Ist Deutschland ein Absteigerland/Sanierungsfall?

Ich zitiere mich mal selbst:

Darum geht es ja auch gar nicht. Eigentlich muss doch das Ziel sein, dass niemand auf Hilfe von anderen angewiesen ist, um zumindest die Mindeststandards in diesem Land zu haben. Dach über dem Kopf, am sozialen Leben teilhaben, sich gesund ernähren, etc. Aber das funktioniert anscheinend nicht für jeden, denn ein großer Teil kann sich diesen Lebenstsandard und alles was darüber hinaus anfällt, nur leisten wenn andere unter diesem Mindeststandard leben und arbeiten.

Jeder kann es „schaffen“ nur eben nicht jeder. Und die Menge an Menschen, die es nicht schaffen, werden immer mehr, während die Menschen, die es geschafft haben, immer reicher werden. Das kann doch jeder sehen, der sich die Entwicklung ansieht.

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Nein, ich sage nicht, dass es ausschließlich die Rahmenbedingungen sind.
Der Unterschied ist eher, welchen Anteil am Erfolg wir in
a) den Rahmenbedingungen
und
b) positiven persönlichen Eigenschaften (Fleiß, Ehrgeiz, Intelligenz, whatever)
sehen.

Und hier sehe ich vor allem, dass die persönlichen Eigenschaften zu weiten Teilen Resultat der Rahmenbedingungen sind. Jemand aus einem „guten“ Elternhaus hat schon wesentlich bessere Chancen, positive persönliche Eigenschaften überhaupt zu entwickeln.

Deshalb bin ich so strikt gegen Sätze wie „Jeder ist seines Glückes Schmied“ oder „Wenn man nur fleißig und ehrgeizig genug ist, wird man auch Erfolg haben“. Denn diese Sätze geben dem Individuum die Schuld am Misserfolg, obwohl das Individuum eben in weiten Teilen ein Produkt seiner Sozialisation (und damit der Rahmenbedingungen) ist.

Menschen, die selbst aus einem guten Elternhaus kommen, können in aller Regel gar nicht einschätzen, wie privilegiert sie sind. Wenn solche Menschen dann ihren Erfolg darauf zurückführen, dass sie so tolle, ehrgeizige Hechte sind, finde ich das problematisch. Ebenso problematisch übrigens wie die wenigen, die es schaffen, sich aus schrecklichen Ausgangssituationen heraus zu arbeiten und dann davon ausgehen, dass „wenn sie es schaffen konnten, jeder andere es auch schaffen könnte“.

Wie gesagt, das tue ich nicht. Und der aktuelle Status Quo ist weiterhin, dass der entscheidendste Faktor für die Frage, ob ein Mensch erfolgreich ein Studium abschließt, weiterhin ist, ob die Eltern Akademiker sind. Wir sind daher denkbar weit von Chancengleichheit entfernt, weshalb ich es umso wichtiger finde, denjenigen, die schlechtere Chancen hatten, jede Hilfe zukommen zu lassen, die denkbar und möglich ist - und definitiv denjenigen, die schlechte Rahmenbedingungen hatten und gescheitert sind, daran eine Schuld zu geben.

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(Fehlt da ein „nicht“…?)

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Für mich tun sie das nicht, insbesondere drücken sie nicht aus, das der Mensch dann alleinig an einem Misserfolg schuld hatte.

Für mich steckt da drin, dass Du Deine Geburt, Deine Eltern, Deine Sozialisation, den ganzen Rahmen nicht aussuchen konntest. Aber irgendwann wirst Du älter und musst anfangen für Dich selber Verantwortung zu übernehmen. Dann entscheidest Du, ob Du Dich treiben lässt, oder selber schwimmst und versuchst die Richtung zu bestimmen, da wo Du selber Einfluss auf die Richtung und den Verlauf nehmen kannst. Bei diesem Ansatz sehe ich die Chancen höher, zu einem glücklichen und zufriedenstellenden Leben zu finden.

Edit: Die Definition finde ich passend: „Laut der Redensart, dürfe sich der Mensch, um Erfolg und Zufriedenheit zu erlangen, nicht auf den Zufall oder die Hilfe anderer verlassen.“ Eigenes Engagement ist erste Grundvoraussetzung !

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Offensichtlich :wink:

Das Problem an dieser Argumentation ist, dass Weisheit nicht alleine durch Alter kommt.
Wer eine schlechte Sozialisation durchlaufen hat, wird oft auch im (jungen) Erwachsenenalter nicht die nötige Weisheit entwickeln, die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Es sind alles sich selbst bestärkende Zyklen. Das Kind aus dem problematischen Elternhaus wächst in problematischen Umfeldern auf und entwickelt Freundschaften zu anderen problematischen Kindern. Es müssen viele glückliche Umstände zusammentreffen, damit das Kind aus diesem Umfeld herausbrechen kann. Tut es das nicht, wird es nicht die bürgerliche Weisheit entwickeln, nach Bildung zu streben.

Wie gesagt, Menschen, die selbst nicht aus grausamen Verhältnissen kommen, stellen sich das alles viel zu einfach vor. Ein Mensch, der sein Leben lang in Problemumfeldern sozialisiert wurde, wird nicht von Heute auf Morgen plötzlich in der Lage sein, verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen. Diesem Menschen dann vorzuwerfen: „Also spätestens mit 25 hättest du einsehen müssen, dass dein ganzer bisheriger Lebensweg Bullshit war und dich umorientieren müssen!“ ist einfach nicht fair, so funktionieren Menschen nicht. Wer so etwas, aus der Sicherheit der eigenen, positiv verlaufenen Sozialisation fordert, verkennt die Realitäten, in denen weniger privilegierte Menschen sozialisiert wurden.

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Ich denke das ist auch nicht die Erwartungshaltung

Was ist dann Dein Vorschlag, wie man diesen Menschen beibringt, welche Wege / Verhaltensweisen / eigene Maßnahmen ihnen am ehesten weiterhelfen können.

Klagen über schlechte Rahmenbedingungen und schwere Kindheit lösen das Problem doch nicht. Was also sagst Du Ihnen, was sie nun tun sollen? Sich dem Schicksal ergeben und lernen mit Bürgergeld auszukommen? Welche Wege zeigst Du ihnen auf, wie sie ihre Situation verbessern können?

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Die Grundhaltung ist Akzeptanz - und langsame Schritte.

Man kann die Menschen an Arbeit heranführen, man kann langfristige Reha-Maßnahmen machen, man kann ihnen jede Hilfe in diese Richtung anbieten. Wenn diese Hilfe jedoch nicht angenommen wird, gilt es zu akzeptieren, dass ein gewisser Prozentsatz jeder Bevölkerung nicht arbeitsfähig ist.

Diese Menschen haben in aller Regel in ihrem Leben genug gelitten. Gerade diese Trash-TV-Beispiele, die stolz sagen, „sie hätten keinen Bock zu arbeiten“. Schau dir deren Biografie mal an. Das sind keine „bösen Schmarotzer“, sondern Opfer in vielfacher Hinsicht. Und manche von denen sind eben so weit durch, dass auch langfristig keine Eingliederung mehr möglich ist. Wie gesagt, Angebote machen, die Hand ausstrecken - aber wenn das nicht angenommen wird, müssen wir das akzeptieren. Davon geht die Welt nicht unter. Diese Menschen unter Androhung des Entzugs der Existenzgrundlagen in Arbeit zu zwingen zeugt davon, dass man nicht versteht, was diese Menschen bisher schon durchgemacht haben.

Und nein, das führt nicht dazu, „dass das dann jeder macht“, denn so ziemlich kein Mensch sieht diese Leute im Trash-TV und sagt: „Jau, so möchte ich auch leben“.

Die Frage ist erstmal: Haben diese Menschen ein Problem mit ihrer Situation? Oder hast du bzw. der ein Teil der Gesellschaft ein Problem mit der Situation?

Wenn die Menschen ein Problem mit der Situation haben werden sie Hilfe annehmen, um dieses Problem zu beseitigen. Wenn sie sich mit der Situation abgefunden und resigniert haben, kann man wie gesagt Hilfe anbieten, sie aus dieser Resignation wieder raus zu bekommen, aber Zwang durch Entzug der Lebensgrundlage ist keine Hilfe.

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Die Ausführungen sind sehr gut und es steckt auch bestimmt viel Wahrheit da drin.

Dennoch argumentierst Du ausschließlich mit „man muss“ (= alle Anderen, aber nicht der Betroffene selber). Wenn diese Menschen kein Problem mit ihrer Situation haben, dann brauchen sie auch keine Hilfe des Staates in Anspruch zu nehmen. Insofern teile ich Deine Meinung zum Trash-TV-Beispiel auch nicht. Wer gesund ist, dort so aufzutreten, kann nicht krank genug sein, nicht einen Teil für seinen Lebensunterhalt selbst beizutragen bzw. eine Gegenleistung für die Sozialleistungen zu erbringen. Und sei es noch so wenig.

Meine Frau kommt vom Bauernhof. Sie hat als Kind noch die Magd (als „Tante“) erlebt, die aus ärmlichen Verhältnissen kommend eine Hilfsarbeit auf dem Hof angenommen hat. Damit hat sie auch den Anspruch auf Lebensabend auf dem Hof erworben. Aber bis zuletzt hat sie das was ihr möglich war zur Gemeinschaft beigetragen und sei es nur noch das Schälen der Kartoffeln gewesen. Das war schon der Eigenanspruch, dass man sein mögliches mit einbringt.

Deine Ausführungen schildern ein Bild, dass all diese Menschen krank sind. Die gibt es sicherlich. Bei Totalverweigerern sehe ich nach wie vor die Leute die definitiv nicht krank sind und könnten, aber sich verweigern.

Ich habe mehrere LehrerInnen inkl. einer Sozialarbeiterin im Bekannten- & Verwandtenkreis die alle unisono berichten, dass zunehmend in den letzten 3-5 Jahren bei den Schülern im jugendlichen Alter und jungen Erwachsenen die Anzahl derer, die „keinen Bock“ mehr auf Arbeit haben und dies auch lautstark kundtun und Unterricht verweigern bzw. einzige Leistung die pure Anwesenheit ist. Viele von diesen wissen aber wohl sehr genau Bescheid, was ihre Rechte sind und wieviel Geld vom Staat sie Anspruch haben inkl. wie man sich vor bestimmten Maßnahmen der Agentur schützt bzw. wie ihre Eltern das machen. Eine wörtliche Aussage zuletzt war wohl: „Und den Rest machen wir dann schwarz“. Vielleicht ist das einfach noch eine weitere Wahrheit neben Deiner. Für mich ist es nicht akzeptabel hier dann einfach zu sagen, dass halt ein gewisser Prozentsatz einer Gesellschaft nicht arbeitsfähig ist und das sie alle nur Opfer der Rahmenbedingungen und ihrer Sozialisation sind.

Denke, wir haben uns nun ausführlich dazu ausgetauscht. Danke :smiley:

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Das ist einfach noch ein ganz anderes Problem.

Leute, die Transferleistungen missbrauchen, um daneben „schwarz“ zu arbeiten (oder z.B. durch Kriminalität Geld verdienen) und dadurch ein Gehalt zu erhalten, was weit oberhalb des Existenzminimums ist, sind natürlich ein Problem, welches der Staat mit den Mitteln des Strafrechts bekämpfen muss. Das ist letztlich ein ganz anderer Personenkreis, als die Leute, über die wir bisher geredet haben. Das sind Leute, die arbeiten können und auch wollen, aber eben nicht im Rahmen der Legalität, sondern im Bereich der Illegalität.

… und alle Polizisten berichten, die Kriminalität würde immer schlimmer werden. Und alle Arbeitgeber berichten, die Qualität der Azubis würde immer schlechter werden. Statistisch nachweisen lassen sich all diese Dinge i.d.R. nicht, aber das ändert nichts am Bauchgefühl der Betroffenen. Das ist ein klassisches Beispiel von „die Jugend wird immer schlimmer“, wie es schon seit 5000 Jahren regelmäßig postuliert wird. Interessanterweise haben sich die Zustände in den letzten 5000 Jahren aber eher verbessert, die Gesellschaft ist offensichtlich nicht durch eine nach und nach immer schlimmer werdende Jugend kaputt gegangen, auch wenn ausnahmslose jede Generation moniert, die neue Jugend sei schlimmer als ihre eigene.

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Denke, die geschilderten Probleme haben weniger etwas mit Bauchgefühlen zu Generationskonflikten zu tun.

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Ich würde gern noch einmal auf das Bürokratiethema zurück kommen. Vor ein paar Tagen lief im ZDF die Dokumentation

Was dort von Bürokratiemonstern und Verhinderungsstrategien berichtet wurde, hat mich fassungslos gemacht. Ein großer Punkt war hier mal wieder der Ausbau Erneuerbarer Energien, der auch trotz Beschleunigungsgesetz noch viel zu viele Hürden bereit hält und der schleppende Erhalt und Ausbau von Infrastruktur. Es kam eine Professorin der Verwaltungswissenschaften (Prof. Kuhlmann) zu Wort, die erklärt auch in der Reform der Beamtenausbildung zu beraten, leider mit schleppendem Erfolg. Es werde zuviel darin geschult sich juristisch abzusichern, statt Managementqualitäten zu vermitteln, schließt sie.

Andere Quelle, hier klagt auch der ehemalige Wirtschaftsweise Lars Feld über einen besorgniserregenden Bürokratieaufbau in der letzten Zeit.

Mich würde interessieren, warum hier nicht einmal reiner Tisch gemacht wird. Im Grunde war selbst das Habecksche Beschleunigungsgesetz kein Bürokratieabbau, sondern nur eine zusätzliche Sonderregel, die in bestimmten Fällen Abkürzungen ermöglicht. Bürokratieabbau wäre hingegen gewesen, überflüssige Regeln zu identifizieren und zu streichen. Warum macht man Prozesse in Deutschland lieber komplizierter, statt sie zu entschlacken.

Beruflich hatte ich auch schon mit diversen Bürokratiemonstern zu tun. Da wird beispielsweise der sogenannte Ausgleichsenergiepreis, der Strafen für eine Minderenergieproduktion regelt, auf über 100 Seiten und mit etlichen Formeln und Sonderlocken geregelt, statt einfache Lösungen anzusetzen. Spezialisierte Anwälte bedanken sich bei der BuReg über sichere Dauerberatungsverträge bei Netzbetreibern und Versorgern und für potenzielle Regelungslücken, die durch den undurchdringlichen Regelwust entstehen (Vermutung, ich kenne keine, aber bin mir sicher findige Juristen können da leicht Türen finden). Hat ja schon bei CumEx super funktioniert.

Und auch privat musste ich durch die Hölle, nämlich beim Bauantrag eines Hauses. Das Haus wird vom Generalunternehmer über 100 pro Jahr in Deutschland gebaut, auch schon in unserem Landkreis. Trotzdem musste das volle Verfahren, samt diverser selbst zu zahlender Gutachten (ohne nennenswerte Befunde) durchgezogen werden.

Einen Herzschlagmoment gab es ebenfalls. Unser Generalunternehmer hatte leider eine falsche Zeichnung zum Bauantrag eingereicht. Es fehlte die geplante punktuelle Fassadenverkleidung. Eine Tektur war nicht möglich, denn die Außenmaße des Gebäudes wichen so punktuell um 10 cm(!) vom Plan ab. Ein neuer Bauantrag sei daher nötig. Wir müssten uns neu hinten anstellen. Wir verzichteten aufgrund der dann entstehenden Verzögerung von mehreren Monaten.

Plötzlich wurden im Verfahren absurde Auflagen erteilt, wie eine maximale Einfahrtsbreite, damit diese sich ins Ortsbild einfüge. Komischerweise war diese nur halb so breit (ca. 2,5m) wie bei fast allen Nachbarn im Umkreis. Nach einem Hinweis darauf gab man schnell nach.

Oder es wurde bestimmt, dass wir in einer Linie mit den benachbarten Häusern bauen müssten. Schwierig, wenn die Tiefe der Grundstücke massiv voneinander abweicht und auf sowas von den Nachbarn historisch nicht geachtet wurde. Das solle die Rechte der Nachbarn schützen, so das Amt. Die Nachbarn fanden das völlig absurd.

Wir kamen währenddessen auch an einen Punkt, an dem wir im laufenden Antrag 2 Fenster gegenüber der Planung verkleinern wollten. Dies bewirke laut einhelliger Meinung eine Verbesserung der Statik und der Energieeffizienz. Trotzdem verlangte das Amt, das die vorherige Statik und ENEF bereits abgesegnet hatte, eine völlig neue Berechnung von ENEF und Statik - Aufwand 2 Personentage.

In den gesamten Bauantrag gingen sicher allein 60 Arbeitsstunden von uns ein (und einiges mehr vom Generalunternehmer), wovon ca. 50h nur Absprachen (und deren Vor- und Nachbereitung wie Emails oder Vorschriften lesen) mit Ämtern und öffentlichen Trägern beinhalteten, deren Sinn auch den Sachbearbeitern schwer nachvollziehbar war. Da hieß es nur, es sei halt Vorschrift.

Nochmal, warum leistet sich Deutschland solch ein Bürokratiemonster? Warum haut man Gesetze und Vorschriften nicht einfach mal in den Müll, um sie dann entschlackt neu aufzubauen?

Haben wir hier Menschen aus der Politik, Verwaltung oder Juristerei (@Daniel_K?), die sich mit den Gründen auskennen? Welche Optionen haben wir Fehlentwicklungen zu korrigieren und wie?

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Der Grund für strenge bürokratische Vorgaben ist u.a. Rechtstaatlichkeit und vor allem Korruptionsvermeidung - dabei wird natürlich oft total übers Ziel hinaus geschossen, sodass es zu den vor dir geschilderten Szenarien kommt.

Gerade das Baurecht ist historisch (auch heute noch international) von Korruption und Willkür belastet wie kaum ein anderer Verwaltungsbereich, einfach weil die Stakes für den Bürger hier recht hoch sind (wenn man ein Haus für 100k+ Euro baut fallen ein paar Tausend Euro Schmiergeld nicht mehr so in’s Gewicht…). Bürokratie heißt letztlich, dass es für alle Amtshandlungen strikte Vorschriften gibt, an welche die Beamten gebunden sind. Das Gegenstück wäre, den Beamten große Beurteilungsspielräume zu lassen, aber das ist natürlich ein massives Einfallstor für Bestechlichkeit und „Vitamin B“.

Gleichzeitig will man aber keine zu generalisierenden Regeln, da man ja eine gewisse Individualisierung schon erlauben will. Desto mehr Einzelfälle wir aber durch Gesetze und Verwaltungsvorschriften regeln, desto größer wird der Regel-Wulst (was dann den Vorteil der Gerechtigkeit konterkariert, weil plötzlich derjenige, der sich die teure juristische Beratung leisten kann die meisten Optionen hat).

Ich fürchte, eine ideale Lösung gibt es hier nicht. Man könnte Bürokratie abbauen, indem man den Beamten mehr Beurteilungsspielräume gibt (was zu mehr Korruption führen wird) oder weniger Individualisierung zulassen, indem man all diese Sonderregeln abbaut (was zu weniger Freiheit führen wird). Zu viel Bürokratie wiederum wirkt lähmend auf die Wirtschaft, da sie natürlich massive Kosten verursacht, sowohl beim Bürger als auch beim Staat.

Diese drei Aspekte (Freiheitsermöglichung, Korruptionsanfälligkeit, Bürokratiekosten) müssen letztlich fein austariert werden - und egal wie der Staat diese Aspekte austariert, wirklich zufriedenstellend wird die Lösung wohl nie sein (zumindest nicht für alle).

Der andere Aspekt, den du ansprichst, z.B. die Forderung nach neuen Gutachten bei relativ kleinen Planänderungen, hat weniger mit Bürokratie als mit dem Sicherheitsbedürfnis zu tun. Wir bewerten Sicherheit - gerade im Baurecht - schon grundsätzlich sehr, sehr hoch, sodass im Zweifel lieber ein Gutachten zu viel als eines zu wenig gefordert wird. Das Problem ist natürlich das gleiche: Hohe Sicherheitsvorschriften führen zu mehr Kosten, denen dafür die hohe Sicherheit gegenüber steht. Ist halt die Frage, wie viel Sicherheit sich ein Staat leisten will.

Gerade hinsichtlich der ausufernden Bürokratie würde doch die Digitalisierung massiv helfen. Verwaltungsabläufe digitalisieren, freigewordene Mitarbeiter*Innen statt am Schreibtisch dann im „Außendienst“ einsetzen. Kontrolle, Begehungen usw. könnten dann häufiger bzw. schneller durchgeführt werden.

Danke @Daniel_K, so weit, so bekannt. Aber übertreiben wir es nicht? Und vor allem, sorgen mehr Regeln nicht auch für mehr Verwirrung, so dass sich noch eher tricksen und korrumpieren lässt?

Wie machen es andere korruptionsarme Länder? Trotz aller Regeln schafft es Deutschland im Korruptionswahrnehmungsindex (CPI) „nur“ auf Platz 9, wobei der CPI laut Studien stark mit der tatsächlichen Korruption korreliert ist.

Und warum heißt Bürokratieabbau in Deutschland eher neue Regeln für Shortcuts zu schaffen, statt bestehende abzubauen?

Im Übrigen, das Beispiel mit den Fenstern ist keines, dass dem Sicherheitsgedanken folgt. Jeder mit ein wenig Statikgrundwissen weiß, dass ein großes Fenster Statik und Energieeffizienz reduziert, denn Glas isoliert schwächer als eine gedämmte Wand und ist auch kaum auf Druck belastbar. Es ist also jedem klar, dass eine solche Veränderung die Werte nur verbessern kann. Mindestens in einem solch klaren Fall sollten wir pragmatisch sein.

Spricht eigentlich sachlich etwas dagegen, das Bauordnungsrecht inklusive aller Verfahren bundesweit zu vereinheitlichen und dabei gleich zu digitalisieren?

Die aktuelle Kompetenzordnung des Grundgesetzes macht das schwierig.

Bauordnungsrecht ist grundsätzlich (im Gegensatz zum Bauplanungsrecht) Landesrecht, daher kann der Bund nicht daherkommen und sagen: „Wir vereinheitlichen und digitalisieren das jetzt alles!“, sondern das müsste von den Ländern ausgehen. Die Länder müssten sich absprechen und einen einstimmigen Konsens finden, und das wird nicht passieren, irgend ein Land (im Zweifel Bayern) wird immer andere Vorstellungen haben als die anderen. Das ist eben der Preis des Föderalismus.

Also erstmal: Top10 weltweit zu sein ist jetzt kein schlechtes Ergebnis.
Dazu kommt immer die Frage, über welche Art von Korruption wir reden. In Deutschland sind es eher die großen Skandale (schwarze Kassen samt „Ehrenwörter“ bei der CDU, Maskenaffäre, Amthor, DFB-Skandale, ausschweifender Lobbyismus usw.), die Korruptionswahrnehmung begründen. Im Alltag kommt in Deutschland selten ein Bürger auf die Idee, einen Beamten oder Richter bestechen zu können - im Gegensatz zu manchen anderen Ländern, wo solche Alltags-Bestechungen der Normalfall sind und einkalkuliert werden müssen. Das ist die Art von Korruption, gegen die sich die Bürokratie richtet.

Die Korruption, die wir haben, haben wir gerade in den Bereichen, in denen es keine starke Bürokratie und keine Transparenz gibt, üblicherweise dort, wo Unternehmensvorstände, ranghohe Politiker oder Sportfunktionäre Dinge in Hinterzimmern regeln.

Wie gesagt, formalisierte Shortcuts zu schaffen, die der Beamte ausführen muss, ist weniger korruptionsanfällig als eine bestehende Regel abzuschaffen und dem Beamten einen großen Beurteilungsspielraum einzuräumen.

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Absolut. Wir sind hier eindeutig auf einer Skala nicht in der Mitte, sondern recht nah am Extrem „Viel Bürokratie“. Ob man das gut oder schlecht findet hängt von der subjektiven Prioritätensetzung ab. Und wie gesagt, extrem viele Regeln sorgen natürlich dafür, dass diejenigen, die sich die beste Beratung leisten können, am Ende profitieren. Es hat alles Vor- und Nachteile, Bürokratieabbau hat viele Vorteile, aber man sollte auch die Augen nicht vor den Nachteilen verschließen.

Das Problem ist: Es muss irgendwo in einem Gesetz oder einer Verwaltungsvorschrift festgelegt werden, wann ein neues Gutachten nötig ist. Die Formulierung wird vermutlich aktuell sein, dass bei Änderungen der Planung, welche die Statik oder den Energieausweis betreffen, ein neues Gutachten nötig ist. Das wäre eine denkbar einfache Regelung, die wenig Interpretationsspielraum lässt, aber eben auch wenig Flexibilität.

In diesem Fall wünschst du dir aber eine komplexere, mehr Flexibilität erlaubende Regelung nach dem Motto, dass es Ausnahmen dafür geben sollte, wenn die Änderungen erwartungsgemäß keine negative Auswirkung auf die Statik oder den Energieverbrauch haben können. Damit würde man aber wieder dem Beamten einen Beurteilungsspielraum geben - bei deinem Fenster-Beispiel mag das noch relativ eindeutig sein, aber es ist glaube ich klar, dass wir schnell zu Fällen kommen, die nicht so eindeutig sind. Und jetzt ist die Frage: Wollen wir, dass Beamte dann im eigenen Ermessen entscheiden können? Oder wollen wir lieber klare Vorgaben? Es gibt daher grob drei Möglichkeiten:

  1. wir regeln alle möglichen Sachverhalte, in denen ein neues Gutachten nötig werden könnten, bis in’s kleinste Detail in Gesetzen und Verwaltungsvorschriften (= viel Bürokratie, dafür wenig Einfallstore für Korruption und sehr berechenbar). In dem Fall müsstest du kein neues Gutachten einreichen, wenn du dich erfolgreich durch den Regelwulst wühlst.
  2. wir regeln nur den grundsätzlichen Fall, dass ein neues Gutachten bei Planänderungen nötig ist (= wenig Bürokratie, aber hohe Ineffizienz, weil plötzlich eigentlich unnötige Gutachten gefordert werden)
  3. wir geben dem Beamten / Sachbearbeiter einen hohen Beurteilnugsspielraum, wann ein neues Gutachten nötig ist (= Einfallstor für Alltagskorruption und Willkür, dafür wenig Bürokratie und im Idealfall hohe Effizienz)

Jeder dieser Wege hat seine Vor- und Nachteile.

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Mein Vorschlag zum Bürokratieabbau wäre ja Musterentscheidungen zuzulassen (sofern es die nicht bereits gibt)

Hieße im Falle des Baurechts: wenn ich mir ein Haus von der Stange baue gibts die Baugenehmigung ohne großen Extraaufwand, weil das Haus von der Stange bereits eine solche Genehmigung hat (also Statik, Ausführung u.s.w.)

Dann bliebe nur noch evtl. gewisse Eigenheiten des Grundstücks zu berücksichtigen.

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