Lieber Ulf, ich adressiere diesen Beitrag vornehmlich an dich, da du vom Fach bist.
Ich muss gestehen, dass ich anfangs über die Rufe nach Freiheiten (der Rückkehr von Freiheit) für Geimpfte bei gleichzeitig noch immens hohen Inzidenzwerten genervt war. Mittlerweile gestehe ich, dass ich über die Gemengelage wie derzeit diskutiert wird, sogar ein wenig erbost bin.
Besonders stört mich, dass bei dieser Frage nahezu ausschließlich juristisch argumentiert wird. Grundsätzlich haben alle, die dieser Gestalt argumentieren völlig recht (so auch du), aber ich finde, dass auch bei der juristischen Betrachtung solcher Entscheidung eben mehr in den Blick genommen werden muss, als der bloße Rechtstext.
Springen wir kurz zurück ins Jahr 2020. Auch dort gab es viele festgeschriebene Regeln, Verordnungen, Gesetze, die unser aller Umgang in der Pandemie gestaltet haben. Aber, es gab zudem die Appelle an die Solidarität der Menschen miteinander. Diese Appelle fußten aber nicht auf bestehenden Regeln, sondern gingen darüber hinaus. Sie lauteten etwa nicht zu hamstern, das Außer-Haus-Gehen auf eine Minimum zu reduzieren, so wenig Kontakte wie möglich zu haben, Abstand zu halten etc. Das sind alles keine gesetzlich festgelegten und somit sanktionierbaren Umstände gewesen. Nirgendwo stand, man darf das Haus nur noch zwei Mal pro Woche verlassen und maximal fünf Personen innerhalb einer Woche treffen - bei Zuwiderhandlung = Strafe. Schon damals gab es viele Menschen, die sowohl auf die gesetzlichen Vorgaben als auch auf die Appelle pfiffen, es gab jene Millionen, die sich zumindest an die gesetzlichen Vorgaben hielten und es gab jene Millionen, die die Gesetze befolgten und sich an die Appelle hielten. Sie schränkten sich über Gebühr (also weitergehend als rechtlich vorgesehen) ein, um vor allem (aber nicht nur) Mitmenschen nicht zu gefährden. Denn sie selbst, hier beziehe ich mich und mein Umfeld ein (Menschen zwischen 30 und 40), hatten davon kaum einen Nutzen, sondern vorrangig Nachteile. Sie taten es aber zu Millionen, um einen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten und vulnerable Gruppen nicht übermäßig zu gefährden. Und dies wird sich, so man es messen könnte, auch ganz sicher auf die Infiziertenzahlen positiv ausgewirkt haben. Es ist also nicht so, dass sich Millionen ohne Not bzw. ohne Sinn zusätzlich eingeschränkt hätten. Und ich gehe davon aus, dass sowohl politische Entscheider sowie besonders vulnerable Gruppen auch froh über diese Selbstbeschränkung vieler gewesen sind. Ich bin es im Übrigen auch.
Nun drehen wir das Rad weiter. Auch heute haben wir Menschen, die auf alle Vorgaben und Maßnahmen scheißen, jene Millionen, die tun, was vorgegeben ist und noch immer jene Millionen, die mehr tun. Allerdings wird aus der anfangs erbetenen Solidarität plötzlich das wunderbar deutsche Wort „Impfneid“. Das Wort „Neid“ wird im Deutschen übrigens besonders gern gebraucht, in der Regel deutlich öfter, als tatsächlich Neid besteht. Unter anderem deshalb reden wir Deutschen erwiesenermaßen (!) auch so wenig über Geld, Gehalt und Co. Dies aber nur am Rande.
Ich muss gestehen, dass ich die Forderungen nach Rückgabe der Rechte durchaus als legitim erachte. Ich finde nur, siehe eingangs des Beitrags, dass bei einer möglichen Rücknahme von Vorgaben durch Gerichte für Geimpfte eben auch gesellschaftliche Aspekte berücksichtigt werden müssten. Dass dies möglich ist, zeigt ja euer heutiges Thema eins, in dem du besonders überrascht warst, dass der BGH in seine Begründung etwas hat einfließen lassen, was rechtlich so gar nicht niedergeschrieben ist (Hypothek künftiger Generationen). Warum sollte dies also bei einer Entscheidung über die Rücknahme von Einschränkungen für Geimpfte nicht auch möglich sein - eine gesellschaftlich relevante Ebene? Warum wird hier wiederum ausschließlich anhand bestehender Gesetzestexte argumentiert? Und an dieser Stelle komme ich zur Dichotomie 2020 <>2021 bzw. „Solidarität“ <> „Impfneid“. Ich neide niemandem seine/ihre Impfung. Familie kam bereits in den Genuss, teils gleichaltrige oder jüngere Freunde auch. Ich sehe, dass jeder Geimpfte gesellschaftlich wichtig ist (wird im Übrigen auch gern vergessen: der gesellschaftliche Beitrag des Impfens) und einen Beitrag leistet, die Pandemie für alle zügiger zu bekämpfen. Was für mich aber nicht geht ist, dass man jenen, die im letzten Jahr die Appelle an die Mitmenschlichkeit, an die Solidarität nicht nur hörten, sondern sie aktiv in ihrem Alltag über nunmehr gut 14 Montae hinweg lebten, quasi in den Arsch tritt - und zwar gleich doppelt. Zum einen, wie schon geschrieben, indem sie auf den Priolisten nicht selten ganz hinten stehen, zum anderen, indem man ihrer Skepsis gegenüber der Rücknahme von Beschränkungen für Geimpfte mit Worten wie „Impfneid“ begegnet. Das finde ich in Teilen wirklich maßlos enttäuschend. Hier zeigt sich teilweise ein sehr changierendes Argumentieren zwischen „gesamtgesellschaftlich“ und „individuell“. Etwa wenn es heißt, naja, Geimpfte können sich zwar erneut anstecken, aber ihre Verläufe sind deutlich leichter, die Zahl jener, die erneut ins Krankenhaus müssten unter ihnen ist deutlich geringer, Todesraten sowieso. Das ist alles sehr schön, aber warum wird denn an dieser Stelle die Perspektive Gesamtgesellschaft nun wieder ausgeklammert? Ich denke, dass auch diese Menschen andere anstecken können (besonders andere Nicht-Geimpfte!), Chile ist ja aktuell leider ein negativer Beleg dafür (auch wenn die Wirksamkeit des chinesischen Vakzins dabei wohl massiv schlechter ist, als die anderer Hersteller). Warum nimmt man an dieser Stelle lediglich die Individualperspektive ein? Warum wird in dem Moment nur der Geimpfte betrachtet, aber nicht mehr, dass von ihm/ihr dennoch eine Gefahr für andere ausgehen kann?
Um das Ganze mal apokalyptisch weiterzuspinnen: was lernen wir Deutschen aus dieser Pandemie über uns und unseren Umgang miteinander? Ich finde, dass Lockerungen für eine vergleichsweise kleine Zahl vollständig (!) Geimpfter (das sind aktuell ja nicht mal zehn Prozent der Bevölkerung) bei gleichzeitiger Abkanzelung der Skeptiker als „Impfneider“ verheerend wirkt. Sollte es je zu unseren Lebzeiten zu einer vergleichbaren Situation kommen, oder (ich will es ja gar nicht beschreien) wir im nächsten oder übernächsten Jahr mit einer ganz neuen Mutante zu kämpfen haben, was meinst du/denkt ihr, wie jene Millionen, die sich über Gebühr eingeschränkt haben, um ihren gesellschaftlichen Beitrag zu leisten, wohl dann reagieren werden? Ich denke, dass ein großer Teil von ihnen sich an die dann bestehenden Regeln halten wird (schon um ihrer selbst Willen), aber nicht mehr viel darüber hinaus tun wird. Und ein nicht geringer Teil wird sicher auch die ein oder andere Regel links liegen lassen. So wie sich die Pandemie und der Umgang miteinander entwickelt hat, muss ich (als jemand, der absolut für die Maßnahmen ist) gestehen, dass ich dies dann sogar nachvollziehen kann. Mich stört diese immense Doppelzüngigkeit - einerseits das Beschwören aller (Solidarität) und dann plötzlich ein Umschwenken á la „selbst schuld, wenn du dich stärker eingeschränkt hast, als es das Gesetz vorsah“. Das kann tatsächlich ein verheerendes Signal sein und zwar ungeachtet des politischen Versagens, was ihr vollkommen zurecht auch so benennt.
Einen Unterschied mache ich an einer Stelle, nämlich beim Betrachten von Seniorenheimen und Co. als ein Haushalt, sprich der Rücknahme von Beschränkungen, wenn alle Bewohner und sämtliches Personal vollständig geimpft sind; Externe brauchen eh negativen Test für Zugang. Darüber hinaus plädiere ich aber bis zu dem Punkt, an dem nicht ein Großteil der Bevölkerung vollständig geimpft ist (rund 70 Prozent) dafür die Beschränkungen für alle weitestgehend aufrecht zu erhalten. Das ist juristisch sicher falsch, aber entspricht in meinen Augen gesellschaftlich betrachtet der Forderung nach Solidarität im Jahr 2020.