Ist Kriegstüchtigkeit für Europa alternativlos?

Die Wahrscheinlichkeit, dass ich morgen vom Blitz erschlagen werde ist auch größer 0. Und dennoch werde ich mir heute Abend die Zähne putzen und mich waschen.

Wenn wir schon mit Wahrscheinlichkeiten arbeiten, dann dürfen wir nicht alle Optionen die größer 0 sind gleichwertig behandeln sondern müssen uns an den höchsten Wahrscheinlichkeiten orientieren.

Wenn wir bei Putin Reden aus der Vergangenheit nehmen, sein Handeln der letzten 30 Jahre ansehen, dann kann man eben sehr gut zu dem Schluss kommen, dass der Überfall auf die Ukraine eben nicht ein spontaner Entschluss war sondern ein weiterer Baustein Russland wieder zu einer wie auch immer gearteten alten Stärke zu verhelfen.

Und da sehe ich nicht nur das Baltikum in Gefahr, sondern eben auch Teile Finnlands und Polens, Georgien, etc.

Und auch Teile Deutschlands, Tschechien, etc. waren unter sowjetischen Einfluss. Die Wahrscheinlichkeit, dass er seinen Einfluss bis weit hierher geltend machen will ist doch um ein Vielfaches, und damit meine ich nicht nur 10 oder 100 fach, größer, als dass er morgen sagt er habe sich umentschieden und verzichte auf weitere Expansion.

2 „Gefällt mir“

Ja, vielleicht ist das zynisch. Mir geht es auch überhaupt nicht darum zu verharmlosen.

Ich stelle lediglich in Frage, dass aus „nicht aufrüsten“ zwingend „Diktatur unter Putin“ sein muss.

Was mich aber, gerade nach Euren Einschätzungen bzgl. des Zustandes zu unserer eigenen Demokratie umtreibt, ist die Frage, wie wir, um im Jargon zu bleiben, an allen Fronten gewinnen wollen.
Wir beschließen ja jetzt wohl kriegstüchtig zu werden, was ich ja nicht mal falsch finde. Aber „Eroberung durch Russland“ ist ja nur ein möglicher Weg in eine Autokratie. Diese Kriegstüchtigkeit wird enorm viele Ressourcen binden. Ressourcen, die womöglich an anderer Stelle fehlen werden. Was machen wir denn, wenn die fehlenden Ressourcen dazu führen, dass der soziale Friede völlig kippt und wir die Demokratie von innen heraus verlieren? Haben wir dann was gewonnen?

Wenn wir Ressourcen im Überfluss hätten, wir eine absolut gesicherte Demokratie wären und es keinen Klimawandel gäbe, dann wäre ich da nicht so zerrissen.

Wer redet denn von Zwingend? Du hast ja selbst das Thema Wahrscheinlichkeit angebracht.

Ich stelle z.B. auch in Frage ob über eine Rote Ampel fahren zwingend einen Unfall zur Folge haben muss und dennoch halte ich an der Ampel.

Letztlich werden auch hohe Rüstungsausgaben wieder die Wirtschaft ankurbeln. Es könnte also, um bei Wahrscheinlichkeiten zu bleiben, auch sein, dass diese Maßnahme erstmal die Wirtschaft stärkt und somit den sozialen Frieden sichert, weil insbesondere Abstiegsängste vorerst reduziert werden.

2 „Gefällt mir“

Da kann man vermutlich noch einige Leute aus der ehemaligen DDR zu befragen.
Die russische Besatzung nach dem 2. Weltkrieg und Etablierung der DDR als russischer Vasallenstaat, zeigt sehr gut, was uns drohen würde, wenn wir eine russische Vorherrschaft einfach akzeptieren.

Das kann sehr schnell gehen, muss auch gar nicht von außen kommen:

Hatten wir schonmal im letzten Jahrhundert in Nazi-Deutschland und der DDR (Stasi). Sehe keinen Grund, warum es nicht wieder so viele Mitläufer und Unterstützer geben sollte.

Schon wieder so eine m. E. unnötig übertreibende Formulierung. Wer hat denn argumentiert, dass das „zwingend“ so sein muss? Anders gefragt: Findest du das Westeuropa ohne ausreichende eigene Verteidigungs- und Abschreckungsfähigkeit weniger anfällig ist für eine autoritäre Transformation und einen verstärkten Einfluss anderer Autokratien (nicht nur Putin, auch Trump oder China)? Und falls ja, warum? Ich fände es ja sehr viel ertragreicher, sich mal über Argumente auszutauschen und nicht nur über Thesen.

Das ist m. E. in der Tat eine berechtigte Sorge und daher plädiere ich auch dafür, das Thema nicht so schablonenhaft mit Entweder-Oder-Fragen bzw. -Szenarien anzugehen, sondern eine möglichst breite gesellschaftliche Debatte darüber zu führen, warum es wichtig ist, dass Europa sich behaupten kann und was es dafür braucht. Das heißt aber eben im Umkehrschluss nicht, dass irgendetwas in Sachen Demokratie gewonnen ist, wenn man diese Debatte nicht führt oder sich einfach pauschal gegen Aufrüstung ausspricht.

1 „Gefällt mir“

Putin hat Großmachtsvisionen, Trump und Xi Jinping reihen sich gut ein. Ich habe das Gefühl es geht immer mehr um Deals – von Taiwan, Grönland, Kanada bis zur Ukraine. Und vor allem der Plan von Putin umfasst sicherlich zumindest die Wiederherstellung der Grenzen der Sowjetunion. Europa ist von der Entwicklung überrannt. Jetzt in eine schnelle Reaktion zu verfallen und nachzuholen, was man unter dem Schirm der USA nicht für nötig gehalten hat, halte ich nicht für eine gute Lösung. Es braucht den Mut außerhalb der Angst zu denken, das Abwägen der Möglichkeiten und eine gemeinsame Strategie unter einem Dach zu finden. Evtl. ist es die gemeinsame Aufrüstung oder zumindest war es dann ein Beschluss nach Ausscheiden anderer Möglichkeiten. Ich stelle mir die Frage, ob wir dafür ausreichend Zeit haben, um rechtzeitig kriegstüchtig zu sein. Allein, um bei uns Wehrpflicht wieder einzuführen, bedarf es einiger Jahre, um die Strukturen wider herzustellen. Gemeinsame Waffensysteme, Zusammenspiel der Armeen, und und und. Und dann kommt der Punkt, an dem wir für z.B. Putin so stark werden, dass er „Präventivkrieg“ denken wird. Und gleichermaßen sehe ich die aktuelle Situation in der Ukraine, die dringend unsere Unterstützung braucht und handeln erfordert. Sorry, wenn ich kritisiert werde, dass ich dazu keine persönliche finale Haltung dazu einnehme. Ich kann es einfach nicht, da es für mich sehr komplex ist und Niemand annähernd beschrieben kann, was welche Entscheidung auslösen wird. Ich bete nur darum, dass es nicht zu einem fürchterlichen Krieg führt. Ich habe nur großes Unbehagen, wenn die „Kriegstüchtigkeit“ von vornherein als alternativlos hingenommen wird.

Die Abwehr äußerer Feinde ist eben eine notwendige aber keine hinreichende Bedingung. Nur kommt man bei den hinreichenden Bedingungen nicht weiter, wenn man notwedige nicht erfüllt. Vielmehr werden die hinreichenden Bedingungen ohne Vorliegen der notwendigen schlicht gegenstandslos.

Was den Umgang mit großen, feindlichen Bevölkerungen angeht, liegt doch auf der Hand, was passiert: man fängt an, die umzubringen, bis sie aufhören, Änderungen zu fordern. Da mit deinem Ansatz gewaltsamer Widerstand ausgeschlossen wäre…dafür gibt es reichlich Präzedenz. Dass Massenmord in statistischem Maßstab aus Geschichtsbüchern verschwunden ist, bedeutet leider nicht, dass er dort bleibt. Und angesichts der Präferenzen von 1/4 bis 1/2 der Wählerschaft wäre ich als Besatzer recht optimistisch, viele, bereitwillige Kolaborateure zu finden, lange bevor es so eskaliert.

Also wenn man auf Freiheit und (echten) Frieden verzichten kann, gibt es Alternativen.
Nebenbei: wie lange wird die entstehende US-Autokratie noch ein demokratisches Europa neben sich dulden? Also selbst wenn einem die russische Bedrohung, zu harmlos erscheint…

1 „Gefällt mir“

Das stimmt nicht. Du wurdest (u. a. von mir) dafür kritisiert, dass du eine steile These raushaust und nicht auf Einwände und Kritik daran eingehst.

Erstens gilt das nicht für alle Staaten Europas - Polen zum Beispiel rüstet schon seit 2022 massiv auf und hat schon vor 10 Jahren massiv vor den fatalen Folgen der deutschen Russlandpolitik gewarnt. Nichts von dem, was jetzt passiert, ist in irgendeiner Weise überraschend. Natürlich kann und soll man darüber diskutieren, ob bestimmte Maßnahmen jetzt nicht vielleicht übereilt sind, aber man sollte auch nicht so tun, als wenn alles nur von diesem einen Moment abhinge.

1 „Gefällt mir“

Ich kann dir nur empfehlen, die zum Teil sehr ausführlichen und gründlichen Diskussionen hier im Forum, die diese Frage behandeln, zu lesen.

Dann wirst du auch sehen, dass es nicht um „Alternativlosigkeit“ ohne weitere Überlegungen geht.

Putin wiederum betet mit Unterstützung seiner orthodoxen Priester darum, dass Russland wieder so groß und mächtig wird wie früher. Hmm …

1 „Gefällt mir“

Im Gegenteil, ich habe sogar diejenigen, die aus meiner Sicht stichhaltige Argumente gegen deine Annahmen ins Feld geführt haben, um Geduld gebeten, in der Hoffnung darauf, dass deine Äußerung keine finale Haltung sein möge.

2 „Gefällt mir“

Ganz ehrlich gesagt, weiß ich es noch nicht. Genau an dieser Meinungsbildung arbeite ich gerade, zumindest, wenn man die Frage etwas weiter fasst und auch die inneren Gefahren für die Demokratie berücksichtigt.

Ich bezweifle nicht, dass eine Verteidigungs- und Abschreckungsfähigkeit ein Beitrag sein kann, autoritäre Transformation von außen zu verhindern. Ich halte es sogar für wahrscheinlich, dass man unter Berücksichtigung aller denkbarer Alternativen zu dem Schluss kommt, dass es ein unverzichtbarer Bestandteil ist. Und ich möchte an der Stelle auch mal sagen: Gewalt halte ich an der Stelle für ein legitimes Mittel. Daher kommen meine Bedenken nicht.
Was bei mir ein Störgefühl verursacht, ist, dass ich nicht wahrnehme, dass jemand die Alternativen mal wirklich ausbuchstabiert hat. Das kann durchaus daran liegen, dass ich die falschen Nachrichten höre oder noch mehr Zeit investieren müsste. Ich beschäftige mich gerne mit Quellen, wenn jemand Empfehlungen hat.
Das andere Störgefühl kommt daher, dass Aufrüstung ja durchaus eine notwendige Voraussetzung für den Erhalt unserer Demokratie sein kann, aber ja keine hinreichende. Ich finde, dass weitere Voraussetzungen, gerade was die Gefahren von innen angeht, doch relativ kurz kommen. Nicht hier im Forum, aber in der Öffentlichkeit.
Es gibt extrem viele denkbare Szenarien. Alle haben Wahrscheinlichkeiten, alle sind unterschiedlich attraktiv. Ich tue mich deutlich leichter einer Argumentation zu folgen, wenn ich sehe, dass jemand viele Szenarien bewertet hat und wie, als wenn jemand nur sagt, was für ihn als einziges Szenario übrig ist.

Welche Alternativen gibt es denn deiner Ansicht nach, die mehr „ausbuchstabiert“ werden sollten?

Damit bist du gerade hier im Forum nicht allein, würde ich sagen. Um darüber zu diskutieren, was Verteidigungsfähigkeit über bloße Aufrüstung hinaus bedeutet und wie man dahinkommt, braucht es aber keine überspitzten Entweder-Oder-Szenarien - die sind da m. E. sogar eher kontraproduktiv.

Wer hat denn hier in Sinne eines „einzigen Szenarios“ argumentiert? Ich finde es nicht gerade sinnvoll, eine Diskussion mit lauter Strohmann-Argumenten zu führen, anstatt sich auf das zu beziehen, was andere tatsächlich gesagt haben.

1 „Gefällt mir“

Es gibt zahllose Diskussionen zum Thema mögliche Alternativen zur Aufrüstung, diese kann man mithilfe der Suchfunktion innerhalb von Sekunden finden (Lupe rechts oben).

@JohanneSAC hat oben klar formuliert:

Und immer noch fehlt die Antwort auf die schon so lange gestellte Frage, die @Flixbus auch auf den Punkt gebracht hat:

Wie genau hält man dann diejenigen, die dazu in der Lage sind, davon ab, das Recht des Stärkeren de facto durchzusetzen?
usw., s. Trump und Ukraine - #84 von Flixbus

Diese Diskussion wird immer neu angerissen, aber die Antworten auf die „Man wird doch noch fragen dürfen, ob es Alternativen gibt“-Fragen, die auf einem m.E. nicht unsympathischen, aber doch total naiven Pazifismus basieren, nicht (oder nur ganz punktuell) zur Kenntnis genommen.
Dadurch kommen wir nicht wirklich weiter.

3 „Gefällt mir“

Das habe ich schon wahrgenommen. Danke dir.

Warum nimmst du dann nicht auf bereits vorgebrachte Argumente Bezug? Das wäre zumindest was ich mir unter einer „Diskussion“ oder „Debatte“ vorstelle.

1 „Gefällt mir“

Gerne – aber warum dann der pauschale Vorwurf?
Egal … Das ist nur ein Detail in der Diskussion; wichtiger wäre es aus meiner Sicht, die Argumente nochmal zu sichten; ich denke, dass du hier wirklich viele Antworten (mitsamt Argumenten und Gegenargumenten) auf die uns alle beunruhigenden Fragen findest.

Das ist aber doch nur der Fall wenn er den Angriff ohnehin vorhat und den Zeitpunkt nicht verpassen kann wo das nicht mehr möglich ist.

Denn dass es keinerlei Absicht des Westens gibt Russland anzugreifen dürfte doch ziemlich unbestritten sein.

Nicht unbedingt. Angenommen er hätte derzeit keine Angriffsabsicht. Eine Aufrüstung in Europ könnte auf Seiten Russlands dennoch zu Ängsten führen, die wir zwar aus unserer Sicht nicht nachvollziehen können, da wir weit weg sind von imperialistischen Gedanken sind, aber dennoch entstehen. Die Kriegswissenschaft beschreibt eben diesen Effekt des Präventivkrieges aus Angst vor der zunehmenden Stärke.

Da die NATO (mit heruntergewirtschafteten Armeen in der EU) für Russland im jetztigen bzw. Zustand von 2022 ja schon eine erhebliche Bedrohung gewesen zu sein scheint (Argument für den Angriff auf Ukraine), hätte Russland ja jetzt nach der Aufnahme von Schweden und Finnland sowieso schon genug Gründe für einen solchen Präventivkrieg?
Wie viel Einmischung durch Russland in die Verteidigung Deutschlands oder der EU und Bündnisse wäre für dich ok? Russland fordert, dass die Erweiterung der NATO im Osten und Balkan zurückgenommen wird. Ist das für dich ok? Was bekommen wir dafür als Gegenleistung? Nicht angegriffen zu werden? Werden diese Länder dem zustimmen oder ist das nicht eine Forderung, die sowieso unerfüllbar ist? Ich versteh nicht, wieso man die Ängste eines Aggressors ernst nehmen muss, der absolut unmögliche Forderungen stellt um sich „sicher“ zu fühlen. Ich denke hier gehts nicht um sicher fühlen, sondern einfach um Imperialismus und Einfluss.

3 „Gefällt mir“

Mal zur Ausgangsfrage: ist Kriegstüchtigkeit für Europa alternativlos?

Antwort: Nein.

Aber jede Alternative hat Folgen und Konsequenzen, über die man genauso diskutieren und Entscheiden muss.
Einige sind hier ja schon gut angeklungen.

Vielleicht zur Begrifflichkeit:
„Kriegstüchtigkeit“ polarisiert schon sehr, obwohl es die Realität schon gut wiedergibt.

Beschreiben wir es so: Es gibt in Europa, speziell in Russland, aber auch in der Welt zunehmend Staaten, die den Einsatz oder die Androhung von Gewalt als legitim ansehen, um eigene oder nationale Ziele zu erreichen.
In der Regel keine Win-Win Situationen, wenn Gewalt im Spiel ist.

Also müssen wir uns überlegen, ob wir als Europa die glaubhafte Fähigkeit haben wollen / sollten, solchen „Avancen“ verteidigungsbereit gegenüberzutreten.
Das kostet Geld, Zeit und Personal.

Die Überwachung von Tempolimits kostet übrigens auch Geld, Zeit und Personal.

Beides hat Vor- und Nachteile.

:wink:

1 „Gefällt mir“