Daran merkt man, dass wir unterschiedlich juristisch gebildet sind und deshalb scheinbar über unterschiedliche Dinge sprechen.
Eine juristisch vertretbare Ansicht ist nicht dadurch definiert, dass sie mit dem BVerfG übereinstimmt. Auch Urteile des BVerfG sind regelmäßig Gegenstand kritischer Auseinandersetzung, auch innerhalb des Gerichts (siehe Sondervoten).
Eine vertretbare Ansicht ist eine Ansicht, die
a) in sich logisch kohärent ist (dh. nicht unter inneren Widersprüchen leidet)
b) rechtsdogmatisch auf der Grundlage des geltenden (Verfassungs-)Rechts begründet werden kann.
Das hat nichts damit zu tun, wie das BVerfG in der Praxis entscheidet. Allen Entscheidungen des BVerfG gehen ausgeprägte Beratungen voraus, eben weil die Sachen nicht „offensichtlich klar“ sind. Deshalb gibt es auch häufig Sondervoten, bei denen einzelne Richter erläutern, warum sie die Meinung der Mehrheit nicht teilen. Diese Meinungen sind ganz klar vertretbar.
Das BVerfG muss in Fällen wie dem vorliegenden eben eine Entscheidung treffen. Das Ziel ist dabei Rechtssicherheit im Sinne einer abschließenden Klärung der rechtlichen Frage, es zieht quasi die Grenzen beim i.d.R. recht knapp formulierten und entsprechend auslegungsbedürftigen Verfassungsrecht. Das bedeutet regelmäßig, dass das BVerfG von mehreren juristisch vertretbaren Urteilssprüchen denjenigen wählen wird, der seiner Meinung nach am besten dem Sinn des Grundgesetzes entspricht. Hätte das BVerfG die Ansicht der Bundesregierung für prinzipiell nicht vertretbar gehalten, hätte es auch dem Eilantrag der Union zugestimmt, hier hat es im Rahmen einer Folgenabwägung aber noch zu Gunsten der Bundesregierung entschieden, weil der Fall eben nicht offensichtlich war.
Es bleibt dabei, dass auch in diesem Fall - so wie in den meisten Fällen, die vom BVerfG zur Entscheidung angenommen werden - mindestens zwei Urteilssprüche juristisch vertretbar waren. Das BVerfG hat sich für den von dir priorisierten entschieden, das macht den anderen aber eben nicht unvertretbar.
Ich sage übrigens nicht, dass das Urteil des BVerfG nicht vertretbar wäre („Fehlurteil“), natürlich akzeptiere ich dieses Urteil. Das heißt aber nicht, dass ich es nicht kritisieren kann.