Den Punkt zur Neutralität der Ukraine vor 2014 sehe ich etwas anders. Das Land war im Zeitraum 1991 - 2014 abwechselnd von pro-europäischen und pro-russischen Parteien (die dennoch ein Assoziierungsabkommen mit der EU anstrebten) regiert. Der Grundtenor ging also durchaus in Richtung EU-Beitrittsperspektive. Dagegen gab es jedoch Maßnahmen von Seiten Russlands. Ein pro-europäischer Viktor Juschtschenko durfte seine Wahl unter anderem mit einem Säureattentat bezahlen, welches deutliche Spuren in seinem Gesicht hinterließ. Ein pro-russischer Janukowitsch musste derart nicht erleiden und führte das Land stärker an russischen Interessen orientiert.
Auch wenn die Ukraine schon lange die Assoziierung mit der EU anstrebte, wurde die Situation aus Putins Sicht anscheinend erst mit den Protesten Ende 2013/Anfang 2014 am EuroMaidan - in Folge der Verschiebung der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens durch Janukowitsch - brenzlig. Ein großer Teil der ukrainischen Gesellschaft wollte diesen Schritt, der schon seit einer Dekade angepeilt wurde, nun endlich gehen.
Im Februar 2014 standen dann grüne Männchen auf der Krim, die im März annektiert wurde. In etwa zeitgleich entstanden Separatistengruppen in den stärker russische geprägten Gebieten um Donezk/Luhansk. Im Rahmen des eskalierenden Konflktes verlor die Ukraine vollständig die Kontrolle über diese Gebiete. Die Folge daraus ist offensichtlich: war die Ukraine zuvor zwischen pro-westlichen Ukrainern der Westukraine und pro-russischen Ukrainern in der Ostukraine gespalten, ging diese Spaltung nun dramatisch zurück, da Millionen von Menschen aus den Regionen Donezk/Luhansk politisch nicht mehr repräsentiert wurden (bzw. werden konnten).
Im Zuge der daraus resultierenden stärkeren Westbindung der Ukraine kann man nun natürlich hingehen und der Ukraine eine geplante Aufgabe der Neutralität vorwerfen. Diese ist in dieser Deutlichkeit jedoch durch Russland erst künstlich geschaffen worden. Und das nicht erst mit der Krimannexion und dem Krieg in der Ostukraine, sondern auch durch die Bestrafung der Ukraine bei Handlungen gegen russische Interessen zuvor (siehe Juschtschenko oder auch die mehrfachen Gaslieferstopps 2006-2009).