Ist Deutschland ein Absteigerland/Sanierungsfall?

Ich habe heute ein Zitat vom früheren EU Kommisar Günther Oettinger in der Tageszeitung gelesen.

„Deutschland ist für mich im Sinkflug unterwegs, ist ein Absteigerland. Deutschland ist ein kranker Fall, ein Sanierungsfall.“

Er beklagt damit eine im internationalen Vergleich mangelnde Innovationsfähigkeit und geringe Reformbereitschaft in Deutschland.

Man könnte es als Seitenhieb eines CDU Politikers gegen die Ampel abtun.
Wenn ich mir aber grad die Umfragewerte der AfD ansehe, die ja offen gegen Innovation und Reformen steht, sowie die Dauer von Projekten und Veränderungen in Deutschland, mag er nicht doch irgendwo recht haben?
Gegenüber dem Ausland treten wir immer noch als grosser Player auf, aber ist es nicht so, das in vielen Bereichen grad eine Menge Länder, auf die wir sonst herabgesehen haben, an uns vorbeiziehen?

Wenn dem so ist, woran liegt es?
Bequemlichkeit? Arroganz? Fehlende Fachkräfte als Innovationsmotor? Zuviel Bürokratie? Sind wir schlicht zu satt geworden?
Oder ist alles prima, wir sind immer noch unangrfochten Weltspitze und es handelt sich nur um die Meinung eines verbitterten alten Mannes?

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Da gibt’s sicher ne Menge an Faktoren, die auch teilweise auf echte Probleme/Herausforderungen hindeuten: Demographie, Klimawandel, Krieg, Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen und vom Export bestimmter Güter, fehlende Investitionen, verschleppte Reformen & liebgewonnene Besitzstände, hoher Schuldenstand.

Was mir aber in solchen Diskussionen häufig fehlt, ist, dass der zumindest gefühlte - relative - „Abstieg“ auch einfach darauf folgt, dass andere Länder besser dastehen, zum Beispiel China oder, um in der EU zu bleiben, Polen. Dass v.a. Entwicklungsländer oder Schwellenländer von einer niedrigeren Basis kommend wirtschaftlich dynamischer wachsen (reine BIP-Betrachtung), sollte niemanden überraschen. Wenn man in die Industrieländer schaut, gibt’s zwar Unterschiede, aber die großen Trends machen fast allen zu schaffen.
Und das ist auch nicht unbedingt schlimm. Kein Land muss in einem „Wettbewerb“ der Nationen ständig an der Spitze stehen. Wenn die Menschen in China oder Indien heute besser leben können als noch vor zwanzig Jahren, bricht mir persönlich kein Zacken aus der Krone, auch wenn es dann verstärkten Wettbewerb geben mag, in dem auch wirtschaftliches Kapital in andere Länder abwandert. Deutschland ist eine kleine Geige im Orchester der Staaten.

Stefan Schulz schreibt in seinem Buch „Die Altenrepublik“ zum demographischen Wandel sinngemäß, dass wir das Schrumpfen (gemessen an den üblichen Wirtschaftskennzahlen) akzeptieren und gut begleiten müssen, indem wir den Wandel, den wir nicht aufhalten können, als Chance begreifen. So, dass am Ende ein lebenswerteres Land steht. Ich bin geneigt, dem zuzustimmen. Dafür braucht es keinen Wettstreit der Staaten, wer denn nun die Speerspitze der Mengen Entwicklung darstellt, sondern nur einen Staat, der sich um das friedliche und auskömmliche Leben seiner Bürger:innen sorgt.

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Aus meiner Perspektive ein definitives ja bei Bürokratie und Digitalisierung. Da ist vieles total marode und im Argen, was anstrengend und zäh ist, wenn man damit auf der Arbeit konfrontiert ist. Nach außen wirkt alles Top (hab oft das Gefühl, die Außenwirkung hat die höchste Priorität) aber wenn man hinter die Fassade guckt, funktioniert vieles nicht. Zu dem Thema Digitalisierung und Verwaltung gab es auch schon eine Lage Folge. Ja, auch ich muss PDF Dokumente ausdrucken, unterschreiben und wiedereinscannen und ich muss jedes Mal dabei tief durchatmen. Arroganz und strenge Hierarchien kommen dazu. In Deutschland muss man alles belegen. „Du kannst gut englisch? Glaube ich dir nicht außer du legst mir ein Zertifikat vor.“ Im Ausland hab ich eher die Hands-on Mentalität erlebt: „Zeig mal was du kannst und dann schauen wir weiter. Wenn du gut bist in dem was du machst, bekommst du neue Möglichkeiten.“

Ich habe den Eindruck, Kreativität wird in Deutschland nicht als etwas positives gesehen. Es muss alles streng nach Vorschrift ablaufen, bloß kein out of the box denken. Ohne Kreativität ist aber Innovation nicht möglich. Zudem ist Deutschland ein Selbständigen-feindliches Land. Egal mit welchen Selbständigen aus verschiedenen Bereichen ich spreche, das ist immer wieder ein Statement das von den Leuten kommt und ich habe es selber am eigenen Leib zu spüren bekommen. Es hat schon auch Gründe warum wie im Vergleich zu z. Bsp. den Niederlanden nicht so viele Start-Ups haben.
Reformen kosten zudem Geld, die Politiker sind nicht bereit das Geld für die notwenidigen Reformen auszugeben. Ein Großprojekt neu zu bauen ist attraktiver als Straßen zu bauen und es kriegt kaum einer mit. Lässt im Wahlkampf vermutlich auch nicht so gut vermarkten. Das Thema „Für Großprojekte rausgeballertes Geld wie Scheuers Maut Debakel und was man damit hätte sinnvolles machen können“, hatten wir schon in einem anderen Thread.

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Hoher Schuldenstand? Wann ist der Schuldenstand denn „zu“ hoch? Im Vergleich zu was? Haben innovativere Länder einen niedrigen Schuldenstand?

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Diesen Mythos hat Merkel in Ihrer wirklichen wirtschaftlichen Ahnungslosigkeit in die Welt gesetzt. Sie hat private Schulden, betriebliche Verbindlichkeiten und Verbindlichkeiten des Staates einfach gleichgesetzt was einfach falsch ist. Durch diesen Fehler haben wir jetzt angeblich kein Geld mehr für Investitionen (aber komischerweise 10Mrd. für Intel btw.).

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Hat das „negative“ Verhalten gegenüber Selbstständigkeit eher was mit Neid oder mit Angst vor Veränderung zu tun?
Es geht auch nicht um den Wettbewerb mit anderen Ländern (auch wenn das in der Aussenwirkung der Politik sehr wichtig zu sein scheint), sondern um die Situation Deutschlands im Vergleich mit anderen Ländern.
Also was machen andere besser? Odr was ist bei uns immer noch top?

Mein Eindruck, um mal einen Punkt zu benennen, ist eine weitverbreitet fehlende Fehlerkultur in Deutschland.
Wir haben z.b. eine Idee, und diskutieren nun lang und mit vielen Fachleuten solange mit der Erwartung, das es dann pefekt ist. Vorher fangen wir nicht an.
Also es gibt die Erwartung, keine Fehler machen zu dürfen. Obwohl man aus Fehlern lernt und grade das Innovation befördert.
Gibt sicher gute Gegenbeispiele, aber dieses zähe Beharren auf Perfektion kann oft eher bremsend sein.

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Es gibt definitiv einige Entwicklungen, die mir Sorgen machen. So stellt der plötzliche Weg weg vom Gas als billige Energiequelle ein großes Problem dar. Ich sage nicht, dass wir uns nicht von fossilen Energien verabschieden sollen, ich stelle nur fest, dass viele Produkte damit in Deutschland teurer bis hin zu unwirtschaftlich werden. Der plötzliche Anstieg der Energiekosten verschärft dieses Problem, weil der Umbau Geld kostet und Zeit für die Planung und Ausführung benötigt.

Zudem habe ich das Gefühl, dass Deutschland in vielen Bereichen technologisch nicht mehr mitkommt oder schon den Anschluss verloren hat. Und das was wir sehr gut konnten, können andere mittlerweile auch oder besser und günstiger.

Wir leisten es uns außerdem, dass wir Infrastrukurprojekte nicht umsetzen. Das betrifft der Ausbau und Modernisierung von Bahnlinien, aber auch Straßenprojekte, die sich für mich nicht nachvollziehbar ewig in die Länge hinziehen. Bei mir in der Nähe wird auf 400m der Straßenbelag einer Bundesstraße erneuert. Da stehe ich täglich 15 Minuten im Stau. Und das soll noch über ein Jahr dauern, wenn ich vorbeifahre, sehe ich aber nie jemanden arbeiten. Das ist auch kein Einzellfall.

Wir leisten uns eine Verwaltung, die Ineffzient und langsam ist. An einigen Orten herrscht akuter Wohnungsmangel, aber Bauanträge werden nicht bearbeitet. Wir brauchen bis zu zehn Jahren für die Genehmigung von Windkraftwerken und kommen dann mit der Erteilung der Transportgenehmigungen nicht hinterher.

Wir benötigen Strom, schaffen den Bau von Leitungen aber nicht. Wir können uns nicht mal einigen, wo die Windkrafträder gebaut werden.

Uns fehlen Fachkräfte, aber wir bekommen die Kinderbetreuung nicht hin (ich weiß, dass auch KindergärterInnen fehlen…).

Wir leisten uns so komplexe Gesetze und Bauordnungen, dass wir größere Bauprojekte nicht umsetzen können und während der Bauphase neue Richtlinien gelten, die mit der alten Planung nicht mehr eingehalten werden.

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Da ist viel Wahres dran.

Wir bremsen uns grad also eher selbst aus.

Aber warum?

Sind wir so überheblich, das wir unsere Unzulänglichkeiten nicht mehr sehen?

Oder ist der Zug schon so weit wdg, das wir uns resigniert am Althergebrachten festklammern?

Oder ist das Tempo der Veränderung zu schnell für uns?

Ja, ich glaube, wir haben gesellschaftlich eine hohe Toleranz für Fehl- und Minderleistungen entwickelt. In den öffentlichen Diskussionen steht im Vordergrund, die „richtigen“ Absichten zu haben. Das Bewusstsein dafür, dass dafür, dass etwas erreicht wird, jemand etwas leisten muss, und dass es wichtig ist, diese Leistung effizient und effektiv zu erbringen, scheint bei uns in den Hintegrund getreten zu sein.

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Ich würde sogar noch weiter gehen.
Erfolg wird längst nicht mehr daran gemessen, was jemand leistet, sondern, was er verdient.
Das hat dazu geführt, dass das Gehalt von der Leistung total entkoppelt ist. Dass es nur noch wenige kleine inhabergeführte Betriebe gibt, hat das noch verschärft.
In den großen unpersönlichen Unternehmen ist es noch leichter, einfach mitzuschwimmen. Wer gut netzwerkt und sich nichts zuschulden kommen lässt, kann Karriere machen. Wer vor allem das Unternehmen nach vorne bringen möchte, stellt hingegen eine Gefahr dar für die, die es sich in ihrem Bereich gut eingerichtet haben. Innovationen sind damit schon strukturbedingt nahezu unmöglich.
Und da in der Politik nur nach oben kommt, wer sich in der Partei die Ochsentour von ganz unten nach ganz oben zugemutet hat, haben wir dort ähnliche Strukturen.

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Also ist uns offenbar die Fähigkeit, in die Hände zu spucken und Dinge anzupacken, verlorengegangen?
Erwas, wofür wir durchaus mal gerühmt wurden.
Spricht für die These, das Deutschland doch bequem geworden ist und die Erwartungen, das alles schon positiv läuft, wenn wir nur lang genug und laut genug drüber reden.

Lohnt sich Leistung in Deutschland noch? Was würde die Krankenschwester mit Doppelschichten dazu sagen? Was die Verkäuferin? Was der Vorstandsvorsitzende eines Dax Unternehmens? Oder ein Fussballnationalspieler? Hängen Leistung und Entlohnung unmittelbar zusammen?

Ich höre oft den Satz „warum soll ich mehr machen, ich bekomme ja nicht mehr dafür.“

Bremst uns das?

Das Gefühl, das sich Leisrung nicht mehr auszahlt?

Ist das ein Grund für die Aussage Oettingers?

Ja, aber das liegt, zumindest an meinem Arbeitsplatz, nicht an den Menschen, sondern an den Zuständen (oben erwähnt Bürokratie, Digitalisierung, schlecht ausgestattete Arbeitsplätze etc.) Wir sind bei uns personell eklatant unterbesetzt und jeder meiner unmittelbaren Kolleg*innen hat mehrere Wochen an Überstunden aufgehäuft. Mich stört sehr, dass in vielen Diskussionen (nicht in dieser) das Klischee vom nicht arbeitenden und nur Kaffeepause-machenden Verwaltungsangestellten hochgehalten wird. Trifft bei uns definitiv nicht zu. Die Rahmenbedingungen sind aber sehr verbesserungswürdig und das bremst aus.

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Ja, wir haben es uns im Wohlstand basierend auf Ausbeutung und Ignoranz recht bequem gemacht. Leider hat er uns abhängig gemacht.

Dass der (teils sinnlos) verschwenderische Umgang mit endliche Ressourcen in unserem Wirtschafts- und Finanzsystem wirtschaftlich war und ist, ist vermutlich die Ursache vieler unserer drängenden Probleme.

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Ich bin in unserem Unternehmen auch eher im Verwaltungsbereich tätig und kenne diese Sticheleien auch.

Was ich aber auch feststelle: es gibt Kollegen/innen, die sich engagieren und kundenorientiert arbeiten, den Laden am Laufen halten. Und es gibt solche, die Kunden eher als Ärgernis sehen, entsprechend unfreundlich sind, jede Pause auskosten und maximal Dienst nach Vorschrift machen.
Beide bekommen das gleiche Gehalt, den gleichen turnusmässigen Bewährungsaufstieg.
Womit begründe ich da den Wert zusätzlichen Engagements?

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Da stimme ich dir zu und bei Kundenkontakt kann ich mir das sehr gut vorstellen. Ich kann natürlich auch immer nur von meiner Situation und dem was ich jeden Tag mitbekomme ausgehen, an anderen Stellen im ÖD mag die Situation eine ganz andere sein. Ich finde ja auch, dass der ÖD dringend reformiert werden muss, aber wenn man da einsteigt, kann man mit dem Thema auch Seiten füllen.

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Unser gesamtes System mit Föderalismus, Selbstverwaltung etc. ist auf Interessenausgleich ausgerichtet, nicht auf konsequentes und entschiedenes Handeln bzw. Handlungsfreiheit.

Daher kann eine unwahrscheinliche unheilige Allianz von Daten- und Naturschützern, Gewerkschaften, fossiler Lobby, GROKO und FDP den Status quo solange verteidigen, bis er letztlich unausweichlich zusammenbricht.

Wir haben lange die Rendite unserer Unterinvestition in die Zukunft genossen, aber unser Wohlstandsmodell ist nicht naturgegebenen, sondern erodiert. Die Klimakatastrophe, außenpolitische Entwicklungen, die Digitalisierung und unsere Demographie untergraben unsere Wettbewerbsvorteile.

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Ich sehe das definitiv so. Dass die Straßen und Schulen kaputt sind, ist normal. Digitaler Unterricht in der Pandemie? Glückssache. Soziale Durchlässigkeit? Seit Jahrzehnten Fehlanzeige. Dass Ämter monatelange Wartezeiten haben, ist halt so. Dass Arztpraxen nicht ans Telefon gehen, weil sie strukturell überlastet sind und unterdigitalisiert - wen juckts? Ärzteverbände fordern ein Digitalisierungsmoratorium. Und natürlich kann man nur bar zahlen.
Statt entschieden die erneuerbaren Energien auszubauen, hetzen Bild und CDU und die FDP will alles „technologieoffen“ mit eFuels, Wasserstoff und Kernfusion lösen.
Etc. Etc….

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Viele ernüchternde Beispiele, mit dem Nachhall von Resignation.

Mal untypisch kreativ und aktiv gedacht:

Wie kriegen wir den nötigen Schwung bzw Anzeichen von Aufbruchstimmung in den Laden Deutschland?

An einer Stelle mal anfangen, statt alles tozudiskutieren oder durch Kompromisse so lange weichspülen bis sich auch wirklich nichts ändern muss.

Wahlweise könnte man auch vorgeben, dass man einen Gegenvorschlag haben muss, wenn man gegen einen anderen ist.

Einfach „technologieoffen“ oder „schlecht gemacht“ ist dann halt nicht mehr.

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Das wäre sinnvoll, würde manche aber ziemlich überfordern.

Aber sehr guter Ansatz