Bundesverfassungsgericht erklärt Nachtragshaushalt 2021 für verfassungswidrig

Siehe dazu die Berichterstattung der LTO zur Verhandlung vor dem BVerfG einige Monate vor dem Urteil:

Wir brauchen uns nicht darum zu streiten, ob es nun eine 50/50, 40/60 oder 30/70-Sache ist (dass es 50/50 sei habe ich übrigens nirgends behauptet, ich habe die Minimalformulierung „juristisch vertretbar“ bewusst gewählt). Fakt ist: Nahezu niemand mit juristischem Sachverstand hat gesagt, dass der Fall „absolut eindeutig“ sei und „nur ein Ausgang zulässig sei“, es war stets klar, dass es in beide Richtungen hätte ausgehen können - und das ist, was zählt.

… und das führt wieder zu dem Punkt: Es wäre kein Rechtsverstoß gewesen, wenn das BVerfG der juristisch vertretbaren Auslegung der Bundesregierung gefolgt wäre. Du verwendest nun eine post-hoc-Definition, daher: Du sagst, das es ein Rechtsverstoß sei, weil das BVerfG das so entschieden hat.

Das ist nur eine Unterstellung von Dir, da Du offensichtlich vor dem Urteil (und auch danach) eine andere Meinung vertrittst. Ich fand es vor dem Urteil falsch und finde daher das Urteil richtig. Da brauch es kein Latein für.

Das BVerfGE hat seine Entscheidung auf drei, jeweils für sich tragfähige Gründe gestützt. Akzeptiere doch einfach mal, dass das oberste Gericht geurteilt hat, dass es halt keine juristisch vertretbare Auslegung war.

Man kann das Urteil ja akzeptieren und trotzdem festhalten, dass es eher unüblich war bisher, dass das Bundesverfassungsgericht ein Urteil in dieser Deutlichkeit fällt.
Man stelle sich vor, daß Klimaurteil wäre entsprechend deutlich ausgefallen und der Staat gezwungen worden wäre, ab sofort sein CO2-Budget einzuhalten und dem alle anderen Ziele unterzuordnen. Die Bewertung des damaligen Urteils hätte das hergegeben.
Eigentlich war immer Regel, dass das Gericht sich ins Tagesgeschäft nicht einmischt.

Ist hier der einfache Unterschied, dass ein CO2 Budget nicht im Grundgesetz steht?

Kurz offtopic:

Gibt es Gesprächsforen, die eher Neoliberal sind? Eventuell sogar von der fdp bereitgestellt?

Das Urteil beruht natürlich auf dem Grundgesetz.

Klar, einfach in die Partei eintreten und im internen forum anmelden.

Daran merkt man, dass wir unterschiedlich juristisch gebildet sind und deshalb scheinbar über unterschiedliche Dinge sprechen.

Eine juristisch vertretbare Ansicht ist nicht dadurch definiert, dass sie mit dem BVerfG übereinstimmt. Auch Urteile des BVerfG sind regelmäßig Gegenstand kritischer Auseinandersetzung, auch innerhalb des Gerichts (siehe Sondervoten).

Eine vertretbare Ansicht ist eine Ansicht, die
a) in sich logisch kohärent ist (dh. nicht unter inneren Widersprüchen leidet)
b) rechtsdogmatisch auf der Grundlage des geltenden (Verfassungs-)Rechts begründet werden kann.

Das hat nichts damit zu tun, wie das BVerfG in der Praxis entscheidet. Allen Entscheidungen des BVerfG gehen ausgeprägte Beratungen voraus, eben weil die Sachen nicht „offensichtlich klar“ sind. Deshalb gibt es auch häufig Sondervoten, bei denen einzelne Richter erläutern, warum sie die Meinung der Mehrheit nicht teilen. Diese Meinungen sind ganz klar vertretbar.

Das BVerfG muss in Fällen wie dem vorliegenden eben eine Entscheidung treffen. Das Ziel ist dabei Rechtssicherheit im Sinne einer abschließenden Klärung der rechtlichen Frage, es zieht quasi die Grenzen beim i.d.R. recht knapp formulierten und entsprechend auslegungsbedürftigen Verfassungsrecht. Das bedeutet regelmäßig, dass das BVerfG von mehreren juristisch vertretbaren Urteilssprüchen denjenigen wählen wird, der seiner Meinung nach am besten dem Sinn des Grundgesetzes entspricht. Hätte das BVerfG die Ansicht der Bundesregierung für prinzipiell nicht vertretbar gehalten, hätte es auch dem Eilantrag der Union zugestimmt, hier hat es im Rahmen einer Folgenabwägung aber noch zu Gunsten der Bundesregierung entschieden, weil der Fall eben nicht offensichtlich war.

Es bleibt dabei, dass auch in diesem Fall - so wie in den meisten Fällen, die vom BVerfG zur Entscheidung angenommen werden - mindestens zwei Urteilssprüche juristisch vertretbar waren. Das BVerfG hat sich für den von dir priorisierten entschieden, das macht den anderen aber eben nicht unvertretbar.

Ich sage übrigens nicht, dass das Urteil des BVerfG nicht vertretbar wäre („Fehlurteil“), natürlich akzeptiere ich dieses Urteil. Das heißt aber nicht, dass ich es nicht kritisieren kann.

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War das Urteil nicht einstimmig?

Ich denke, es war einstimmig, aber genau darum geht es doch nicht, weil genau das wieder die Post-Hoc-Betrachtung ist und fälschlicherweise davon ausgeht, dass nur weil alle Richter Option A für überzeugender / zweckdienlicher hielten, Option B dadurch automatisch nicht vertretbar sei - gerade das ist aber eben nicht der Fall, da es regelmäßig mehrere juristisch vertretbare Optionen gibt, von denen das BVerfG nun einmal eine auswählen muss, um Rechtsklarheit zu schaffen. Wie und mit welcher Mehrheit das BVerfG in einer Sache entscheidet hat daher wenig bis gar nichts mit der juristischen Vertretbarkeit der verschiedenen möglichen Ausgänge zu tun.

Natürlich ist es ein Indiz. Die Richter müssen nicht wie Geschworene zu einem gemeinsamen Urteil kommen. Jeder Richter ist frei in seiner Stimme. Da ist ein einstimmiges Ergebnis schon interessant. Es hat also keine einzige Richterin es juristisch anders vertreten.

Okay, ein letzter Versuch, auch wenn das vermutlich zu nichts führen wird:

Stell dir vor, das BVerfG hätte anders entschieden, also die Umwidmung durchgewunken. Was wäre die Reaktion von Presse und juristischer Fachwelt gewesen? Wäre ein Aufschrei durch die juristische Fachwelt gegangen, in der das Urteil von einem relevanten Teil aller Juristen als „Fehlurteil“ bezeichnet worden wäre? Wäre das Urteil von allen Seiten kritisiert worden?

Nein, wäre es nicht. Es wäre ebenso wie in diesem Fall gelaufen: Die Vertreter der Gegenseite würden darauf hinweisen, dass es die Schuldenbremse schwäche (so wie jetzt von zahlreichen Akteuren darauf hingewiesen wird, dass durch das Urteil die Schuldenbremse gestärkt und deshalb entschärft werden müsse).

Hätte das BVerfG anders entschieden, wäre dies eben auch kein „Skandal-Urteil“ gewesen - sondern schlicht eine andere, juristisch völlig vertretbare Auslegung der Gesetzeslage, die sich ohne weiteres rechtsdogmatisch begründen ließe. Alleine die Tatsache, dass das Urteil zum Nachtragshaushalt mit so großer Spannung erwartet wurde, zeigt schon, dass es eben in beide Richtungen hätte ausgehen können - wie so oft vor dem BVerfG.

Jetzt ist die Entscheidung da und wir haben Rechtssicherheit - aber eben auch einen Scherbenhaufen für den Haushalt ab 2025…

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Finde den Fehler. Bloß weil der Staat schon mal einen Fehler/Geschenk gemacht hat, muss er ja nicht dauerhaft dafür gerade stehen. Eigenverantwortung würde ich es nennen.

Die oben von dir zitierte Berichterstattung von Christian Rath zur mündlichen Verhandlung macht aber deutlich, dass das Ergebnis schon vorher ziemlich klar war … selbst in der Lage haben wir - bei aller Sympathie für den KTF - deutlich gemacht, dass wir eher skeptisch sind, ob das in Karlsruhe halten wird.

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Skepsis war sicherlich angebracht - wie gesagt, ich halte das Urteil des BVerfG auch nicht für falsch, ich hätte mir nur ein anderes gewünscht. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass das BVerfG den dogmatisch vielleicht etwas schwieriger zu begründenden Ausgang gewählt hätte, um der Politik das Leben nicht unnötig schwer zu machen. Vertretbar wäre das in jedem Fall gewesen, wenn das BVerfG das gewollt hätte (und darum ging es ja in der Diskussion der letzten Posts).

Aber gut, die Sache ist nun durch und wir müssen mit den Konsequenzen leben - und die sind mMn schrecklich sowohl für den Klimaschutz, als auch für den Sozialstaat. Die SPD wird den Geist der Schuldenbremse nicht wieder in die Flasche bekommen und das gegenseitige Ausspielen der Kosten für Klima und Soziales wird deutlich stärker werden.

Ne, ging um grundlegende unterschiedliche Einschätzung zu den Wahrscheinlichkeiten zu welchem Urteil die Richter auf Basis der rechtlichen Sachlage kommen und da haben wir beide halt unterschiedliche Meinung. Liegt vielleicht auch daran, dass Du das Ergebnis bedauerst und ich es als „funktionierender Rechtsstaat“ werte, weil ich dies unabhängig vom Inhalt „KTF“ werte.

Die Mittel dafür können sich finden lassen, haben Ulf und Philip mMn sehr passend erläutert, dazu muss sich die Ampel nur mal zusammenraufen. Platt könnte man sagen, dass sie einer Einigung durch ein wenig Mauschelei aus dem Weg gehen wollten und da hat halt das BVerfG nun „nö“ zu gesagt. Will oder kann die Ampel sich jetzt in sachlicher Auseinandersetzung nicht einigen, ist es einzig ein Versagen der beteiligten Politiker.

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Man muss die Meinung nicht teilen, aber wer einen SZ-Zugang hat, sollte den Kommentar von Heribert Prantl lesen.
Er geht mit dem Bundesverfassungsgericht schwer ins Gericht.

Prantls Blick: Hirnloses Sparen - Politik - SZ.de
Es war dies die erste Karlsruher Entscheidung zum Thema Schuldenbremse. Beim Lesen des Urteils hat man den Eindruck, dass die Richterinnen und Richter nicht überblickt haben, was sie mit ihrer Entscheidung anrichten.

Das Urteil fordert und fördert ein hirnloses Sparen. Es gibt ein altes lateinisches Rechtssprichwort, das „Fiat justitia et pereat mundus“ heißt. Auf Deutsch: Es geschehe Gerechtigkeit, und wenn die Welt dabei zugrunde geht! Nach dem Karlsruher Urteil zur Schuldenbremse und zur Klimapolitik darf man es neu übersetzen, nämlich so: „Es muss gespart werden - und wenn die Welt dabei zugrunde geht.“

Das Bundesverfassungsgericht hätte den Spielraum, den es hat, nutzen können - es hätte ausgereicht, Linien zu ziehen und Grenzen zu setzen, an die sich der Gesetzgeber künftig zu halten hat.

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Genau das wurde getan. Die Linien und Grenzen sind nur enger, als es vielen gefällt.

Ich habe das Gefühl, viele vermischen die verschiedenen Politikebenen (bpb) etwas:

  • Polity- Ebene (in diesem Fall das Verfassungsgericht als die Einhaltung der Verfassung kontrollierendes Organ)
  • Policy-Ebene (Klimapolitik, Klimaziele)
  • Politics-Ebene (Verhandlungen/pol. Gestaltung → Partei- und Koalitionspolitik)

Das Verfassungsgericht hat eben nicht die Aufgabe, der Regierung eine möglichst effektige Klimapolitik (Policy) zu ermöglichen, oder die taktischen Konsequenzen für die Koalition oder Parteien (Politics) zu berücksichtigen. Wenn die Schuldenbremse in der Verfassung steht, ist es nicht am Gericht, sie zu ignorieren oder so großzügig auszulegen, dass sie wirkungslos wird. Es wäre Aufgabe des Gesetzgebers, sie ggf zu reformieren oder abzuschaffen.

Ein Verfassungsgericht, das in letzter Zeit im Ruf steht vermehrt auch auf Policy-Ebene politische Entscheidungen zu treffen, ist der Supreme Court (Stichwort „Politisierung“ des Courts). Ich glaube nicht, dass wir das in DE auch wollen.

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So langsam wünscht man sich sogar Andreas Scheuer zurück. Zu seiner Zeit wahren die Fehlbeträge im Haushalt noch vergleichsweise überschaubar.

Am 16.11. wurden gerade noch die Gas- und Strompreisbremsen im Bundestag beschlossen. Am 20.11. wird ein Interview mit Habeck veröffentlicht, in dem er das Ende der Strom- und Gaspreisbremse befürchtet.

Ehrlich gesagt blicke ich nicht mehr durch, was nach dem Urteil noch finanziert werden kann und was nicht.

Naja, da ja auch der Doppelwumms in Frage steht, sicher nicht viel.

Man sollte jetzt ziemlich schnell breit übereinkommen wie weiter.

Nur glaube ich, dass die Union nicht mit machen wird.

Und ich Frage mich ob Merz einsieht, dass er damit auch sich selbst Daumenschrauben anlegt und im Endeffekt den Niedergang der deutschen Industrie verursacht.

Merz sieht sich im Falle von Neuwahlen, nicht ganz zu Unrecht, als nächster Kanzler. Als solcher würde er seinen eigenen Haushalt aufstellen, ohne verhassten „grün/roten“ Projekten zustimmen zu müssen.

Ich weiß nicht, was er von einer Kooperation hätte und ich gehe mal davon aus, dass er glaubt, den besseren Plan für Deutschland zu haben. Aus dieser Sicht würde sich eine Kooperation geradezu verbieten. Für die anstehenden Aufgaben kommt es jetzt auf 6 Monate auch nicht mehr an.