Es gibt auf den einschlägigen Videoplattformen haufenweise Videos dazu, wie sehr außerhalb der internationalen Gepflogenheiten Deutsche sind. Das habe ich auch bei meinem letzten interkulturellem Training gelernt: Wir Deutsche sind merkwürdig. Die meisten Menschen verhalten sich nicht so, wie wir es tun. Das ist durchaus ein Thema, das man mal genauer beleuchten könnte.
Das heutige Deutschland wird dadurch gelähmt, dass keiner mehr Verantwortung tragen möchte. Deshalb braucht es für Alles die Goldrandlösung in der alle Eventualitäten geprüft und Mögliche Schwachstellen beseitigt werden, bei gleichzeitiger Einbeziehung möglichst vieler Verantwortlicher, damit zum Schluss jeder dagen kann : „Ich habe das so nicht gewollt, das ist in einem Gremium mit Mehrheit beschlossen worden. Ich trage selbst keine Verantwortung.“
Ich denke, also ganz subjektiv, das wir speziell in Deutschland eher ein Problem haben mit der Diskrepanz von Selbstbild und Fremdbild.
Unser Selbstbild schwankt einerseits zwischen (berechtigtem) Selbstbewusstsein und andererseits von (weitgehend) hohen Pflichtbewusstsein und Fleiß.
Das Fremdbild im Ausland scheint da differenzierter, schwankt eher von einst Bewunderung (für das Erreichte) bis Überheblichkeit, andererseits vom alten „Made in Germany“ hin zu kompliziert und umständlich.
Wir müssten unsere Sicht öfter mal hinterfragen, denke ich.
So überlegen, wie wir uns manchmal offenbar fühlen, sind wir nicht, so verkrampft wie wir denken aber auch nicht mehr.
Absolut. Aber andere Menschen sind auch extrem merkwürdig. Und auch über diese Menschengruppen gibt es Videos, wie merkwürdig sie sind.
DANKE! Das beobachte ich auch schon seit langem. Da bekommen Kinder kein Fördergutachten und damit auch in der Schule keine Förderung, weil dem Jugendamt jedesmal ein anderer Aspekt an den mehreren Gutachten und Stellungsnahmen nicht gefällt. Man beruft sich auf angebliche Vorschriften, anstatt einfach die Situation und das Kind anzuschauen und zu sagen: machen wir, weil macht Sinn. Anträge auf Genehmigungen einzelner Fördermaßnahmen brauchen Monate, weil die Fachabteilung alles im Details prüfen muss, und die armen Mitarbeiter sind dort ja „komplett überlastet“. Dass die Kinder schon vorher ähnliche Maßnahmen genehmigt bekommen haben, sich an der Sachlage nichts geändert hat und daher auch die Sekretärin theoretisch genug Einblick hätte um zu entscheiden, will niemand wahrhaben.
Für mich ist allerdings auch die Frage, wer ist „wir“? In der Lage wurde gerade erst diskutiert, dass es in manchen Bereichen erhebliche Mentalitätsunterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen gibt. In Umfragen werden immer wieder Differenzen zwischen Alt und Jung deutlich. Und von 83 Millionen Einwohnern sind 21 Millionen zwar Deutsch, aber mit Migrationsgeschichte (und damit vermutlich mit zumindest teilweise anderer Kulturhistorie) und 14 Millionen sind schlicht Ausländer.
Das ganze ist ein Riesenthema, von dessen Zusammenhang ich noch nicht überzeugt bin (allein schon weil ich bisher keine Kontrollgruppe gefunden habe, die insgesamt weniger „kompliziert“ ist). Daher erst einmal so viel:
Beim Vergleich von Sprachen wird sehr oft extrem subjektiv geurteilt. Ob eine Sprache „schwierig“ ist, hängt aber schlichtweg davon ab, welche Muttersprache(n) man spricht. Ebenso fragwürdig scheint mir das Label „Präzision und Detailverliebtheit“. Welche Sprache stellt denn keine Mittel zur Verfügung, um genau das auszudrücken, was ihre Sprecher_innen zum Ausdruck bringen wollen? – Die Mittel sind unterschiedlich, das schon.
Kommunikationsmuster und Missverständnisse – ja, das gibt es natürlich, das gibt es überall, und damit haben alle zu kämpfen, egal ob deutsch oder nicht. Es gibt wohl kaum etwas Menschlicheres als das Bedürfnis zu kommunizieren, das Entwickeln von Mustern und das Kämpfen gegen Missverständnisse.
Weswegen ich das Thema wieder hervorhole, ist aber ein anderer Aspekt, nämlich die Bürokratie, die in der LdN nachvollziehbarerweise immer wieder eine Rolle spielt. Hierzu der Eingangspost:
Dies würde ich durch einen Punkt ergänzen, der mir hilft, im Alltag nicht zu verzweifeln: Bürokratie ist letztlich aus dem Bedürfnis entstanden, Willkür entgegenzuwirken. Leider ist das Pendel etwas zu weit ausgeschlagen (was will man auch von einem Pendel erwarten), daher diese zum Teil verrückten Auswüchse, die uns in vielen Lebensbereichen permanent bremsen. Aber wenn man sich den ursprünglichen Sinn bewusst macht, fällt es vielleicht leichter, den Abbau übertriebener administrativer Akte in seiner eigenen Einflusssphäre voranzutreiben (statt über „unsere Kompliziertheit“ zu verzweifeln).
Das ist in jedem Fall ein wesentliches Merkmal, welches das Erlernen einer Sprache einfacher macht, hat aber nicht direkt mit der Kompliziertheit der Sprache zu tun. Das hat schlicht mit Gemeinsamkeiten (gleiche oder unterschiedliche Schriftzeichen, synthetische oder analystische Sprache, damit auch Grammatik…) zu tun, im Hinblick auf die Aussprache auch damit, ob die Sprachen über ein ähnliches phonetisches Inventar verfügen, also ob die zu lernende Sprache andere Laute nutzt als die Muttersprache(n). Das alles kann dazu führen, dass eine allgemein „schwierigere“ Sprache für manche, die eine eng verwandte oder ähnlich funktionierende oder klingende Sprache verwenden, leichter zu lernen ist, als eine allgemein „einfachere“ Sprache. Dennoch können wir Sprachen ganz generell einen Schwierigkeitsgrad zuordnen. Sprachen mit Artikeln sind z.B. grundsätzlich in dieser Hinsicht schwieriger als Sprachen ohne Artikel, Japanisch z.B. hat eine zusätzliche Schwierigkeit in Form von „Zählwörtern“, was die Sprache in dieser Hinsicht schwieriger macht als Sprachen ohne Zählworter.. Sprachen, in denen viel über die Intonation ausgesagt wird (z.B. Mandarin, wo „Ma“, je nachdem, ob es mit steigender, fallender oder gleichbleibender Intonation und hoch oder tief gesagt wird ganz unterschiedliche Bedeutungen haben kann, von der Mutter bis zum Pferd…) haben in dieser Hinsicht eine besondere Schwierigkeit, die gerade uns Europäern das Lernen erschwert, die aber auch ganz neutral betrachtet die Sprache schwieriger zu erlernen macht.
Hier würde ich aus linguistischer Perspektive widersprechen.
Deutsch gilt in der Linguistik als konservative Sprache (vor allem im Kontrast zu Englisch), daher: die deutsche Sprache verändert sich nur sehr langsam und die deutsche Sprechergemeinschaft ist sehr bemüht, Veränderungen abzuwehren (ähnlich wie die französische btw.).
Mal ein Beispiel: „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“
In der überwiegenden Zahl aller Sprachen ist entweder der Dativ oder der Genitiv irgendwann ausgestorben (meistens tatsächlich der Dativ) und der jeweils andere Fall hat die Rolle übernommen, ohne, dass die Verständlichkeit der Sprache darunter gelitten hätte. Das ist ein Prozess, der linguistisch absolut normal ist, es braucht keinen Dativ und Genitiv. In der deutschen Sprache kommt dann aber sofort eine Gegenbewegung in’s Rollen, verfasst Bücher darüber, wie schlimm der Tod des Genitiv wäre und manche konservative Politiker und „Sprachaktivisten“ halten schon Grabgesänge auf die deutsche Sprache und die gesamte Bildung, wenn der Genitiv sterben sollte, die Verwendung des Genitiv wird fast schon zum Identifikationsobjekt der selbsternannten Sprach- und Bildungs-Elite. Und das ist typisch Deutsch, sowohl auf die Sprache als auch auf die Sprecher bezogen…
Ich persönlich kann mit diesem Denken nichts anfangen. Hey, ich benutze den Genitiv, weil ich damit groß geworden bin, aber wenn die nächste Generation entscheidet, es nicht mehr zu tun, geht der deutschen Sprache damit rein gar nichts verloren, im Gegenteil, sie wird geringfügig weniger kompliziert (und damit meiner Meinung nach sogar „besser“, jedenfalls definitiv nicht „schlechter“).
Also ja, alle Sprachen stellen ihren Sprecher:innen Mittel zur Verfügung, sich genau auszudrücken, aber einige Sprachen machen das wesentlich komplizierter als andere. Es hat einen Grund, warum z.B. Latein ausgestorben sind (es ist ja nicht so, dass alle Römer plötzlich vom Blitz erschlagen worden wären…). Die Sprache war viel zu komplex, es kam zu Vermischungen mit anderen Sprachen und die Mischformen aus Latein und den anderen Einflüssen resultierten in den einfacheren „romanischen“ Sprachen wie Spanisch, Französisch und Italienisch, gegen die das Latein keine Chance mehr hatte. Und Spanisch ist die einfachste dieser Sprachen, weshalb es auch kein Wunder ist, dass diese Sprache sich international gut halten konnte. Ebenso liegt - neben der politischen Ebene der Dominanz der USA - darin auch ein Grund, warum Englisch so eine dominante Rolle hat und so schnell nicht von Mandarin verdrängt werden wird - einfach weil Englisch grundsätzlich leichter zu lernen ist als Mandarin (dennoch lernen mit wachsendem Einfluss Chinas natürlich auch immer mehr Menschen Mandarin…).
TL;DR:
Deutsch ist eine konservative, verhältnismäßig schwierige Sprache. Das passt (leider!) zum deutschen Geist.
Du scheinst auch nicht ohne „gerade uns … erschwert“ auszukommen …? – Das ist eben der springende Punkt. Die Schwierigkeit von Sprachen findet sich an verschiedenen Stellen des Systems – eine Vielzahl von grammatischen Kategorien, ein reiches Phonemsystem, Phraseologismen-Reichtum usw. –, aber keine natürliche Sprache ist per se schwerer als eine andere. Wenn das so wäre, dass z.B. Yoruba mit seinen Ton-Sandhi-Erscheinungen oder auch Inuktitut mit seiner reichen Morphologie per se, als ganzes Sprachsystem, schwieriger wäre als beispielsweise das Englische, dann wäre doch zu erwarten, dass Kinder mit Yoruba oder Inuktitut als Muttersprache später sprechen lernen als mit Englisch als Muttersprache.
Spracherwerb im Kindesalter ist tatsächlich noch mal ganz anders zu betrachten als Spracherwerb im Erwachsenenalter. Kinder können in der Tat erstaunlich komplexe Sprachen lernen, woran Erwachsene jedoch später verzweifeln. Deshalb ist die Unterscheidung zwischen Muttersprache und Zweit/Drittsprache in der Diskussion so relevant. Es scheint in der Tat so, dass bei Kleinstkindern (also wir reden hier über die wirklich frühen Jahre) die Sprache beliebig komplex sein kann.
Nun kann man lang und breit diskutieren, welche Auswirkungen das für eine Gesellschaft hat - z.B. ob das Erlernen einer besonders komplexen Sprache als Kind im späteren Leben Vorteile bringt. Aber das führt alles sehr weit von der Diskussion weg. Das Argument, Kinder in gesellschaften mit besonders komplexen Sprachen müssten später sprechen ist jedenfalls etwas unterkomplex, so einfach scheint es dann leider doch nicht zu sein. Daraus den Schluss zu ziehen, es gäbe keine unterschiedlich schweren Sprachen, ist jedoch auch verfehlt. Eine Plansprache, die bewusst einfach konstruiert ist (z.B. Esperanto) kann man in der Tat deutlich schneller lernen als eine hoch-komplexe Sprache mit vielen Irregularitäten.
Da regt sich in mir auch ein bisschen Widerspruch: Die Sprache selbst ist nicht konservativ; normal ist, dass sich Sprachen verändern. Wenn die Sprachgemeinschaft beschließt, diese Veränderungen nicht zu akzeptieren, kann sie diesen Prozess abbremsen.
Selbst da fällt mir spontan ein Gegenbeispiel ein: Im Finnischen gibt es eine ähnliche Abneigung gegen Lehnwörter wie im Französischen. Dass dies in beiden Sprachen nicht immer schon so war, kann man ohne großen Aufwand nachvollziehen.
Die Frage ist viel eher: Welchen Einfluss haben Sprachnormierer (also Leute, die sich über Sprachwandel aufregen und dies in der Gesellschaft so platzieren, dass dadurch der Wandel gebremst wird)?
Naja, ich betrachte die Sprache jetzt eher im historischen Kontext, insofern ist „die Sprachgemeinschaft“ im Spiegel der Zeit kaum von „der Sprache“ zu trennen.
Wie gesagt, die Festlegung, ob eine Sprache als „konservativ“ gilt (das stammt übrigens aus dem Lehrbuch „English Linguistics“ von Bernd Kortmann; daraus auf Seite 120: „German is the most conservative among the modern Germanic languages (together with Icelandic).“) wird eher anhand der historischen Entwicklung gemacht. Einige Sprachen haben sich über die Jahrhunderte stark gewandelt, andere weniger stark. Deutsch zählt zu den „konservativeren“ Sprachen, die sich weniger stark gewandelt haben.
Aber auch wenn wir die heutigen Zustände als Resultat einer historischen Kontinuität sehen kann man zu dem Urteil kommen, dass Deutsch auch heute noch eine konservative Sprache ist. Meine Ablehnung des „Rates für deutsche Rechtschreibung“, der seit Gründung 2004 bis zum heutigen Tage von Kulturkämpfern der CSU angeführt wird, habe ich hier im Forum ja schon öfters ausgeführt. Siehe Diskussionen zur Entscheidung besagten Rates, Gendersterne und andere das dritte Geschlecht umfassende Sprachregelungen abzulehnen. Auch der Rat für deutsche Rechtschreibung ist - gemessen an ähnlichen Institutionen in vielen anderen Sprachen - ausgesprochen konservativ. Also konservativer als 20 Jahre CSU-Führung geht’s doch wohl kaum…
Mit der Argumentation dürfte es ja dann eh keine komplexen Sprachen geben, oder? (Wie immer man eine nicht komplexe Sprache beschreiben würde – da gehen unsere Vorstellungen, glaube ich, auseinander.)
Zusammenfassend: Für mich bleibt die Frage offen, ob Deutsch wirklich kompliziert ist, ob es sowas wie einen „deutschen Geist“ gibt (wie sähe der aus? Eher norddeutsch, eher bayrisch, sächsisch usw.? Ist ein Freiburger „vom Geiste her“ eher wie ein Greifswalder oder eher wie ein Deutschschweizer …?) und schließlich ob es da irgendeine Korrelation gibt …
Sprachen sterben - je nach Sichtweise „leider“ oder „zum Glück“ - nicht so schnell. Da müssen schon einige Dinge zusammen kommen. Sprache ist eben für die meisten Menschen auch „nationale Identität“ - und die werfen die meisten Menschen / Gesellschaften (again: „leider“ oder „zum Glück“, je nachdem, wo im politischen Spektrum man sich befindet) nicht über Bord. In der Ukraine sieht man aktuell ja sehr gut, wie eine Sprache um das Überleben kämpft und was für ein Rattenschwanz an der Frage nach der Sprache hängt.
Naja, dass es bestimmte Einstellungen gibt, die in bestimmten Gesellschaften eher verbreitet sind als in anderen, ist glaube ich unbestreitbar. Warum das so ist, ist letztlich auch leicht erklärt - wir werden eben in einer Gesellschaft sozialisiert, und diese Gesellschaft hat eine lange Geschichte und oft ein „Selbstbild“, das gepflegt wird. Die hohe Relevanz der Esskultur in Japan führt dazu, dass es dort leider kaum Vegetarier gibt, die hohe Relevanz der Religion in Osteuropa dazu, dass es kaum Atheisten gibt usw… Wenn das schon für ganze Weltanschauungen wie Vegetarismus und Religion gilt, gilt das mit Sicherheit auch für kleinere Aspekte wie die Bedeutung von Dingen wie „Gastfreundschaft“, „Pünktlichkeit“ usw. usf.
Auf der anderen Seite sind die westlichen Gesellschaften von einem großen Hang zur Individualität geprägt - und „die Nation“ / „die Gesellschaft“ ist für die meisten Menschen nicht mehr unbedingt das zentrale Sozialisationsinstrument. Insofern gehen diese klassischen Einflüsse vermutlich grundsätzlich ein wenig zurück, aber spürbar sind sie immer noch.
Andererseits sind auch durch neuere historische Entwicklungen bestimmte Dinge in Deutschland anders als in anderen Ländern. Kaum ein anderes Land legt so großen Wert auf „Datenschutz“ wie Deutschland. Das trifft natürlich nicht auf jeden Deutschen zu (wie gesagt, westliche Gesellschaften sind sehr divers wegen der großen Bedeutung des Individualismus), aber es sind schon bestimmte Aspekte zu erkennen, in denen die Deutschen anders ticken als andere Völker. Das gilt aber natürlich wieder für alle Völker - was für uns das heilige „Auto = Freiheit“ ist, ist für den Amerikaner das heilige „Waffen = Freiheit“. Again: Auch hier sind die Gesellschaften divers, aber dennoch, es ist klar zu sehen, dass unterschiedliche Dinge unterschiedlich gewichtet werden.
Dass es dabei auch Unterschiede nach der Sub-Region innerhalb Deutschlands geben kann, ist unbenommen. Die Sache ist schon etwas komplexer, vermutlich zu komplex, um sie sinnvoll diskutieren zu können, weil die Zusammenhänge so komplex sind, dass sie nahezu unmöglich in ihrer Tiefe verstanden werden können. Keiner von uns hat sich selbst sozialisiert und einige Aspekte der gesellschaftlichen Sozialisation gehen eben hunderte Jahre in der Geschichte zurück. Dennoch sind das alles keine „absoluten“ Einflüsse. Aber alleine, dass es das Klischee gibt, dass „Deutsche besonders pünktlich und fleißig“ seien wird dazu führen, dass einige Deutsche das als Basis für ihre Identität annehmen (quasi Stigmatisierungs/Etikettierungstheorie; self-fulfilling prophecy) und dann auch genau so handeln. Man kann allenfalls darüber streiten, wie stark dieser Effekt ist, aber kaum darüber, ob dieser Effekt tatsächlich besteht.
Umgekehrt wird ein Schuh draus: Natürlich ist Spracherwerb im Kindesalter anders als im Erwachsenenalter; deswegen schrieb ich ja zu Beginn, dass je nach Muttersprache(n) der Erwerb einer weiteren Sprache als schwer oder einfach empfunden wird. Wäre eine Sprache objektiv schwerer und nicht nur in Abhängigkeit der Erstsprache subjektiv schwer/leicht/alles dazwischen, dann müsste sich das auch beim Erstspracherwerb zeigen.
Klar, deswegen schrieb ich ja zu Beginn explizit von „natürlichen Sprachen“ („aber keine natürliche Sprache ist per se schwerer als eine andere“).
Wenn der von Dir beschriebene Mechanismus stimmen würde, hätten wir keine Sprachen, die bezüglich der Merkmale, die Du aufgrund Deiner Muttersprache als „komplex“ beschreiben würdest (z.B. Töne), über lange Zeit hinweg konstant geblieben wären. Über die Jahrtausende hinweg müsste dann zu beobachten sein, wie alle Sprachen nach und nach „einfacher“ würden (wie immer Du dies auch definierst). Stattdessen beobachten wir über alle dokumentierten Sprachstufen hinweg einen parallelen Ab- und Aufbau in verschiedenen Bereichen, und zwar so, dass man auch Muster des Typs „wenn A, dann B“ nachzeichnen kann (vgl. dazu diverse Publikationen von Balthasar Bickel, nur um auch einen Namen zu nennen, denn es handelt sich um die communis opinio in der historischen Sprachtypologie). Konservativität von Sprachen ist bezeugt, ja, aber da würde man heutzutage von „konservativ bezogen auf das Merkmal X“ sprechen. Sprachwandel ist normal; jede Sprache ändert sich, in bestimmen Bereichen schneller, in anderen langsamer, je nachdem können innerhalb von wenigen Jahrhunderten auch große Umwälzungen stattfinden (so etwa Altirisch > Mittelirisch).
Dass es Wechselwirkungen zwischen Sprache und Sprachgemeinschaft gibt, ist klar. Aber schon alleine die objektive Beschreibung von natürlichen Sprachsystemen in ihrer Gesamtheit als „komplex“ oder „einfach“ kann sprachwissenschaftlich nicht sauber vorgenommen werden. Dann kommen die gesellschaftlichen Konventionen hinzu, die Du zu recht als Resultat von Sozialisation beschreibst, denen man auch nicht gerecht wird, wenn man sie insgesamt als „komplex“ oder „einfach“ tituliert. Deswegen werde ich mich hüten, zwischen diesen beiden Bereichen auch noch Zusammenhänge nachzeichnen zu wollen. Es gab ja schon ohne Ende Versuche in der Sprachtypologie, „Sprache“ und „Mentalität“ in signifikantem Maße zu parallelisieren. Dies in diesem Forum mit dem thematischen Schwerpunkt Politik zu versuchen, ist freundlich gesagt sehr ambitioniert.
Das ist es, weswegen ich mich hier überhaupt auf diese sprachwissenschaftliche Diskussion eingelassen habe: Aus meiner Sicht steht der Ansatz des Themenstellers, mit einer „Komplexität der Deutschen“ zu operieren, auf tönernen Füßen. Die Parallelisierung ist mir zu spekulativ; die sprichwörtliche Pünktlichkeit der Deutschen mit sprachlichen Merkmalen der deutschen Sprache zusammenzubringen ist nach heutigem Stand der Wissenschaft nicht haltbar.
[Edit: drei Typos]
Ich bin als Kind u.a. Mit Heinz Erhard aufgewachsen, habe also den Spielreichtum der deutschen Sprache sehr genossen.
Mit ganzen Sätzen und etwas sprachlicher Finesse kann man Menschen heute im Gespräch noch völlig aus der Bahn werfen.
Aber zum Thema: geht es rein um die Kompliziertheit der deutschen Sprache? Dann würde ich den Titel präzisieren.
Oder um die Kompliziertheit der Deutschen als Volk und kulturelle Gemeinschaft?
So wie ich den Themensteller verstanden habe, um beides („Metathema“) – und genau das finde ich schwierig („Das ist es, weswegen ich mich hier überhaupt auf diese sprachwissenschaftliche Diskussion eingelassen habe: […] die sprichwörtliche Pünktlichkeit der Deutschen mit sprachlichen Merkmalen der deutschen Sprache zusammenzubringen ist nach heutigem Stand der Wissenschaft nicht haltbar“, letzer Beitrag vor Deiner Frage).
Weswegen ich das Thema trotzdem nach einem halben Jahr hervorgeholt habe, war der Aspekt der Bürokratie.
Ok, dann ist das Thema breiter gedacht, über die Sprache hinaus.
Was ist es denn was Deutsche kompliziert macht?
Der Hang zur Perfektion? (Für die wir im Ausland ja durchaus bewundert werden/wurden)
Die wohl daraus resultierende Neigung, alles bis ins Detail regeln und unter Kontrolle haben zu wollen? Und die damit verbundene Bürokratie?
Die hohen Maßstäbe die wir an andere anlegen, aber oft selbst nicht einhalten?
Das manchmal Oberlehrerhafte, wenn wir anderen aus unserer Froschperspektive die Welt erklären wollen, ohne dabei zuzuhören?
Aber ich denke jedes Volk, jede kulturelle Ausprägung hat für Außenstehende etwa befremdliches und Kompliziertes….
Bin mir wirklich nicht sicher, ob Deutsche komplizierter sind als andere … Aber auf jeden Fall kann ich aus allen meinen inter- und transkulturellen Erfahrungen sagen: Woran sich wirklich viele stoßen, das ist das von Dir erwähnte Oberlehrerhafte. – Das ist etwas, was von Spanien bis Finnland als sehr unangenehm wahrgenommen wird. Wenn wir hingegen nach Ungarn schauen, würde ich sagen, dass da ähnlich belehrend kommuniziert wird, jedenfalls unter Intellektuellen.
Wichtig wäre halt, dass wir uns nicht damit aufhalten, wir seien soundso und die anderen womöglich völlig anders, sondern dass wir – in erster Linie innerhalb der EU, aber auch generell – nach Gemeinsamkeiten streben und kulturelle Unterschiede nicht verabsolutieren. So kann man gemeinsam sinnvolle Politik machen. (Oder, anders gesagt: Es bringt uns kaum weiter, wenn wir uns einreden, wir als Volk müssten eigentlich ganz anders sein als wir sind. Konkrete Missstände beseitigen – ja! Pauschal „wir sind inkompatibel“ o.ä. – eher kontraproduktiv.)