LdN 206 - Abschaffung § 218

Ich will mich an einem weiteren Blickwinkel mal versuchen, da mir da noch Aspekte fehlen.

Die erste Frage, die sich mir bei der Diskussion stellt, ist, wieviele der abgebrochenen Schwangerschaften könnten denn vermieden werden? Denn unabhängig von der Rechtslage und den Umständen, ist ein Schwangerschaftsabbruch ein medizinischer Eingriff und psychologisch alles andere als einfach. Wenn ich mir ansehe, dass Frauen heutzutage ziemlich selbstbestimmt in der Entscheidung sind, ob und wann sie schwanger werden wollen, ist das Potential ungewollte Schwangerschaften zu vermeiden eigentlich relativ groß. Anders gesagt, wenn eine Frau schwanger wird, obwohl sie das gar nicht möchte, ist etwas „schief“ gelaufen (von nicht Verhütet, Verhütung hat nicht geklappt…). Wichtigster Ansatz ist von daher aus meiner Sicht die Prävention, z. B. mehr Aufklärung.

Zur Diskussion selbst. Die Frage ist eigentlich Rechte Embryo vs. Rechte der Frau. Sehr viele Argumente beziehen sich jedoch auf Emanzipation, Selbstbestimmung von Frauen, Bevormundung oder die Nachteile der Erziehung von Kindern in unserer Gesellschaft, insbesondere als Alleinerziehende. Das sind alles valide Argumente und Probleme in unserer Gesellschaft, aber um ehrlich zu sein, haben die mit dem Thema nur indirekt zu tun. Wenn diese Benachteiligungen nicht da wären, wäre die Welt besser, aber er gäbe die Abtreibungsdebatte immer noch.
Dieser Punkt ist aus meiner Sicht auch das was Ulf als emotional bezeichnet hat. Was aus meiner Sicht dahinter steht ist, dass eine Frau eine ungewollte Schwangerschaft kaum verheimlichen kann und diese oft zu einer gesellschaftliche Blosstellung/Ächtung führt. Wenn ich eine Frau in so einer Situation wäre, hätte ich sehr gerne die Möglichkeit mich aus dieser Situation mit einer Abtreibung zu befreien und das möglichst einfach. Das ist aus meiner Sicht ein Grund, warum das Thema so aufgeladen ist.

Grüße
Florian

Puh, hier wurde schon wirklich viel gesagt. Ich werde mich bemühen, nicht allzu viel zu wiederholen.

Erstmal generell zur Diskussion hier: Meiner Meinung nach verläuft sie für die Thematik erstaunlich sachlich, bin echt beeindruckt! […]

Und damit kommen wir jetzt auch schon zu der Frage, die mir beim Lesen dieses Threads unter den Nägeln brannte:
Was bringt es, die Diskussion um den §218 vermeiden zu wollen, wenn schon für die Lösung der auch von euch nicht geleugneten Probleme, eine Debatte notwendig ist? Selbst wenn man die Meinung vertritt, dass man §218 beibehalten könnte und die Gesetzeslage nur „drumherum“ verbessern müsste, damit z.B. Abtreibungen stets von den Krankenkassen übernommen würden, es mehr Anlaufstellen gibt, etc., dann muss das doch trotzdem politisch beschlossen werden und vorher debattiert! Und schon für diese Diskussionen besteht ein Risiko für den befürchteten Backlash, und - wie es hier irgendwo formuliert wurde - eine „Shitshow“ im Parlament.
Es bringt meiner Meinung nach also nichts, die Diskussion zu scheuen! Sie muss so oder so geführt werden.
Und solange der §218 besteht und Abtreibungen grundsätzlich kriminalisiert sind, werden sich Abtreibungsgegner*innen auch weiter darauf berufen können und fragen, warum man die Versorgungslage für etwas, was doch eigentlich strafrechtlich sanktioniert sei, verbessern sollte.

1 „Gefällt mir“

vielen Danke für den sehr guten und Kommentar mit so viel Wissen aus der Praxis. Es steht so viel drin, noch mehr, als der eine Punkt, den ich noch machen wollte:

Was Ulf ja vorschlug, war Abtreibung verboten zu lassen aber komplett zu ermöglichen (Versorgungslage, Finanzierung, …). Deine Formulierung

„wir wollen das nicht“ und „wir wollen, aber dass es möglich ist“

trifft das sehr gut. Ich habe mich gefragt, wieso das Ulf selbst nicht stört. Aus meiner Laien-Jura-Perspektive klingt das sehr seltsam, dass man möchte, dass etwas verbotenes vom Staat bereitgestellt und von der Allgemeinheit bezahlt wird. Wenn man will, dass das frei zugänglich ist, und will, dass alle das tun können und auch sich nicht in Unkosten stürzen müssen: Sollte man dann nicht so ehrlich sein, und sagen „ja, es ist erlaubt“?

Weil sonst passiert das, was du schilderst: die Leute, die Wert darauf legen, dass es verboten ist, fühlen sich ein bisschen verarscht. Und wollen an den letzten Fitzeln des Gesetzes ein Exempel statuieren. Weil „da steht ja, es ist verboten“. Das ist aktuell kein Kompromiss, sondern man verspricht beiden Seiten alles, und keine Seite bekommt genug.

1 „Gefällt mir“

Ja, ist es. Wir sind aber nicht die USA. Wir können doch nicht einfach Themen aus dem gesellschaftlichen Diskurs raus nehmen, sie damit tabuisieren und in die Schmuddelecke drängen, nur weil manche sie genau da haben wollen. Wir können das besser.

Je mehr du hier zuhörst und die weibliche Perspektive erfragst und Frauen selbst reden und auch (im wahrsten Sinne des Wortes) zu Wort kommen lässt, desto besser. Ich hätte es schön gefunden, wenn ihr einen Aktivistin dazu eingeladen hättet. Gerade, weil du je selbst gesagt hast, dass du viele Argumente nicht verstehen konntest (bisher). Und dass es einen Shitstorm gab, den du nicht verstehst. Zusammenfassung: Da gibt es vielleicht was, was du so noch nicht ganz greifen konntest. Daher bist du dafür vielleicht nicht der geeignete Experte.

Ich freue mich, ich habe den Eindruck, dass du, je länger die Diskussion hier dauert, mehr zuhörst und vielleicht verstehst (und weniger deine eigenen Positionen einfach wiederholst)

2 „Gefällt mir“

Ich versuche es mal so: das ist kein schwarz-oder-weiß sondern ein „Schieberegler“. Es ist nicht: „Abtreibungen sind möglich oder nicht“ sondern es gibt viele Graustufen. Ich versuche es mal so zu beschreiben: Wir ordnen jeder möglichen Welt einen Wert zwischen 0 (Abtreibung ganz einfach) und 1 (Abtreibung unmöglich) zu. Jetzt schauen wir uns mal ein paar mögliche Welten an: dazu:

  • 1 - Abreibung unmöglich: gibt es gar nicht. Frauen haben immer abgetrieben, zum Teil sind sie gestorben. In so einer Welt bekommen viele ein Kind, die es nicht haben wollen. Abtreiben tun die willensstarken, die anderen, die kein Kind wollen - naja, dazu gibt es die oben erwähnten Studien, dass das zu psychischen Schäden bei der Mutter führen kann und für die Kinder ist es schrecklich
  • Wert 0: wäre für mich Abreibung für alle immer erlaubt, möglich, kostenlos - dieser Fall wird viel diskutiert. Ich habe neulich https://twitter.com/erzaehlmirnix/status/1310629350895689729 gesehen und will das als Impuls hinzu fügen.
  • wenn ich Fristenlösung mal bei 0.1 ansiedle dann
  • sehe ich die aktuelle deutsche Lösung bei 0.6 vielleicht. D.h. du findest Frauen, die das unter den Bedingungen machen, viel weniger sind als mit der Fristenlösung. Du wirst als Frau von so vielen Sachen beeinflusst und d.h. dass viele eben nicht zu der Entscheidung kommen , obwohl sie das Kind nicht wollen und nie ein gutes Verhältnis aufbauen. Das richtet Schaden an. Die im Nachhinein bereuen, nicht abgetrieben zu haben. Was nicht heißen soll, dass man abtreiben muss. Aber je unkomplizierter die Wahl auf dem Tisch liegt, desto einfacher. Und dieses es ist ja möglich ist nicht so einfach. Stell dir mal vor, du bist 18 Jahre alt und willst dich informieren. Und dann liest du das hier

Und versuchst dir vorzustellen, was in dem Gespräch geschehen wird. Die können in dem Text nix eindeutiges schreiben, wegen der Gesetzeslage. Dann muss da stehen

Die Schwangerschaftskonfliktberatung dient dem Schutz des ungeborenen Lebens.

Dann fragst du dich ob die das Schreiben müssen, ob du das Aushalten wirst. Wie schlimm du als Mensch bist. Ob du über medizinische Aspekte informiert wirst. Oder ob die schon auf der Seite stehen, weil da im Gespräch nicht drüber gesprochen wird.
Ob die Beratung wirklich Ergebnisoffen ist und das Beste sucht, oder eigentlich den Auftrag hat, das Leben zu schützen?

Und ja, ich habe schon gehört, dass manchen die Beratung wirklich geholfen hat. Genauso, dass es ganz schlimm war. Ich finde Beratung auch grundsätzlich nicht so schlecht. Aber dann bitte in so viel mehr Lebenslagen. Vielleicht auch mal was, was nur Männer betrifft.

  • Ich bin weiblich und stehe auf Frauen. Ich werde daher nur im allerschlimmsten Fall von einer Abtreibung gebrauch machen müssen.
  • Ich studiere Medizin. Abtreibung wurde bei uns zum Glück in Humangenetik angesprochen. In Gynäkologie fiel dazu erst ein Satz, als ich nachgefragt habe. Und bei diesem Satz blieb es dann auch. Auch bei den Themenblock „Komplikationen in der Schwangerschaft“ wurde die Option eines medizinisch indizierten Schwangerschaftabbruchs nicht erwähnt.
    Das Thema wurde aktiv totgeschwiegen.

In der Medizin sterben jedes Jahr ganz legal Menschen, weil uns das Selbstbestimmungsrecht von Leichen, ihre Organe nicht zur Verfügung zu stellen, mehr Wert ist, als das Lebensrecht dieser real existierenden Menschen.
Da gibt es keinen Strafrechtsparagraph, der denjenigen, die nach ihrem Tod ihre Organe nicht hergeben möchten, kriminalisiert und „nur ausnahmmsweise“ straffrei gewähren lässt.

Haben Menschen mit Gebärmutter weniger Rechte als Leichen oder haben existierende Menschen ein schwächeres Recht auf Leben als ein polemisch formulierter Zellhaufen, der mal ein Mensch wird?

Man kann Eltern nicht per Gesetz dazu zwingen, ihren Kindern Blut oder Stammzellen zu spenden, obwohl sowohl Blut- als auch die Stammzellspende ein deutlich kleinerer Eingriff darstellt als eine Schwangerschaft. Das heißt, dass das Recht des Kindes auf Leben gegen das Recht der Eltern auf Entscheidungsfreiheit verliert.
Dazu gibt es ebenfalls keinen Paragraphen im Strafrecht, der dazu eine Beratungspflicht zum „Wohl des Kindes“ vorsieht und die Weigerung nur ausnahmsweise straffrei stellt.
Haben Kinder damit weniger Rechte, sobald sie geboren werden?

Noch perverser wird der Gedanke, wenn man bedenkt, dass Eltern medizinisch notwendige Behandlungen ihrer Kinder veweigern können. Anstatt das Recht des Kindes auf Leben höher zu gewichten als die Religionsfreiheit der Eltern, wird ein Sonderweg mit richterlichem Beschluss gegangen.

Nirgendwo wird eine Handlung, in der das Lebensrecht eines Individuums gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit/Selbstbestimmung/Religionsfreiheit eines anderen Individuums steht, durch Gesetzgebung kriminalisiert. Außer der Schwangerschaftsabbruch.

Wenn ich eine Leiche bin, töte ich durch meine Entscheidung, meine Organe zu behalten, mindestens einen anderen Menschen.
Es gibt keinen Paragraphen im Strafgesetzbuch, um Menschenleben zu retten.
Wenn ich Mutter/Vater bin, dann brauche ich meinem Kind weder Blut, noch Stammzellllen, noch Leberteile zu spenden, um sein Leben zu retten. Es gibt auch keinen Paragraphen im Strafgesetzbuch, der mich dazu bringen möchte.

Wenn ich ungewollt schwanger bin, ist die Sache plötzlich ganz anders. Warum?
Warum ist nur in diesem Fall das Recht auf Leben so hoch gewichtet?

7 „Gefällt mir“

Danke. Das macht für mich alles Sinn.
Trotzdem gehe ich mit, dass man vorsichtig sein sollte, von außen zu urteilen und aus eigener Überzeugung in das Leben anderer hinzuregulieren…

Lieber Hufschmied, wie immer danke für die umfassenden Ausführungen, wenn sie auch die Frage nicht beantworten :wink:
Es geht mir aber wirklich um die Frage, bei der ich selbst nicht endgültig entschieden bin, nicht um einen „Strohmann“.
Offensichtlich ist doch genau das der logische Endpunkt mancher hier vorgebrachter Argumente: dass man sich zu etwas nicht äußern oder ein Urteil anmaßen sollte, wovon man nicht mal potenziell betroffen ist.
Ich habe durchaus eine gewisse Sympathie für diese Sichtweise, wenn ich auch zum moralischen Universalismus tendiere und Schwierigkeiten habe, mir das genannte Prinzip in Gesetzgebung und Rechtsprechung vorzustellen…

Ich glaube, der Punkt, dass es hinsichtlich der Botschaft, welche man Frauen sendet, einen deutlichen Unterschied macht, ob man eine Abtreibung als legal oder als illegal, aber straffrei bezeichnet, ist in der bisherigen Debatte schon deutlich geworden. Das Verbot der Abtreibung drückt eine deutliche Missbilligung der Entscheidung aus und kommuniziert, dass die Frau eine „Sünde“, ein Verbrechen begehe und durch die „Gnade“ des Gesetzgebers nochmal ungestraft davonkommt. Befürwortern einer Abschaffung von §218 geht es darum, Abtreibung als Recht der Frau auf Selbstbestimmung ihren Körper zu deklarieren.
Mir ist jedoch noch ein weiterer Punkt in der Debatte wichtig: Die „Güterabwägung“ zwischen dem Recht der Frau auf Selbstbestimmung vs. „Lebensrecht“ des Ungeborenen, die das Bundesverfassungsgericht gemacht hat, und von der ihr in eurem Beitrag so selbstverständlich sprecht, beruht auf zwei Prämissen, welche ich gar nicht so selbstverständlich finde.
Die erste Prämisse ist, dass es sich bei einem Embryo bzw. Fötus um menschliches Leben handelt – denn nur in dem Fall könnte man von einem Lebensrecht reden. Ab welchem Zeitpunkt der Schwangerschaft von einem solchen Recht auszugehen wäre, ist jedenfalls umstritten. Und wenn das Bundesverfassungsgericht das Lebensrecht hoch genug schätzt, um ein Abtreibungsverbot zu rechtfertigen, ist dies eine weltanschauliche Positionierung. Das kann man gut oder schlecht finden, aber der Fairness halber finde ich, dass man dies in der Debatte dazu sagen sollte.
Nun ist es leider unmöglich, den Beginn des Lebens sicher und wissenschaftlich festzulegen. Gehen wir also davon aus, dass es sich bei einem Embryo vom Moment der Konzeption an um menschliches Leben handelt. Um daraus abzuleiten, dass das Lebensrecht des werdenden Menschen ein in der Güterabwägung gleichberechtigtes Rechtsgut gegenüber der Autonomie und Selbstbestimmung der Frau ist, muss man jedoch annehmen (Prämisse Nr.2), dass dieses Leben unabhängig von der Frau existiert. Der Embryo kann jedoch nur innerhalb der Gebärmutter seiner Mutter „leben“ und sich entwickeln. Nur unter der Bedingung, dass diese Frau bereit ist, das Leben zu schenken, existiert es auch. Und das gilt bis etwa zur 22. Schwangerschaftswoche, denn danach kann das Kind (theoretisch) auch außerhalb des Körpers seiner Mutter existieren, jedenfalls haben einzelne Frühgeborene dieses Alters überlebt.

1 „Gefällt mir“

Hallo Silke,

ich kann mich deiner Argumentation zu großen Teilen anschließen.
Allerdings möchte ich betonen, dass ein Schwangerschaftsabbruch nicht immer eine Tragödie oder ein Wendepunkt sein muss. Natürlich ist dieses eine schwierige Entscheidung, die man nicht mal eben so trifft, aber die Überhöhung der psychischen Folgen stärkt leider auch die gesellschaftliche Ansicht und das Gerücht, dass ein Abbruch häufig zu Traumata führt. Der Eingriff ist alles andere als leicht oder schön, aber es kann auch einfach nur ein Eingriff sein, mit dem man danach abschließen kann.
Bei meiner Beratung berichtete mir die Ärztin, dass die meisten Traumatisierungen im Zuge eines Schwangerschaftsabbruchs entstehen, wenn die Frauen keine freie Wahl haben, sondern von Familienmitgliedern, Partnern, etc. unter Druck gesetzt werden.

Eine Betreuung davor und danach kann gut und hilfreich sein, ist aber nicht immer notwending.
Es ist mir wichtig, dieses hier zu betonen, um dem Mythos des unbedingt traumatischen Erlebnisses zu widersprechen.

Viele Grüße, Rachel

2 „Gefällt mir“

Ich stimme dir zu. Mein Kommentar bezog sich auf einen Kommentar, der die Frage aufmachte, ob Männer überhaupt Gesetze über Schwangerschaftsabbruch beschließen bzw. als Richter über einen entsprechenden Straftatbestand entscheiden sollten. Ich bin durchaus der Auffassung, dass auch Männer sich entsprechend informieren bzw. zuhören und dann informiert entscheiden können (vielleicht bin ich naiv). Da es die Aufgabe des Staates ist, die Freiheit der Bürger_innen zu wahren, braucht jeder staatliche Eingriff in diese Freiheit einen guten Grund. Im Falle des Schwangerschaftsabbruch ist dies die Frage, inwieweit ungeborenem menschlichem Leben eigene Schutzrechte zukommen. Von dieser Frage sind aber nicht primär Frauen, sondern Föten und Embryos betroffen. Ich wüsste nicht, warum Frauen prinzipiell besser oder schlechter geeignet sein sollten als Männer eine Entscheidung darüber zu treffen, ob ungeborenes Leben geschützt werden sollte oder nicht. Ich würde mir wünschen, dass alle staatlichen Gewalten in jeder Hinsicht noch diverser besetzt sind als jetzt (z. B. auch auf der Ebene Westdeutsch/Ostdeutsch oder bei der Frage des Migrationshintergrunds). Ich befürchte aber eine Zersplitterung der Gesellschaft, wenn man zu viele Grenzen zieht bei der Frage, wer etwas entscheiden darf oder nicht anhand von Identitäten. Das bedeutet nicht, dass es nicht möglich wäre z.B. auch im Gesetzgebungsprozess oder im Rahmen von Justiz und Verwaltung mehr Expertise von Betroffenen (auch in formalisierter Form) einzubinden.

3 „Gefällt mir“

Hallo Rachel,

stimmt, es gibt immer zwei Seiten einer Medaille. Mein Eindruck resultiert aus den entsprechenden Geschichten.

Vielen Dank für Deinen Hinweis! Den merke mir, vielleicht hilft es ja mal einer Freundin…

Das Wichtigste ist, dass es den Betroffenen gut geht.

Viele Grüße

Silke

2 „Gefällt mir“

Ich war sehr positiv überrascht als ihr in der Lage über Schwangerschaftsabbruch geredet habt. Einleitend gehört für mich zu „Pro Choice“ deutlich mehr als nur die Entscheidung gegen die Schwangerschaft sondern z.B. auch Prävention, sichere Geburten ermöglichen und gute Betreuung während und nach der Geburt. Das wird immer so ein bisschen unter den Teppich gekehrt.

Leider sind mir ein paar eurer Äußerungen aufgestoßen. Ich erwarte nicht dass ihr meiner Meinung seid. Viele gute Punkte wurden von den vorherigen Kommentator:innen bereits angebracht. Ich fokussiere mich deswegen auf die, die mir darüber hinaus noch wichtig sind bzw. beim mitlesen hier aufgefallen sind.

  1. [Irrtum zur Rechtslage]

  2. „Pro Life“ „Lebensschützer“ sind bereits wertende, emotionsgeladene Begriffe. Genauso wie das von dir jetzt auch schon mehrmals erwähnte „ungeborene Leben“, oder der „werdende Mensch“. Lebensschützer geht es nicht um Leben sonst würde ihr Aktivismus nicht mit der Geburt enden. Sobald das, was da entsteht tatsächlich lebensfähig ist, tatsächlich als Mensch behandelt werden muss und Fürsorge braucht und verdient wird dafür nicht mehr so vehement eingetreten. Ich möchte ihre Terminologie nicht benutzen. Ein Embryo eine Minute nach der „Empfängnis“ ist genauso ein Mensch wie die einzelne Eizelle und das einzelne Spermium kurz davor. Warum ladet man in dieser Formulierung dieses Stadium so stark auf?

  3. Ein „Schwerwiegender medizinischer Eingriff“ ist nicht immer der Fall. Es gibt moderne Methoden des Abbruches, die vor allem in frühen Phasen keinen großen medizinischen Eingriff darstellen. Diese bekommt man aber in Deutschland nicht zu Gesicht. Ich würde zu medizinischen Themen bzgl Abtreibung gerne an „doctors for choice“ oder „kritische Medizin“ verweisen die erklären das sehr viel besser.

  4. Die aktuelle Rechtslage als „weiser Kompromiss“. Da hattest du mich im Podcast überzeugt zu kommentieren. Nur weil was 1993 als „Kompromiss“ vielleicht sinnvoll erscheint muss das ja jetzt nicht mehr zeitgemäß sein. Es gibt Länder die uns vormachen wie man SA vernünftig regeln kann (Kanada). Die Zahlen dort gingen nicht hoch. Auch andere medizinische Eingriffe haben übrigens moralische Implikationen. Trotzdem müssen sie nicht ins Strafgesetzbuch. Frauen die abbrechen wollen machen das wenn möglich so früh sie können. Die bisherigen Regelungen verzögern das eher und machen es unsicherer und schwerwiegender als es sein müsste (alles schon von anderen erklärt worden) und es als Straftat zu behandeln und verurteilen führt nicht zu weniger Abbrüchen sondern nur zu weniger sicheren und mehr Gefährlichen oder schlimmstenfalls führt es dazu dass Frauen die das absolut nicht wollen die Schwangerschaft durchziehen.

  5. Ulf meinte über Frauen die einen Abbruch hatten: „Sie sind halt zu Pro Familia gegangen und dann 2x zur Ärztin“ Das ist eine sehr privilegierte Aussage. Finanziell und sozial sichere Frauen finden in Deutschland vielleicht mehr oder weniger problemlos eine Art abzubrechen, vielleicht sogar noch eher in Berlin als in München, aber bei dieser Aussage werden Frauen in unterprivilegierter Position komplett ignoriert. Besonders in Bayern ist keine flächendeckendes Angebot gegeben (mehrere Hunderte Kilometer Fahrt notwendig) und Frauen deren Muttersprache nicht deutsch ist werden unnötig Steine in den Weg gelegt oder nicht ordentlich informiert. Dadurch ist eine freie Entscheidung für oder gegen die Schwangerschaft praktisch unmöglich. Nur weil ich persönlich in der Lage wäre mir einen Tag von der Arbeit frei zu nehmen und die Zugfahrt nach Holland bezahlen kann um dort sicher und komfortabel abzubrechen geht das gewiss nicht jeder Frau so. Die derzeitige Gesetzgebung ist gerade so, dass sie für eine Mittelstandsfrau zwar unangenehm aber nicht genug Ärger bereitet um politisch dagegen vorzugehen ist. Die, die hier wirklich drunter leiden hören wir im Diskurs selten.

6 „Gefällt mir“

Mir geht es ähnlich wie einigen Hörerinnen vor mir, dass ich die Lage der Nation schon langer gerne höre und dieses Thema mich so sehr bewegt, dass ich endlich mal einen Kommentar dazu schreibe. Es kann sein, dass ich mich wiederhole, aber vielleicht habe ich ja doch noch den einen oder anderen neues Punkt.
Anfangs habe ich mich sehr darüber gefreut die Geschichte des Diskurses in den USA mitzubekommen. Vieles davon wusste ich noch nicht. Aber dann hat das Gespräch meiner Meinung nach eine sehr seltsame Wendung bekommen. Ich bin selbst im Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung aktiv und plötzlich habe ich mich persönlich angesprochen gefühlt. Das Argument, dass Feminist
innen nicht mehr so krass für das Recht auf körperliche und sexuelle Selbstbestimmung kämpfen sollten, weil sich sont die Fronten verhärten und das strategisch nicht sinnvoll ist, finde ich unüberlegt und einfach nicht gut. Außerdem klingt es wie ein Argument von jemandem, der nicht selbst betroffen ist und die Wut der Betroffenen nicht nachvollziehenwill, beziehungsweise dem angeblicher gesellchaftlicher Zusammenhalt wichtiger ist, als die Rechte von marginalisierten Gruppen in dieser Gesellschaft.
Ich habe mich ein bisschen gefühlt wie in der Parteiarbeit, in der es oft dazu kommt, dass Leute die Inhalte vergessen, weil es nur noch um Strategie geht. Das ist vielleicht ja auch ein bisschen wichtig, aber ich bin ganz sicher nicht bereit, auf meine Rechte zu verzichten, nur weil irgendwer das strategisch sinnvoller findet! Ich will die Hälfte der Macht und dazu gehört auch, dass es keine Gesetze gibt, die mir vorschreiben, wie ich mit meinem Körper umzugehen habe.
Und nochmal ein kleiner Kommentar zur Streichung des Paragraphen 218. Ich bin der Meinung, dass er komplett gestrichen werden sollte und Schwangerschaftsabbrüche bis zum Ende erlaubt werden sollten. In Ländern, in denen es diese Regelung gibt, wie zum Beispiel Kanada kann man sehen, dass die Befürchtung, alle würden dann erst ganz spät abtreiben, nicht bestätigt wird: " 90 Prozent der Abbrüche finden – wie in anderen Ländern auch – vor der 12. Schwangerschaftswoche statt. Abbrüche nach Ablauf dieser Frist erfolgen meist aus medizinischen Gründen." (ZEIT ONLINE | Lesen Sie zeit.de mit Werbung oder im PUR-Abo. Sie haben die Wahl.)
Ich hoffe meine Argumente oder die von Kommentator*innen vor mir haben euch ein bisschen überzeugt.
Liebe Grüße,
Phine

3 „Gefällt mir“

Genau!
Es ist total absurd, anzunehmen, dass Schwangere ewig lange mit dem Abbruch warten oder spontan kurz vor der Geburt abtreiben würden. Eine Schwangerschaft ist körperlich belastend. Eine ungewollte Schwangerschaft wird so schnell wie möglich beendet werden wollen. Da quält man sich nicht freiwillig mit Übelkeit, Rückenschmerzen, dicken Füßen etc., sondern bringt es so schnell wie möglich hinter sich. Zumal auch der Eingriff immer belastender ist, je später er gemacht wird. Da wird ja nicht Hokus Pokus ein Zauberstab geschwungen und plötzlich ist der Bauch wieder flach.

Auch andere Dinge sind in Deutschland nur unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt, z.B. Auto fahren. Trotzdem steht nicht im StGB, dass Autofahren in Deutschland grundsätzlich eine Straftat ist. Oder?

1 „Gefällt mir“

Ergänzung:
Umgekehrt kann es extrem traumatisch sein, ein Kind austragen und gebären zu müssen, das man gar nicht haben will.

1 „Gefällt mir“

Wenn man annimmt, dass das menschliche Leben mit dem Moment der Konzeption beginnt, wäre die Pille verboten, weil es da passieren kann, dass es trotz der Pille zu einem Eisprung und somit zur Befruchtung kommen kann, die befruchtete Eizelle sich aber wegen der Pille nicht einnisten kann. Damit wären Frauen, die die Pille nehmen und Sex mit einem Mann haben, potentielle Mörderinnen.
(Klingt absurd, ist aber für eine Freundin von mir der Grund, nicht die Pille zu nehmen.)

Das ist eine sehr gute Frage!
Die Antwort würde mich auch interessieren!

Als Schwangere darf man übrigens durchaus viele Dinge tun, die die Gesundheit und das Leben des Kindes gefährden: saufen, rauchen, reiten, vom Dach springen,…
Aber diese Dinge gefährden auch ihr eigenes Leben. Das ist wohl okay.
Aber das Ungeborene ganz gezielt und möglichst schonend für die Schwangere von einem Arzt oder einer Ärztin töten zu lassen, das ist verboten. Seltsam.

3 „Gefällt mir“

Ja, ich dachte, wo wir uns schon so innig ineinander verkeilen, können wir uns auch Duzen.
Wie Du vielleicht gesehen hast, haben in der Tat mehrere Männer geantwortet, Sie sollten zu dem Thema nichts sagen, da sie nicht betroffen seien. Somit ist dieser logische Endpunkt eine Position, die explizit vertreten wird und kein „Strohmann“.

Die (Letzt)begründung von Werturteilen ist natürlich eine Herausforderung, aber primär dann, wenn Diskutanten sich auf Metaphysik beziehen (Ihren Glauben, die Seele, Gebote übersinnlicher Wesenheiten etc.).
Die Praxis sieht doch so aus, dass es einen mehr oder minder rationalen Diskurs gibt und auf dessen Basis am Schluss ein Konsens oder Kompromiss erreicht wird (in der Gesetzgebung, in der Ethik-Diskussion ist das Ergebnis in der Regel eine Entscheidung, den Kontakt fortzusetzen oder abzubrechen, weil einem jemand mehr oder weniger sympathisch geworden ist). Die dabei verwendeten Argumente sind I.d.R. entweder empirische Aussagen über Wirkungszusammenhänge, utilitaristische Werturteile oder metaphysische Werturteile (bzw. nicht weiter begründete Gefühle).
Die ersten beiden Arten von Argumenten ermöglichen einen rationalen Dialog, die letzten beiden erschweren ihn eher.
Meine Antwort ist also, dass die Begründung nur erwachsen kann aus einem Diskurs, der von Normen der Rationalität, aber auch der Offenheit, Toleranz und Wertschätzung getragen wird.

Damit schließe ich mich dem von Dir so eifrig geschmähten Sam Harris an, dass letztlich nur die Empfindungen bewusster Wesen einen Wertmaßstab bilden können - und dieser empirisch erfassbar ist, so dass hier kein grundsätzliches epidemiologisches Problem besteht. Das Problem entsteht m.E. erst im Dialog mit Leuten, die das anders sehen und sich auf Heilige Schriften u.ä. berufen.)

Am Schluss muss ich außerdem sagen, dass moralische Relativismus sich auch zu rechtfertigen hat. Wir haben alle dieselbe Biologie und leben in unauflösbarer gegenseitiger Abhängigkeit. Wie kann moralischer Relativismus dabei zu outcomes führen, die von der Mehrheit als fair und gerecht akzeptiert werden und nicht einfach zum Recht des Stärkeren?

Zur Beratungspflicht möchte ich noch ergänzen:
Ist es so schwer zu verstehen, dass man bei einer ungewollten Schwangerschaft NICHT so viel darüber nachdenken möchte, weil man Angst hat, sich ewig schuldig zu fühlen? Gerade weil man nicht leichtfertig abtreibt, sondern einfach wichtige Gründe dafür hat?
Man stelle sich vor, man müsste sich jedesmal beraten lassen, bevor man Fleisch isst und womöglich mit Bildern aus Massentierhaltung und Schlachthöfen konfrontiert werden! Viele Menschen wollen nicht darüber nachdenken, dass das Schnitzel auf dem Teller mal ein Tier war, wie es gelebt hat und wie es gestorben ist.
(Ja, der Vergleich hat Schwächen. Es ist nunmal nichts mit einer Schwangerschaft vergleichbar.)