Also von „Erhalt einer Ordnung“ und „im Keim ersticken“ kann doch schonmal gar nicht die Rede sein, wenn man bedenkt, dass gewaltsame russische Expansionen schon vor 16 Jahren in Georgien begonnen haben. Dass Russland bereit ist, Waffengewalt anzuwenden, um seinen Einflussbereich zu erhalten, sah man ja sogar schon in den 90ern in Transnistrien und Tschetschenien. Nach der Logik hätte der Westen ja dann schon spätestens 2008 in Georgien eingreifen müssen, um den russischen Revisonismus von heute zu unterbinden. Niemand wäre damals jedoch auf die Idee gekommen, Waffen an Georgien zu liefern oder wegen Georgien einen Krieg mit Russland zu riskieren.
Und was ist mit zB Bergkarabach? Sollen wir dort auch eingreifen, weil Grenzen mit Waffengewalt verschoben wurden? Und wieso beliefern wir Israel sogar mit Waffen, obwohl es doch schon seit über 50 Jahren unrechtmäßig fremdes Territorium besetzt?
Liegt das vielleicht alles daran, dass der Westen vielleicht selbst geopolitische Interessen über die von dir genannten roten Linien stellt? Dazu gibt es noch X weitere Beispiele…. Also wieso ist es jetzt ausgerechnet die Ukraine, die diesen absoluten Tabubruch darstellt und zu mehr Kriegen in Zukunft führen wird, und die anderen hier genannten Fälle nicht?
Und im Fall der Ukraine ist doch nichtmal klar, ob es überhaupt das Ziel Russlands ist, die ganze Ukraine einzunehmen, geschweige denn weitere Länder zu erobern:
[https://responsiblestatecraft.org/russia-ukraine-war/]
Zudem wird immer so getan, als wäre die Geschichte der absolute Beweis dafür, dass Russland weiter expandieren wird, wenn man jetzt mit ihnen verhandelt. Was ist denn mit Beispielen wie der Türkei? Sowohl die unrechtmäßigen Eroberungen nach 1923 als auch der Waffenstillstand auf Zypern, an den sie sich bis heute halten, wären gegenteilige Beispiele für die Vorstellung einer angeblich geschichtlich belegten Gesetzmäßigkeit von einem unaufhaltsamen Expansionismus, wenn er erst einmal begonnen hat. Das soll nicht heißen, dass Russland die Türkei ist. Russland ist aber auch nicht Nazi-Deutschland.
Alles in allem sollten wir uns also schon nüchtern mit den realen und gegenwärtigen Gegebenheiten auseinandersetzen anstatt irgendwelche, aus der Geschichte abgeleiteten, worst-case Szenarien oder willkürliche rote Linien an die Wand zu malen und das dann als unsere Handlungsmaxime festzulegen. Die russische Expansionspolitik leitet sich aus den ethnisch-territorialen Begebenheiten nach dem Zerfall der Sowjetunion ab. Dass Russland aber nicht die Fähigkeit besitzt, den ganzen Raum, den es als seine Einflusssphäre betrachtet zu erobern, sieht man doch schon an der Ukraine.