Wahlrechts-Reform-Diskussion

Also, wenn der Bundestag mit 709 MdBs zu groß ist und verkleinert werden muss, da hätte ich einen ganz pragmatischen Vorschlag: Verbietet einfach mal die AfD, dann sind wir blitzschnell auf 620 Abgeordnete runter. :wink:

Ja, ich weiß, das wäre undemokratisch, denn immerhin haben die ja ihre Plätze dort weil einige Wähler sie da hin gewählt haben.

Das Thema mit „weniger Wahlkreisen“ sehe ich etwas zwiespältig. Stichwort „Gerrymendering“, siehe Wikipedi. Ich weiß nicht, ob das in Deutschland auch so extrem passieren würde wie in Amerika, aber das Risiko ist da.

Ich halte den Vorschlag mit dem Austausch der Listenplätze für Sub-optimal. Eine Landespartei soll die Plätze einer Partei eines anderen Landes bekommen? Das ist doch so mit den Ländern gemacht, dass aus allen Ländern eine entsprechen Anzahl an Vertreter kommt. Wenn jetzt - mal so als Beispiel genommen aus den Podcast: Die CSU mehr Direktmandate abgreift als Listenplätze, in einem anderen Land (Sagen wir mal „NRW“) ist es andersrum: Die CDU macht mehr Listenplätze als Direktmandate. Dann bekommt die CSU die Listenplätze. Und JETZT hätte Bayern mehr Personen im Bundestag als es sollte und kann so mehr bayrische Klientelpolitik machen. Und NRW kann sich da um so weniger wehren. (Mal davon abgesehen dass CSU und CDU eigentlich zwei Parteien sind und da ein solcher Vorgang nicht in Frage käme)

Wenn ihr noch Gesprächspartner für die Lage sucht und ihr ihn noch nicht kennt, könntet ihr ihn einmal anfragen: Prof. Pukelsheim aus Augsburg. Er ist für mich der Experte auf dem Gebiet und wird in den verschiedensten Kommissionen gehört. Nach ihm sind verschiedene Verfahren zur Bestimmung der Sitzverteilung benannt. Zum Teil werden da auch verschiedene Wahlkreise zusammen gefasst und zwischen ihnen Sitze ausgeglichen. Das Ganze wird in der Schweiz eingesetzt und hat sich bewährt, so dass immer mehr Kantone das Verfahren anwenden.
Sollte Herr Pukelsheim sich nicht als Gesprächspartner gewinnen lassen, könnte man auch bei seinen Doktoranden nachfragen. Die kennen sich bestimmt auch gut aus.
Bei größerem Gesprächsintresse von Seiten der Experten fände ich es interessant, ein paar Einwände und Kommentar hier aus dem Form beispielhaft zu besprechen.

Hallo, ich hab mich am vergangenen Wochenende mal ein wenig mit dem Thema beschäftigt und einige Tabellen zusammengetragen. Tut mir leid, wenn dieser Beitrag etwas länger wird.

Disclaimer: Diese Nachforschungen wurden nicht von jemandem angestellt, der sich beruflich mit dem Sachverhalt auskennt oder Erfahrung in Sachen Wahlrecht hat. Beim Bezug auf die Daten in den beiliegenden Tabellen sollten diese überprüft werden. Die Daten wurden von den Internetseiten des statistischen Bundesamtes, der Internetseite „Der Bundeswahlleiter“ und Wikipedia zusammengetragen und entsprechend markiert. Es wurden hierbei die Daten zur Bundestagswahl 2017 betrachtet, um einen Eindruck zu schaffen, wie die Reformen sich auswirken könnten. Ab Tabelle 6 wird sich auf die vorangegangenen Tabellen bezogen, weswegen keine Quelle mehr angegeben wird.

Motivation
Ich habe von der Wahlrechtsreform der Koalition gehört und Einzelheiten über diese in dem Podcast „Die Lage der Nation“ erfahren. Diese Einzelheiten beinhalteten die Lösung der Koalition Überhangmandate in einem Bundesland durch Listenplätze eines anderen Bundeslandes auszugleichen. Nach meinem Verständnis hieße das, ein direkt gewählter Volksvertreter aus einem Bundesland würde einen indirekt gewählten Politiker blockieren. Zu meiner Schande muss ich zugeben, dass darauf meine innerdeutsche Fremdenfeindlichkeit angesprungen ist. Da es politische Vorgänge gibt in denen ich der Regierung unterstelle bestimmte Bundesländer zu bevorzugen, wie zum Beispiel Bayern im Zusammenhang mit Verkehrsinfrastruktur, wollte ich überprüfen ob die neue Wahlrechtsreform einigen Bundesländern besondere Vorteile liefern könnte.

Vorgehen
Es wurden zunächst allgemeine Informationen zusammengetragen, die nur auf die Parteien oder nur auf die Bundesländer bezogen waren(Tabellen 1 und 2).
Diese konnten dann um Informationen erweitert werden, die Einblick über die Schnittstelle Partei/Bundesland bieten. In Tabelle 3 wurde gezeigt, wie viele Direktmandate jede Partei in jedem Bundesland erhalten hat.
Tabelle 6 sollte dann zunächst einen Überblick schaffen, wie die Sitzverteilung ohne die Regelung mit Überhangmandaten aussehen würde.
Danach kann dann in Tabelle 7 gesehen werden wie viele Überhangmandate jede Partei in jedem Bundesland hat. Außerdem wird betrachtet welche Parteien mehr Direktmandate erhalten haben als ihnen Bundesweit an Sitzen zusteht.
In Tabelle 8 werden die Ausgleichsmandate miteinbezogen. Außerdem wird angegeben wie stark die Anzahl der Sitze je nach Bundesland Prozentual vergrößert wird.
Ab Tabelle 10 wird die neue Regelung betrachtet. Hierbei sind zwei neue Vereinbarungen sehr wichtig. Zum einen werden nur Überhangmandate ausgeglichen, die größer als 3 sind. Außerdem können Überhangmandate durch Listenplätze anderer Bundesländer ausgeglichen werden. Es wurde Zellen rot markiert, wenn Überhangmandate abgezogen wurden um diese umzuverteilen, und gelb markiert, wenn Listenplätze blockiert werden um die Überhangmandate aus anderen Bundesländern aufzunehmen.
Sowohl Tabelle 10 als auch Tabelle 11 sind zweigeteilt, da mir nicht bekannt ist, ob sich CSU Überhangmandate durch CDU Listenplätze anderer Bundesländer ausgleichen lassen. Die folgenden Tabellen behandeln aber nur den Fall, in dem das möglich ist. In Tabelle 12 werden dann die losen Fäden zusammengeführt. Es werden die Wahlergebnisse der Erst- und Zweitstimme gezeigt und dann mit den Auswirkungen der alten und neuen Regelung verglichen.
Tabelle 13 zeigt dann zuletzt wie die einzelnen Bundesländer im Bundestag repräsentiert werden.

Ergebnisse


Die Tabellen 1 bis 13. Leider in einem Bild zusammengefasst, da ich als neuer User nur ein Bild pro Post hochladen darf.

In Tabelle 6 ist zu erkennen, dass bekanntermaßen vor allem CDU/CSU von Überhangmandaten profitiert. Was besonders hervorsticht ist aber, dass CDU/CSU als einziges Parteibündnis Bundesweit mehr Sitze durch Überhangmandate hat als ihnen durch Zweitstimmen zugerechnet werden können. In Tabelle 8 ist zu erkennen, dass Bundesländer mit vielen Überhang- und Ausgleichsmandaten durch mehr Sitze vertreten werden, so erhält Brandenburg 66,4% mehr Sitze als ihnen zunächst zugeordnet wurden, während Berlin aufgrund mangelnder Überhangmandate keine zusätzlichen Sitze erhält. Durch diese Regelung erhält Brandenburg mehr sitze als Berlin. Tabelle 12 zeigt, dass CDU und CSU als einzige Parteien durch die neue Regelung profitieren. Am stärksten getroffen wird die AFD, die 1,1 Prozentpunkte einbüßen würde. In Tabelle 13 ist abzulesen, dass die neue Regelung Ausgleich schafft, was die Vertretung der Bundesländer angeht. Das einzige Bundesland, dass den eigenen Vorteil noch ausbauen kann ist Hessen, wobei diese Abweichung vom Sollwert nur 0,2 Prozentpunkte beträgt.

Diskussion
Es ist zu erkennen, das Direktmandate durch die neue Reform deutlich mehr Einfluss erhalten. Wie in Tabelle 12 zu sehen erhielt die CDU in 2017 30,2% der Erststimmen und 26,8% der Zweitstimmen, könnte sich aber durch die neue Regelung 30,8% der Bundestages sichern. Das lässt sich dadurch erklären, dass wie in Tabelle 10.2 zu sehen, zehn Bundesländer Überhangmandate haben, die nicht durch Ausgleichsmandate ausgeglichen werden müssen. Obwohl die SPD ebenfalls mehr Erststimmen hat als Zweitstimmen hat, verliert sie 0,1 Prozentpunkt, da sie nur in zwei Bundesländern Überhangmandate hat. Die Parteien, die mehr Zweit- als Erststimmen erhalten haben verlieren mindestens 0,5 Prozentpunkte. Was die Größe des Bundestages angeht, worum es eigentlich in der Reform ging, scheint diese tatsächlich deutlich geringer zu sein. Dies liegt vor allem daran, dass Ausgleichsmandate komplett umgangen werden können, wenn CDU und CSU untereinander Direktmandate handeln können. Da der Bundestag verkleinert wird, wird die Vertretung der Bundesländer vermeintlich wieder gerechter, wie in Tabelle 13 zu sehen ist. In dem Zusammenhang scheint meine Sorge, die Anstoß zu diesem Ausflug bot, unbegründet. Allerdings scheint mir weiterhin die Herangehensweise gewählte Listenplätze durch Direktmandate eines anderen Bundeslandes zu blockieren als verbesserungswürdig. Tabelle 9 verfolgt einmal den Gedanken zu Ende, Überhangmandate, Ausgleichsmandate und die Vertretung der Bundesländer gerecht zu halten. Da das aber eine Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Vielfachen ist, sieht man, dass der Bundestag dadurch deutlich mehr Sitze benötigt.
Eine weitere Frage, die nicht klar beantwortet wurde ist: Dürfte eine Partei Überhangmandate aus einem Bundesland in Überhangmandate aus einem anderen umwandeln? Wenn ein Bundesland zum Beispiel 6 Überhangmandate hat und in einem anderen Bundesland alle Sitze an Direktmandate vergeben wurden, aber keine Überhangmandate vorliegen, könnte man 3 der Überhangmandate übertragen und man müsste keine der Mandate ausgleichen.
Ich persönlich hoffe, dass man das berücksichtigt und verhindert hat, aber bin mir nicht sicher ob die Regelung da Interpretation zulässt.

Falls die Formeln der Excel Tabellen dringend benötigt werden, kann ich diese nachreichen, aber das ist viel Arbeit und es handelt sich eigentlich um einfache Dreisätze.

Ich möchte mal die Frage in den Raum stellen, ob das aktuelle Wahlverfahren, das neben der Bundestagswahl auch auf einen großen Teil der Landtagswahlen Anwendung findet, überhaupt noch zeitgemäß ist. (Obwohl mir durchaus bewusst ist, dass sich realistischerweise in absehbarer Zeit keine Mehrheiten für eine radikale Neufassung finden werden.)

Meiner Ansicht nach ist dieses System mit Erst- und Zweitstimme ein Relikt der Bonner Republik und zu der damaligen Zeit durchaus sinnvoll. Die Entfernungen aus entfernten Regionen in die Hauptstadt waren weit, die D-Züge zuckelten vor sich hin, und Ferngespräche per Telefon waren sauteuer, wenn die Leute überhaupt eines hatten. Es war also durchaus demokratiefördernd, wenn jeder Bürger mit einem Problem irgendwo in Reichweite ein Büro eines zuständigen Abgeordneten aufsuchen konnte ohne sich drei Tage Urlaub zu nehmen. Hinzu kam, dass dieser dann i.d.R. Vertreter einer Volkspartei war, die im Wahlkreis oft die absolute Mehrheit der Wähler vertrat, oder zumindest 40% aufwärts.

Das alles ist heute anders. Die Parteienlandschaft hat sich verändert, oft werden Direktmandate jetzt mit bloß einem Viertel der Stimmen errungen. Gleichzeitig ist man jederzeit in der Lage, quasi zum Nulltarif beliebige Abgeordnete bzw. deren Büros telefonisch oder über das Internet zu kontaktieren, und selbst ein Trip nach Berlin für ein persönliches Treffen ist problemlos an einem Tag machbar und auch die Kosten sind für die meisten Leute eher vernachlässigbar.

Gleichzeitig sind auch direktgewählte Abgeordnete so weit in ihren Fraktionen verankert, dass wohl kaum einer sich primär als Vertreter aller Einwohner seines Wahlkreises sieht, sondern das Wahlkreismandat ist eben einfach ein Weg, für seine Partei ein Mandat zu erringen.

Was für Vorteile bietet es also nun dem einzelnen Bürger, dass es Wahlkreisabgeordnete gibt? Meiner Ansicht nach keine. In meinem Wahlkreis ist das z.B. ein SPD-Apparatschik, der da vor ein paar Jahren eingesetzt wurde, weil er sich das Mandat „verdient“ hat und dieser Wahlkreis eben ein klassischer SPD-Wahlkreis ist. Der Großteil der Leute hier wird nichtmal seinen Namen kennen. Der örtliche CDU-Abgeordnete sitzt hingegen über die Landesliste im Bundestag, ist deutlich bekannter und präsenter, und man könnte ihn als „heimlichen Wahlkreisvertreter“ bezeichnen. Wer politisch eher der Linken oder den Grünen nahesteht, wird sich aber mit Anliegen wohl trotzdem kaum an den wenden, sondern eher an irgendeinen Abgeordneten dieser Parteien, der entweder aus der Nähe kommt oder vielleicht sogar von ganz woanders, aber sich mit dem entsprechenden Thema befasst. Ist ja alles auch überhaupt kein Problem.

Das derzeitige System bringt dem einzelnen Bürger also praktisch nichts, außer dass es mit seinen Überhang- und Ausgleichsmandaten, Länderverrechnungen usw. es kompliziert macht, überhaupt nachzuvollziehen, was die eigene Stimme denn nun bewirkt. (Lustig: Bei der Erststimme konkurriert der entsprechende Kandidat im Grunde gar nicht gegen die Kandidaten der anderen Parteien, sondern gegen die eigenen Parteikollegen auf der Landesliste. Wievielen Wählern ist das eigentlich in der Form bewusst?)

Der Grund, weswegen das Verfahren insbesondere bei den großen Parteien so beliebt ist, ist einzig und allein die Verlässlichkeit. Es gab vor Jahren mal Untersuchungen, dass bis zu 80% der Bundestagsabgeordneten bereits vor der Wahl praktisch feststehen, durch „sichere“ Direktmandate und Listenplätze. Nur die übrigen 20–25% sind dann eben die Verfügungsmasse, die der Wähler durch seine Wahlentscheidung hin- oder herschiebt. Mag sein, dass diese Zahlen in jüngster Zeit etwas relativiert werden könnten, seit vielerorts mehr als zwei Parteien um die Direktmandate konkurrieren, aber die Tendenz ist trotzdem da, und demokratischer wird’s auch nicht dadurch, dass nun irgendwo jemand mit 28% das Direktmandat holt, während Spoilereffekte die Konkurrenz gegeneinander ausspielen.

Meiner Ansicht nach wäre es daher an der Zeit, die Wahlkreise und die Erststimme einfach komplett abzuschaffen, und stattdessen offene Listen einzuführen, auf denen man als Wähler Vorzugsstimmen an beliebige einzelne Kandidaten vergeben kann. (Ob nun bloß 1, oder bspw. 5 wie bei den Bürgerschaftswahlen in Bremen oder Hamburg, oder noch viel mehr, wie bei Kommunalwahlen in Süddeutschland, Kumulieren/Panaschieren oder nicht, kann man diskutieren. 2 wäre ja vielleicht auch eine interessante Zahl.)

Wenn der örtliche Kreisverband einer Partei nun seinen Abgeordneten weiter im Bundestag sehen will, dann muss er eben was dafür tun, denn „sichere“ Mandate gibt’s auf einmal praktisch nicht mehr (außer Spitzenkandidat o.ä.). Entweder indem der Abgeordnete so gute Arbeit im Wahlkreis leistet, dass die Leute ihn kennen und ihm gerne ihre Direktstimme geben, oder indem seine Leute einen extrem motivierten Wahlkampf hinlegen, in dem sie den Wählern erklären, warum es wichtig ist, dass ausgerechnet diese Person ihre Unterstützung verdient.

Auch die Landesverbände wären dann faktisch gezwungen, ihren Wahlkampf nicht bloß auf einen Spitzenkandidaten zu konzentrieren, sondern wichtige Experten, die sie unbedingt auch in der nächsten Fraktion haben wollen, eben auch der Öffentlichkeit so zu präsentieren und die Gründe darzulegen, warum diese Leute die Stimmen verdienen, während reine Lobbyisten und Nebenverdienstler vielleicht Probleme bekommen könnten.

Alles in allem würde so ein System die Wahl viel spannender und auch demokratischer machen, was ironischerweise wohl exakt der Grund ist, weswegen die Parteien so etwas garantiert nicht einführen werden. :disappointed: