Ich möchte mal die Frage in den Raum stellen, ob das aktuelle Wahlverfahren, das neben der Bundestagswahl auch auf einen großen Teil der Landtagswahlen Anwendung findet, überhaupt noch zeitgemäß ist. (Obwohl mir durchaus bewusst ist, dass sich realistischerweise in absehbarer Zeit keine Mehrheiten für eine radikale Neufassung finden werden.)
Meiner Ansicht nach ist dieses System mit Erst- und Zweitstimme ein Relikt der Bonner Republik und zu der damaligen Zeit durchaus sinnvoll. Die Entfernungen aus entfernten Regionen in die Hauptstadt waren weit, die D-Züge zuckelten vor sich hin, und Ferngespräche per Telefon waren sauteuer, wenn die Leute überhaupt eines hatten. Es war also durchaus demokratiefördernd, wenn jeder Bürger mit einem Problem irgendwo in Reichweite ein Büro eines zuständigen Abgeordneten aufsuchen konnte ohne sich drei Tage Urlaub zu nehmen. Hinzu kam, dass dieser dann i.d.R. Vertreter einer Volkspartei war, die im Wahlkreis oft die absolute Mehrheit der Wähler vertrat, oder zumindest 40% aufwärts.
Das alles ist heute anders. Die Parteienlandschaft hat sich verändert, oft werden Direktmandate jetzt mit bloß einem Viertel der Stimmen errungen. Gleichzeitig ist man jederzeit in der Lage, quasi zum Nulltarif beliebige Abgeordnete bzw. deren Büros telefonisch oder über das Internet zu kontaktieren, und selbst ein Trip nach Berlin für ein persönliches Treffen ist problemlos an einem Tag machbar und auch die Kosten sind für die meisten Leute eher vernachlässigbar.
Gleichzeitig sind auch direktgewählte Abgeordnete so weit in ihren Fraktionen verankert, dass wohl kaum einer sich primär als Vertreter aller Einwohner seines Wahlkreises sieht, sondern das Wahlkreismandat ist eben einfach ein Weg, für seine Partei ein Mandat zu erringen.
Was für Vorteile bietet es also nun dem einzelnen Bürger, dass es Wahlkreisabgeordnete gibt? Meiner Ansicht nach keine. In meinem Wahlkreis ist das z.B. ein SPD-Apparatschik, der da vor ein paar Jahren eingesetzt wurde, weil er sich das Mandat „verdient“ hat und dieser Wahlkreis eben ein klassischer SPD-Wahlkreis ist. Der Großteil der Leute hier wird nichtmal seinen Namen kennen. Der örtliche CDU-Abgeordnete sitzt hingegen über die Landesliste im Bundestag, ist deutlich bekannter und präsenter, und man könnte ihn als „heimlichen Wahlkreisvertreter“ bezeichnen. Wer politisch eher der Linken oder den Grünen nahesteht, wird sich aber mit Anliegen wohl trotzdem kaum an den wenden, sondern eher an irgendeinen Abgeordneten dieser Parteien, der entweder aus der Nähe kommt oder vielleicht sogar von ganz woanders, aber sich mit dem entsprechenden Thema befasst. Ist ja alles auch überhaupt kein Problem.
Das derzeitige System bringt dem einzelnen Bürger also praktisch nichts, außer dass es mit seinen Überhang- und Ausgleichsmandaten, Länderverrechnungen usw. es kompliziert macht, überhaupt nachzuvollziehen, was die eigene Stimme denn nun bewirkt. (Lustig: Bei der Erststimme konkurriert der entsprechende Kandidat im Grunde gar nicht gegen die Kandidaten der anderen Parteien, sondern gegen die eigenen Parteikollegen auf der Landesliste. Wievielen Wählern ist das eigentlich in der Form bewusst?)
Der Grund, weswegen das Verfahren insbesondere bei den großen Parteien so beliebt ist, ist einzig und allein die Verlässlichkeit. Es gab vor Jahren mal Untersuchungen, dass bis zu 80% der Bundestagsabgeordneten bereits vor der Wahl praktisch feststehen, durch „sichere“ Direktmandate und Listenplätze. Nur die übrigen 20–25% sind dann eben die Verfügungsmasse, die der Wähler durch seine Wahlentscheidung hin- oder herschiebt. Mag sein, dass diese Zahlen in jüngster Zeit etwas relativiert werden könnten, seit vielerorts mehr als zwei Parteien um die Direktmandate konkurrieren, aber die Tendenz ist trotzdem da, und demokratischer wird’s auch nicht dadurch, dass nun irgendwo jemand mit 28% das Direktmandat holt, während Spoilereffekte die Konkurrenz gegeneinander ausspielen.
Meiner Ansicht nach wäre es daher an der Zeit, die Wahlkreise und die Erststimme einfach komplett abzuschaffen, und stattdessen offene Listen einzuführen, auf denen man als Wähler Vorzugsstimmen an beliebige einzelne Kandidaten vergeben kann. (Ob nun bloß 1, oder bspw. 5 wie bei den Bürgerschaftswahlen in Bremen oder Hamburg, oder noch viel mehr, wie bei Kommunalwahlen in Süddeutschland, Kumulieren/Panaschieren oder nicht, kann man diskutieren. 2 wäre ja vielleicht auch eine interessante Zahl.)
Wenn der örtliche Kreisverband einer Partei nun seinen Abgeordneten weiter im Bundestag sehen will, dann muss er eben was dafür tun, denn „sichere“ Mandate gibt’s auf einmal praktisch nicht mehr (außer Spitzenkandidat o.ä.). Entweder indem der Abgeordnete so gute Arbeit im Wahlkreis leistet, dass die Leute ihn kennen und ihm gerne ihre Direktstimme geben, oder indem seine Leute einen extrem motivierten Wahlkampf hinlegen, in dem sie den Wählern erklären, warum es wichtig ist, dass ausgerechnet diese Person ihre Unterstützung verdient.
Auch die Landesverbände wären dann faktisch gezwungen, ihren Wahlkampf nicht bloß auf einen Spitzenkandidaten zu konzentrieren, sondern wichtige Experten, die sie unbedingt auch in der nächsten Fraktion haben wollen, eben auch der Öffentlichkeit so zu präsentieren und die Gründe darzulegen, warum diese Leute die Stimmen verdienen, während reine Lobbyisten und Nebenverdienstler vielleicht Probleme bekommen könnten.
Alles in allem würde so ein System die Wahl viel spannender und auch demokratischer machen, was ironischerweise wohl exakt der Grund ist, weswegen die Parteien so etwas garantiert nicht einführen werden.