Klage der Opposition gegen Reform des Wahlrechts

Am Donnerstag haben die Fraktionen von B90/Grüne, FDP und Linke im Bundestag bekanntgegeben, dass sie gemeinsam beim Bundesverfassungsgericht gegen die Reform des Wahlrechts der Großen Koalition klagen (für die juristischen Feinschmecker unter uns: per abstrakter Normenkontrolle). Dazu ein Zitat der Ersten Parlamentarischen Geschäftsführerin der Grünen, Britta Haßelmann (Pressemitteilung Grüne Bundestagsfraktion):

„Das von Union und SPD beschlossene Wahlrecht ist grottenschlecht. Es ist handwerklich schlecht und verletzt Wahlrechtsgrundsätze. Es handelt sich um eine Scheinreform, die ihren Zweck - die Verkleinerung des Bundestages - nicht erfüllt."

(siehe auch Videostatement von Haßelmann auf Twitter)

Anfang November hatte auch der Bundesrat der Reform zugestimmt, die mit den Stimmen der Koalition Anfang Oktober im Bundestag beschlossen wurde. Schon der Kompromiss im Koalitionsausschuss im Kanzleramt im August wurde von von Medien und Experten durchweg vernichtend beurteilt, hier eine Zusammenstellung aus einem von mir mitverfassten Kommentar zum Kompromiss auf dem Verfassungsblog:

Die Koalitionsspitzen haben einen Totalschaden für das Ansehen der deutschen Politik verhindert. Mehr aber auch nicht.“ „Es ist peinlich. Es ist jämmerlich. Es ist grotesk.“ „Die XXS-Reform“. „Ein paar kleine Notbremsen jetzt, eine echte Reform später, vielleicht“; der Mathematiker Christian Hesse spricht von einer „sehr geringen Bremswirkung“. Aus wissenschaftlicher Sicht wird der Kompromiss überwiegend skeptisch beurteilt."

Auch die Experten, die vor dem Beschluss des Bundestages zu einer Anhörung geladen waren, haben den Gesetzentwurf fast unisono kritisiert, eine Auswahl:

Joachim Behnke, Friedrichshafener Professor für Politikwissenschaft, kritisierte dagegen, der Koalitionsentwurf sei nicht in der Lage, seinen Zweck einer „deutlichen Reduktion der Vergrößerung des Bundestages“ zu erfüllen.

Der Augsburger Mathematikprofessor Friedrich Pukelsheim betonte, […] [das] Gesetz [habe] ein „massives Defizit“ […]

Robert Vehrkamp von der Bertelsmann Stiftung sagte, […] der Gesetzentwurf der Koalition [sei] „verfassungsrechtlich zumindest prekär“ und würde nicht zu einer Verbesserung der geltenden Rechtslage führen.

Professorin Sophie Schönberger, Rechtswissenschaftlerin an der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität, bemängelte, auch wenn man sich schon sehr lange mit dem Wahlrecht befasse, sei es kaum noch möglich" zu durchdringen, was mit dem Koalitionsentwurf geregelt werden soll. „Von Bürgerverständlichkeit kann da überhaupt gar keine Rede sein“

Ein kurzer Überblick, was die Reform in der Sache tut (ausführlich siehe Link zu den Expertenzitaten): Erst- und Zweitstimme bleiben, die 299 Wahlkreise auch (diese werden zur übernächsten Wahl auf 280 reduziert). Es sollen aber nun bis zu drei Überhangmandate nicht ausgeglichen werden.

Außerdem wird eine Prise sogenannter interner Kompensation eingeführt. Das bedeutet, dass ein Überhang nicht durch zusätzliche Ausgleichssitze für die anderen Parteien abgegolten wird, sondern innerhalb der überhängenden Partei einem anderen Landesverband Listensitze gekürzt werden. Das gilt aber bei dieser Reform nur sehr eingeschränkt, um eine „föderal ausgewogene Verteilung“ zu wahren. Deshalb dürfte es realistisch nur die CDU Hamburg treffen, deren Abgeordnete sich tatsächlich im Bundestag enthalten haben.

Es soll zudem „unverzüglich“ eine Reformkommission eingesetzt werden, die über eine umfassende Reform beraten soll. Sie soll auch über Themen wie Wahlalter, Parität, Dauer der Legislatur und Modernisierung der Parlamentsarbeit sprechen und ihren Bericht Mitte 2023 vorlegen. Sie soll mit Abgeordneten und Expert:innen besetzt werden.

Eine Reihe von Reformvorschlägen wurden in diesem und diesem Themenvorschlag schon diskutiert. In letzterem Thread (da er ein umfangreicheres Meinungsbild der Talk-Mitglieder bietet) werde ich demnächst noch einen ausführlicheren inhaltlichen Kommentar verfassen. Meine persönlich bevorzugte Reform wäre eine Änderung der Erststimme nach Vorbild der Wahlen zum australischen Repräsentantenhaus. Dort werden die Abgeordenten in einem Wahlgang mit absoluter Mehrheit mittels Präferenzwahl (auch ranked choice oder instant-runoff genannt; auf gut Deutsch: Durchnummerieren und sukzessive Aussieben) gewählt.

Bei der Klage der Opposition dürfte wegen der üblichen Verfahrensdauer in Karlsruhe vor der Wahl allerdings keine Entscheidung mehr fallen, worauf der (auf Twitter unter Pseudonym kommentierende) Wahlrechtsexperte mq86mq hinweist. Er gibt auch einen Hinweis auf die Begründung der Klage:

.@GrueneBundestag und @fdpbt scheinen ihren Normenkontrollantrag zur #Wahlrechtsreform maßgeblich auf fehlende #Normenklarheit stützen zu wollen (von der @Linksfraktion hab ich das noch nicht so gehört). Kann auch die Unmittelbarkeit beeinträchtigen.

Genannt worden ist bisher vorallem, dass unklar ist, ob die 3 unausgeglichenen Überhangmandate insgesamt, pro Partei oder pro Landesliste sind. Außerdem gibts die Nachrückregelung, die ausdrücklich entgegen dem Wortlaut funktionieren soll.

Meines Erachtens ist am problematischsten, dass bei § 6 Abs. 6 Satz 4 BWG unklar ist, ob da tatsächlich (wie beabsichtigt) stets unausgeglichene Überhangmandate zugeteilt werden oder nicht vorrangig Listenmandate zu streichen sind.

Es ist zu befürchten, dass die Bundestagswahl tatsächlich mit diesem Wrack eines Wahlgesetzes durchgeführt wird und Karlsruhe den Bundestag nachträglich zum Nachsitzen verdonnert. Ich finde die Klage und deren Hintergrund dennoch oder grade deshalb diskussionswürdig und ggf. auch in der Lage erwähnenswert. Abseits juristischer Fragen: sollte das Ergebnis der Bundestagswahl knapp ausfallen, könnten die drei nicht ausgeglichenen Überhange, die an die Union fallen dürften, sehr wichtig werden. Dass die Partei der dänische Minderheit SSW zur Wahl antreten wird und wegen der Ausnahme von der Sperrklausel einen Sitz erhalten dürfte, macht das Ganze nur noch komplizierter.

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