 Jahre in ambulanter Therapie. Andererseits habe ich vor kurzem mein 2. Staatsexamen in Medizin bestanden und bereits in der Psychiatrie gearbeitet.

Die Unterstützung behandlungswilliger Patient:innen in DE leidet vor allem unter dem Psychotherapeutenmangel, der (stark vereinfacht gesagt) eine Sparmaßnahme ist. Auch Leuten, die Therapie suchen, sind oft lange Wege zu einer erfolgreichen Psychotherapie auferlegt. Dazu kommt, dass viele medikamentöse Antipsychotika stark nebenwirkungsreich sind. Von Krampfanfällen bis zu einer starken Reduktion des Immunsystems gibt es zahlreiche Gründe, warum Behandelte ihre Medikation absetzen. Dann noch keinen Arzt finden der sich individuell mit einem beschäftigt + keine Psychotherapie führt zu einem schnellen Abrutschen.

Bei Patient:innen, die nicht selber aktiv nach einer Behandlung suchen wird die Sache noch schwieriger. Nur bei explizit akuter Gefahr der Selbst- oder Fremdgefährdung darf eine Behandlung gegen Patientenwunsch erfolgen. Diese verständlich hohe Barriere sorgt dafür, dass insbesondere Patienten mit stark ausgebildetem Wahn (d.h. unkorrigierbare Falschbeurteilung der Wirklichkeit) oft gar nicht erst behandelt werden. Angehörigen und Mediziner fällt es also selbst bei Fällen, die noch ein bestehendes soziales Umfeld haben oft schwer eine Therapie einzuleiten. Jetzt stelle man sich einmal vor, wie das aussieht, wenn ein solches Umfeld gar nicht erst existiert.

Ich habe oft das Gefühl, gesellschaftlich ist nicht der Wille da, psychisch Kranke zu integrieren und zu therapieren. Die durch Erkrankung wohnungslos Gewordenen „wollen das halt so“ oder „haben sich mit Drogen das Hirn zerschossen“. Kollektiv verurteilen wir immer noch viele Erkrankungen der Psyche.

Ich wünschte ich könnte hier eine Lösung anbieten statt mal wieder heranzuziehen dass sich halt dort gesamtgesellschaftlich etwas tun muss, aber ich hoffe ich konnte den Sachverhalt ein bisschen besser beleuchten :smiley:

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Komisch wirkt das auf mich als Mediziner, der im Studium 1974 Medizinsoziologie belegen musste.
Haben die Juristen nichts dergleichen?
Scheint nicht mehr modern zu sein die Rechtssoziologie und die Soziologie der Justiz.
Fand dazu Zur Soziologie der Justiz und der richterlichen Entscheidungsfindung – Rechtswirklichkeit

Also ich hatte damals vor 15 Jahren noch Rechtssoziologie, aber tatsächlich bietet es nicht mehr jede Hochschule an und es ist auch nicht verpflichtend, sondern ein Wahlpflichtfach (hier in NRW müssen im Grundstudium zwei Grundlagenscheine gemacht werden, das kann Rechtssoziologie, aber auch Rechtsgeschichte, Kirchenrecht, Römisches Recht, Rechtsphilosophie, Recht im Dritten Reich oder auch Wirtschaftsrecht sein…)

Die Kritik am Jura-Studium war schon immer, dass das Studium nur wenig „über den Tellerrand“ vermittelt, zum einen weil die Stoffdichte im spezifischen Fachwissen schon so groß ist, zum anderen, weil gesetzlich genau festgelegt ist, was im Staatsexamen abgeprüft werden darf - und da kommt, zumindest hier in NRW - nur knallhartes Jura vor. Da ist dann auch klar, wo für den Studenten und den Dozenten der Fokus liegen wird.

Das führt in der Praxis dann dazu, dass man Probleme hat, genug Richter zu finden, die alle nötigen Kompetenzen haben, um ein bestimmtes Rechtsgebiet kompetent bearbeiten zu können. Ein Richter in Handels-, Gesellschafts- oder Wirtschaftsstrafsachen sollte eine Bilanz lesen können („Iudex non calculat“ ist da nicht gerade die richtige Einstellung…), ein Richter am Jugendgericht sollte, um § 2 Abs. 1 JGG gerecht zu werden, genau wie ein Richter am Familiengericht auch pädagogische Kompetenz besitzen und ein Strafrichter sollte generell auch soziologische Kenntnisse haben, hier gebe ich dir absolut Recht.

Zwischen Realität und Ideal liegen teilweise leider Welten. Und das führt natürlich auch dazu, dass Teile der Richterschaft sich der Problematik der Klassenjustiz nicht hinreichend bewusst sind, das wäre im Hinblick auf deren Ausbildung auch leider zu viel verlangt.

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