Ja, Manchesterkapitalismus ist abzulehnen.
Ich stimme Dir prinzipiell zu. Allerdings könnte der Begriff „Mittelweg der Systeme“ so verstanden werden, dass er ungefähr gleichweit vom System der Bundesrepublik und dem der DDR entfernt ist. Wenn er so gemeint wäre, würde ich widersprechen.
Ich glaube, der gesündeste Weg liegt viel näher an ersterem.
Das ist schon in der Wirtschaft so, wo ich glaube, aufgrund der Komplexität der Volkswirtschaften und der Weltwirtschaft ist eine zentrale Planwirtschaft zum Scheitern verurteilt, und es funktioniert besser, den einzelnen Akteuren Entscheidungsfreiheit (in gewissem Rahmen) zu geben.
Und wenn wir bei „System“ auch Dinge wie Demokratie und Freiheit mitbetrachten, ist für mich das System der Bundesrepublik noch klarer besser als das der DDR.
Wie gesagt, die Anfangsbedingungen waren nicht ganz gleich, aber ähnlich. In dem von Dir verlinkten Artikel steht, die DDR zahlte 50 bis 100 Milliarden Mark, die Bundesrepublik 135 Milliarden D-Mark. Der Wert einer Mark der DDR lag bei etwa 0,2 bis 0,25 D-Mark. ( Mark (DDR) – Wikipedia )
Ein Unterschied waren die Demontagen von etwas 30 % und, dass die Bundesrepublik 1,4 Milliarden $ (heute 12 Milliarden € Sondervermögen) aus dem Marshallplan angenommen hat, von denen später etwa eine Milliarde zurückgezahlt wurde. ( Marshallplan – Wikipedia ) Zum Vergleich: Das Bruttoinlandsprodukt der Bundesrepublik betrug 1950 etwa 262 Milliarden €, die Kredite/Hilfen aus dem Marshallplan betrugen also weniger als 5 % des BIP eines einzigen Jahres.
Für die These
kann man im Vergleich Bundesrepublik - DDR also sagen, dass die DDR wirtschaftlich vielleicht 1/3 schlechtere Anfangsbedingungen hatte, im Wesentlichen durch die sowjetischen Demontagen. Für wesentlich höhere Korruption zu Beginn kenne ich keine Anzeichen.
Die Ausgangssituation reicht als Begründung nicht aus, dass die DDR Jahrzehnte später weniger als 40 % des BIP pro Kopf der Bundesrepublik erreicht hat ( Vergleich von West- und Ostdeutschland vor der Wiedervereinigung im Jahr 1989 | Statista ).
Ein guter Indikator ist mMn die durchschnittliche Abgabenlast der Arbeitnehmer und die durchschnittliche Höhe der Unternehmenssteuern, weil diese letztlich anzeigen, wie „stark der Staat“ ist.
Mit einer Abgabenlast von fast 50% für einen Single würde ich fast sagen, dass wir irgendwo in der Mitte stehen, die Schweiz (22%) oder die USA (28%) sind hier klare Staaten mit sehr kapitalistischem System („schwacher Staat“). Chile mit 7% Abgabenlast gilt nicht umsonst als grausamer Kapitalismus.
Ich glaube tatsächlich, dass man ohne ideologische oder historische Verblendung aus Kapitalismus und Sozialismus jeweils gleichermaßen Teile erhalten sollte. Das ideale System liegt mMn tatsächlich ziemlich genau in der Mitte, ein System, das beide Systeme fair und gleich abwägt.
Das Problem ist, dass wir die Schrecken des extremen Sozialismus alle noch in jüngster Vergangenheit erlebt haben und deshalb hier stärkere Berührungsängste haben. Die Schrecken des extremen Kapitalismus (ich sage nur: Verelendung der Arbeiterschaft während der Industrialisierung) sind hingegen verblasst, das sind Schrecken, die nicht mal unsere Urgroßeltern erlebt haben, zu denen wir daher keinen direkten Bezug mehr haben. Wie gesagt, beide Systeme sind in ihrem Extrem mMn exakt gleichermaßen menschenverachtend, die Erfahrungen mit dem einen Extrem sind nur frischer…
Wie gesagt, du kannst auch nicht nur auf DDR vs. BRD schauen, da beide Länder in anderen Unterstützer-Umfeldern waren. Der Westen war dem Osten wesentlich überlegen, die BRD hatte Zugang zum gesamten Westen, die DDR nur zum Osten. Man kann diese Dinge nicht vergleichen.
Ich sage nicht, dass die DDR nicht schlechter gewirtschaftet hat als die BRD, ich sage nur, dass man aus dem Vergleich DDR - BRD keine sinnvollen Informationen ziehen kann und dieses typische Argument „WiR hAbEn DoCh AlLe GeSeHeN dAsS dEr SoZiAlIsMuS nIcHt FuNkTiOnIeRt!1!“ kein valides Argument ist. Die Zusammenhänge sind bei weitem zu komplex, es gibt wesentlich zu viele bewegliche Teile in beiden Systemen und ihren Umfeldern um auch nur annähernd eine Kausalität des Sozialismus allgemein für den wirtschaftlichen Verfall zu finden. Kein seriöser Wissenschaftler würde bei derart komplexen Systemen behaupten, hier Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge bestimmen zu können.
Hallo @Daniel_K, verstehe ich dich hier richtig? Du sagst das aktuelle System sei ziemlich mittig und machst das auch an der Abgabenlast von 50 % fest. Und du sagst das ideale System liege deiner Meinung nach ziemlich genau in der Mitte.
Anderseits trittst du in ganz vielen Beiträgen für mehr Umverteilung ein, also quasi eine höhere Abgabenlast. Wie passt das zusammen?
Solche Zustände existieren heute sehr wohl noch - nur halt vor allem außerhalb Europas, was es uns sehr viel einfacher macht, sie zu verdrängen und so zu tun, als ob wir nichts mit ihnen zu tun haben. Ob es nun Bäuer:innen in Ostafrika sind, die nicht mehr in Substiszenz leben können, weil die besten Ackerländer westlichen Nahrungsmittelkonzernen gehören, diese hier das ganze Jahr über bestimmte Gemüsesorten günstig anbieten können. Oder Textilfabriken in Ostasien, deren Arbeitsbedingungen sehr wohl mit jenen in deutschen Textilfabriken vor 150 Jahren vergleichbar sind. Oder Kinder, die in Minen für seltene Erden schuften, damit wir uns jährlich ein schickes neues Smartphone holen können - oder die in Bergen unseres hochgiftigen Mülls leben. All das ist real existierender Kapitalismus 2023, also nicht unbedingt „extremer“ Kapitalismus, sondern der ganz normale.
Das ist ein Aspekt. Da geht aber auch ein, wie effizient der Staat mit dem Geld umgeht und wieviele Transferzahlungen zulasten der Arbeitnehmer er leistet. Er sagt aber weniger darüber aus, wieviel der Staat an Planung vorgibt und wieviel Freiheit er gewährt. Die 50 % bei uns halte ich übrigens für zu hoch und eine der schlechteren Stellen des Systems hier, Arbeit wird im Vergleich zu anderem (Kapital/Erbe, Konsum) zu hoch belastet.
Da sind wir unterschiedlicher Meinung, ich halte die beiden Systeme nicht für ungefähr gleich gut, sondern bei vielen wichtigen Punkten ist für mich das der Bundesrepublik (und ähnliche) besser als das der DDR. Zwischen Freiheit und Unfreiheit, zwischen bundesdeutschem Reisepass und Selbstschussanlagen, zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen Pluralismus und Blockparteien, zwischen Meinungsfreiheit und Zensur, usw. liegt für mich das Optimum nicht in der Mitte (auch wenn es einige Bereiche gibt, wo es in der DDR besser war als der damaligen Bundesrepublik, z. B. die Zahl der Kindergartenplätze).
Hier bringst du andere Aspekte in die Diskussion ein. Du unterstellst quasi, dass Selbstschussanlagen, Blockparteien, Zensur und co. zwangsläufig zum Sozialismus gehören. Diese Meinung teile ich nicht. Diese Dinge gehören allenfalls zum extremen Sozialismus, ebenso wie ähnlich extreme Mittel zum extremen Kapitalismus gehör(t)en (z.B. massive Unterdrückung von Arbeiteraufständen).
Dass es diese Dinge in der BRD nicht gab, liegt nicht am „Heilsbringer Kapitalismus“, sondern daran, dass die BRD kein „extremes System“ hatte.
Nochmal: Wenn ich „von der Mitte beider Systeme“ spreche, spreche ich von der Mitte zwischen „extremen Kapitalismus“ und „extremen Sozialismus“, nicht etwa von der Mitte zwischen BRD-Mischsystem und DDR-Extremsozialismus.
Da sind wir uns einig, aber meine Lösung geht hier eher zu höherer Kapital- und Erbschafts-Besteuerung (also mehr Sozialismus, wenn du so willst…) als dahin, zu sagen, wir müssten die Abgabenlast von Arbeit auf das (zu niedrige!) Niveau von Erbschafts- und Kapitalbesteuerung senken
Guter Einwand, volle Zustimmung.
Meine grundsätzliche Meinung ist, dass wir in Deutschland minimal rechts der Mitte sind, die Skandinavischen Länder und die Niederlande noch etwas mittiger zwischen den Systemen stehen. In diesem Sinne bin ich grundsätzlich für noch ein kleines wenig mehr Umverteilung. Dennoch ist das System Deutschlands schon ziemlich gut in der Mitte. Das sind letztlich aber Detailfragen, ob wir auf einer Skala von 1-10 nun bei 5 oder 6 stehen…
Meiner Meinung nach ist die ganze Idee einer Skala, also die Vorstellung, unterschiedliche Staats- und Gesellschaftssysteme in ein Schema zu pressen, bei dem es zwei „Extreme“ gibt, die sich aber in der Mitte überschneiden bzw. einander angleichen, notwendiger Weise unterkomplex. Auch verstehe ich langsam nicht mehr, was eigentlich das Thema dieses Threads ist. Geht es nun um einen „Sanierungsstau“ in Deutschland, geht es um Deutschlands Position in der Konkurrenz kapitalistischer Staaten oder geht es darum, wie man „Kapitalismus mit menschlichem Antlitz“ schaffen könnte?
Wie das so mit Diskussionen ist… es „entwickelt sich dynamisch“.
Ausgangsbasis war ein Statement, das Deutschland auf dem absteigenden Ast sei.
daraus die Frage, ist das so, und wenn ja, was sind die Gründe.
daraus resultierten sehr viele Antworten, die ein komplexes Bild zur Fragestellung ergaben.
Ob sich daraus eine grundsätzliche Systemfrage stellen lässt, wäre vielleicht schon etwas weit gegriffen.
Danke für den Recap. Mir ist schon klar, dass sich Diskussionen dynamisch entwickeln - ich finde es nur wichtig, dabei etwas den berühmten roten Faden im Blick zu behalten - und der ist mir hier ehrlich gesagt schon sehr früh abhanden gekommen.
Absolut, aber es ist besser als nur die Extreme zu sehen.
Tatsache dürfte sein, dass die Zusammenhänge so komplex sind, dass sie unmöglich in einer Diskussion sinnvoll in Worte zu fassen sind (und selbst wenn man sie in einem Buch über viele hundert Seiten zusammenfassen würde, kaum jemand, der sich nicht beruflich damit mehrere Stunden am Tag befasst, diese Komplexität im Ganzen greifen könnte).
Der Versuch der Darstellung als Skala dient dazu, davon wegzukommen, nur die Extreme zu sehen, sondern darauf aufmerksam zu machen, dass es viele Grauzonen gibt. Eine Darstellung, welche die Realität besser abbildet, wäre vermutlich ein multidimensionales Konstrukt, bei der jede Dimension selbst ein multidimensionales Konstrukt ist. Aber das kann man wie gesagt nicht sinnvolle in Worte, Bilder oder Beispiele fassen, weshalb Vereinfachungen notwendig sind.
Die Frage ist daher nur, ob eine Vereinfachung noch für die Diskussion zweckmäßig ist. Und das würde ich bei einer Vereinfachung auf Skalen bejahen, bei einer Vereinfachung auf reine Extreme hingegen verneinen…
Vielleicht geht es um einen systembedingten Sanierungsstau und die Frage, ob man diesen Sanierungsstau mit kapitalistischen Mitteln oder mit staatlichem Zwang auflösen sollte. Ich denke bei dieser Darstellung wird sehr klar, wie die Themen zusammenhängen.
Wenn es darum geht, ist die Sache aus meiner Sicht ziemlich klar: Es gab mal Zeiten, in denen sogar kapitalistische Staaten sich in begrenztem Maße dafür verantwortlich fühlten, dass „normal verdienene“ Menschen sich eine anständige Wohnung leisten können, dass es in Schulen nicht durchregnet und dass die Bahn auch während einer Grippewelle oder nach einem Unwetter pünktlich fährt. Dank Privatisierung, Deregulierung, Steuersenkungen, „triple down economics“ und „shareholder value“ sind das heute halt die Privatprobleme von Menschen, die zu ungeschickt waren, entsprechende Vermögen anzuhäufen. Und wer das wieder ändern möchte, muss sich Tiraden über Sparzwänge und ähnliches anhören, als stünde die schwarze Null in Artikel 1 des Grundgesetzes.
Dass du Zweifel hast, hab ich schon verstanden. Nur warum? Wenn du als Kernproblem das Delta offene Stellen vs willige Arbeitskräfte identifiziert hast, wie würde es da nicht helfen, die Besetzung z.B. direkt vorzuschreiben? Man kann dieser Art der Arbeitsorganisation einiges vorwerfen, aber dass es nichts bringe kann ich mir kaum vorstellen.
Immerhin verstehe ich langsam wo unsere Differenz liegt. Dann belassen wir es einfach dabei, mit dem hier zugrunde gelegten Freiheitsbegriff kann ich schlicht nichts anfangen.
Grundsätzlich scheint sich hier doch eine Systemfrage herauszustellen.
Mal ganz platt formuliert:
Unsere kapitalistisch orientierte Marktwirtschaft hat als primäres Ziel ja im Grunde die Möglichkeit, das jeder, ob Arbeitnehmer oder Unternehmer sich mit eigenen Mitteln ein gewisses Vermögen anhäufen kann. Daraus resultiert dann Wohlstand.
Dabei hat man auch gewisse Freiheiten, solange man sich „halbwegs“ im Rahmen rechtlich bindender Normen bewegt.
Also kann ich jemanden mehr Geld abnehmen als nötig, solange es kein Wucher oder Betrug ist.
Das Gemeinwohl bzw. Wohl der Gesellschaft ist dabei sekundär. Es ist nur soweit relevant, solange es die passenden Rahmenbedingungen für das primäre Ziel, der Gewinnerzielung, liefert.
Geht diese Schere zuweit auseinander, wie bei den Einkommen aktuell, dann erleben wie Dinge wie heute, das man in Investitionen in das Gemeinwohl so konsequent gespart hat, das es Einschränkungen bei der Gewinnerzielung zur Folge hat.
Hält dieser Trend an, z.B wenn man weiter eine Politik des Erhalts des Status Quo betreiben würde (keine Investitionen in die Zukunft, sondern kurzfristiger Gewinn), dann würde sich schon die Systemfrage stellen.
Zumindest nach der Wertigkeit von Gewinnmaximierung und Gemeinwohl zueinander.
Was wäre höher zu bewerten?
Ja, Deutschland ist im Vergleich zu anderen Industrieländern sehr schlecht. Ich empfehle jedem Deutschen 3 Jahre im Ausland zu leben, um das zu realisieren.
Ich nehme an, dass der Beitrag ironisch gemeint ist? Ironie ist schriftlich leider oft nur schwer erkennbar
Falls nicht, würde ich das doch sehr bestreiten. Wobei es natürlich stark darauf ankommt, über welches Ausland wir hier sprechen. Klar, wer ein paar Jahre in Skandinavien lebt oder in guter Position in der Schweiz oder den USA lebt (und in seinen Suburbs das Elend der Anderen nicht mitbekommt) mag tatsächlich denken, dass es anderswo besser aussähe.
Insgesamt wage ich sehr zu bezweifeln, dass sich die Industrieländer hier viel geben… aber hey, manch einer mag vielleicht die brennenden Straßen Frankreichs, die massiven Mordraten amerikanischer Metropolen oder andere unschöne Dinge den unschönen Dingen in Deutschland vorziehen - das ist letztlich Geschmackssache. Außerhalb von Skandinavien gibt es aber wohl wenige Industrieländer, die ich deutlich vor Deutschland sehen würde, was das Funktionieren des Wirtschafts- und Sozialwesens sowie die Infrastruktur betrifft.
Rahmenbedingungen können auch Anreize sein. Verspricht man zB den Kommunen bei den Ersparnissen gegenüber Erdleitung halbe halbe zu machen, sieht es sicherlich anders aus.
Das Geld ist hier doch schon verdient. Den Aufbau und Betrieb der Netze bezahlt der Verbraucher. Die Netzbetreiber gehen hier kein besonderes Risiko ein (ist in Wirklichkeit komplizierter, aber grundsätzlich trifft das zu). Ist jedenfalls bei Strom so, bei Gas, Wasser und Fernwärme vermute ich mal, dass es hier genauso ist.
Das wäre ein Wunder. Üblicherweise fügen Regulierung Komplexität hinzu. Aber vielleicht ist die Not in den Verwaltungen inzwischen so groß, dass eine de-fakto Deregulierung möglich ist.