Bürokratie - warum machen wir uns das Leben so kompliziert?

Grad auf einen aktuellen Beitrag gestoßen, exemplarisch aber für viele Bereiche in Deutschland:

Aus eigenem Erleben kenne ich da auch viele „Dokumentationspflichten“, entweder im Unternehmen selbst „erfunden“, durch staatliche Stellen unter harscher Konsequenzandrohung eingefordert oder bei teuren Audits von Zertifizierungsorganisationen im Sinne QM gefordert.

Da wird irre viel dokumentiert, was bei einer Prüfung oder einem Audit stolz präsentiert wird, im Arbeitsalltag oder bezüglich Qualität keinerlei Relevanz oder Wirkung hat.
Es verstauben Datenfriedhöfe digital oder analoge Aktenarchive für den Fall, das „ja mal einer in den nächsten 10 Jahren gucken kommen könnte“.

Ich frage mich schon, was ist der Grund?
Angst vor Strafe oder dem Nachweis von Fehlern?
Das Motto „Melden und Dokumentieren macht frei“? Also einfach das Abschieben von Verantwortung?
Oder nur eine deutsche Tugend des „Ordnens, Sortierens, Abheftens, Speicherns“ weil wir es ja immer so gemacht haben?

Als ich in eine neue Abteilung kam, wurden da aufwändig Statistiken gepflegt und wöchentlich verschickt. Auf meine Frage, wer das alles benötigt, kam die Antwort „haben wir immer so gemacht, das muss so!!“
Hab dann entschieden, wir verschicken mal nichts mehr und gucken wer sich beschwert. Kam nie eine Rückmeldung ……

Ist das normal?

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Grundsätzlich gibt es für bürokratische Vorschriften immer irgend einen Grund - ob der überzeugen kann oder möglicherweise „aus der Zeit gefallen“ ist, ist eine andere Frage.

Das Beispiel mit dem Notieren der Kühlschranktemperaturen z.B. wird einfach den Hintergrund haben, dass wenn ein Medikament „verdorben“ ist und dadurch im schlimmsten Fall ein Patient stirbt, das Krankenhaus nachweisen kann, dass es zumindest nicht am dortigen Kühlschrank lag, sondern eher beim Hersteller. Hier geht es im schlimmsten Fall um gigantische Schadenersatzansprüche. Natürlich könnte man argumentieren, dass das manuelle Aufzeichnen der Temperaturen nicht nötig ist, wenn der Kühlschrank eine Warnfunktion beim unterschreiten der Mindesttemperatur hat oder wenn der Kühlschrank einfach generell die Temperaturverläufe konsequent elektronisch dokumentiert. In solchen Fällen stammt die Vorschrift meist noch aus einer Zeit, als diese Dinge noch nicht verbreitet waren, und wurden nie an die aktuelle Lage angepasst.

Ansonsten, was die Dokumentationspflichten in der Pflege angeht, kann ich da nur von der anderen Seite berichten. Als gesetzlicher Betreuer hatte ich durchaus dann mal einen älteren Herren im Pflegeheim, der plötzlich einen massiven Dekubitus (Druckgeschwür, in seinem Fall bis runter auf den Knochen) hatte. Das kommt normalerweise durch mangelndes „Umlagern“ des Pflegebedürftigen, daher: die Person wurde zu lange auf einer Seite liegen gelassen. Dafür habe ich dann die Dokumentation der Pflegehandlungen eingesehen und das Pflegeheim konnte nicht über eine entsprechende Dokumentation nachweisen, dass der Patient regelmäßig gewendet wurde. Hätte es eine solche Dokumentation gehabt, wäre es vielleicht(!) aus der Haftung gekommen, so jedoch auf keinen Fall. Das gleiche gilt, wenn es um Dinge wie Fixierungen oder Medikamentengaben geht. Wenn etwas mit dem Pflegebedürftigen nicht stimmt und der Verdacht aufkommt, dass z.B. eine falsche Medikation gegeben wurde oder die Medikation vergessen / unregelmäßig verabreicht wurde und das Pflegeheim keine Dokumentation hat, ist es rechtlich in einer hoffnungslosen Position. Wenn es eine glaubwürdige Dokumentation gibt, ist die Chance hoch, dass man eher von einer gesundheitlichen Sondersituation ausgeht und daher nicht den Verdacht erhebt, dass etwas mit der Medikation schief lief und die Dokumentation gefälscht wurde…

Das gibt glaube ich einen kleinen Einblick, warum so viel Dokumentation - verpflichtend wie „freiwillig“ zur Eigenabsicherung - getätigt wird. Ob das gut so ist, ist eine andere Frage. Aber was sind die Alternativen? Einfach dem Pflegepersonal glauben, dass das Druckgeschwür oder die eventuell medikamentenbedingte Problematik „durch Zufall“ entstanden ist, hat der Patient halt Pech? Oder die totale Überwachung in der Pflege, die alles automatisch dokumentiert, also wann ein Pfleger auf’s Zimmer kommt und welche Handlungen er wann vornimmt? Ist alles auch nicht wirklich wünschenswert, oder?

Also ich sehe das Problem, ich sehe, warum das Problem da ist, aber ich sehe keine wirkliche Lösung für das Problem, die nicht zu ähnlich schwerwiegenden Folgeproblemen führt.

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Speziell für den medizinischen Bereich gibt es sicher sehr gute Gründe, Dinge zu dokumentieren. Über die Art und Weise bzw Häufigkeit kann man sicher diskutieren.

Im Grunde geht es bei vielen Dokumentationspflichten in erster Linie um Haftungsfragen bzw. Wer hat vor Gericht im Zweifelsfall die besseren Karten? Kann ich grundsätzlich ja nachvollziehen. Das eine gewisse Bürokratie und Dokumentationspflicht in bestimmten Bereichen unabdingbar ist, sehe ich auch ein.

Derartige Pflichten gibt es ja auch in Bereichen mit deutlich weniger lebensbedrohenden Folgen für Menschen oder sogar ohne jegliche Folgen.
Aber ist dieser Drang, alles irgendwie und irgendwo zu speichern, oft ohne wirkliche konkreten Zweck, eher Selbstzweck oder der Wunsch, sich „frei zu dokumentieren „?

Sicher ein Thema ohne Lösung, weil es Veränderungsbereitschaft erfordert.
Stieß mir grad nur wieder auf, das viel Zeit investiert wird, die woanders ggf eher gebraucht wird.

Da wären ja mal ein paar Beispiele interessant. Vielleicht finden wir ja Begründungen ^^

Ein Beispiel aus dem Alltag wären die Unterschriftenlisten, die bei uns an der Uni auf den Klos hängen. Hier muss das Reinigungspersonal immer unterschreiben, wann die Räume gereinigt wurden. Ich schätze mal, das ist keine staatlich vorgegebene Bürokratie, sondern eine aus dem Arbeitsverhältnis. Im Prinzip ein Misstrauen gegenüber dem Personal. Ich schätze, gerade im Bereich der Unternehmen haben wir viele derartige Bürokratien.

Hat jemand andere, deutlichere Beispiele für wirklich überflüssige Bürokratie, für die es keine Erklärung gibt? Also bei denen nicht nur eine Abwägung zu Grunde liegt, die vielleicht anders ausfällt, sondern wirklich ganz klar keine Gründe denkbar sind?

Ich glaube, wir können eine Menge Fälle finden, bei denen wir im Hinblick auf die Abwägung zwischen Vor- und Nachteilen der Bürokratie zu unterschiedlichen Positionen gelangen, aber finden wir auch Fälle, in denen selbst deutliche Bürokratie-Befürworter keinerlei Rechtfertigung liefern können?

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Beispiele aus dem Bildungsbereich (Umschulung Erwachsener):

Intern: es gab aufgrund der Größe des (alten) Gebäudes und der langen Wasserleitungen nach Wochenenden erhöhte Legionellenwerte im Wasser aus dem Wasserhahn.
Daher sollen Montags alle Wasserhähne morgens 5 min bei heißem Wasser laufen, um mögliche Legionellen abzutöten. Da man hier auch Kaffeewasser oder Teewasser entnimmt, im Grunde reiner Selbsterhaltungstrieb, sonst Durchfall.
Wir dokumentieren in einem Onlineformular Tag, Raum und das wir gespült haben, für jeden Wasserhahn, jeden Montag. Prüft aber niemand, keine Zeit und kein Personal dafür.

Extern: unserer Zertifizierer prüft im Auftrag der DAkkS bei jedem Umschulungsberuf, ob wir monatlich einen Abgleich mit gängigen Stellenbörsen machen, um die Integrationschancen je Beruf zu dokumentieren. Viele der Berufe werden gar nicht über gängige Portale ausgeschrieben. Die Integration erfolgt über die integrierten Praktika, Fachpublikationen der Innungen oder Arbeitgeber rufen direkt bei uns an. Also eine Dokumentation ohne Aussagekraft, die aber Qualität nachweisen soll.

Bei einem Aktivierungs-und Vermittlungsgutschein, den die Agentur für Arbeit zum Beispiel für eine berufsspezifische Eignungserprobung ausstellt, kommt der Kunde von seiner Agentur mit dem Gutschein zu uns. Wir befüllen viel Papier, also einen Vertrag mit dem Teilnehmer, eine Bestätigung und einen Massbahmebogen mit quasi den Daten, die schon auf dem Gutschein stehen, schicken das samt Gutschein (wir behalten eine Kopie als Beleg der Kostenzusage) zurück an die Agentur. Der Kunde kriegt Einladung samt Termin in die Hand gedrückt.
Dann müssen wir warten, bis wir vor (!) Massnahmebeginn eine Bestätigung des Operativen Service der Agentur für Arbeit bekommen, das der Kunde tatsächlich teilnehmen darf und die Kosten übernommen werden. Ohne diese Bestätigung müssten wir den Kunden wieder direkt nach Hause schicken und das Spiel wiederholen.
Wird alles durchgeführt, schicken wir eine Teilnehmerlist an die Agentur, das der TN täglich anwesend war. Zusätzlich muss der TN auf einem weiteren Formblatt bestätigen, das er täglich da war und die Maßnahme täglich stattgefunden hat.

Also einfach geht anders, und Vertrauen sieht auch anders aus.

Das ist eher die Regel als die Ausnahme…. :wink:

Der Punkt mit dem Vertrauen ist genau der, um den es geht.

Bei der Legionellensache sind wir wieder bei juristischer Eigensicherung - wenn jemand an Legionellen erkrankt, will euer Unternehmen, dass man es ihm nicht anpinnen kann. Das kontrolliert erst jemand, wenn es zu einem Schadensfall kommt, bis dahin wird sich niemand darum scheren.

Bei dem Zertifizierungsfall scheint es wieder um Vertrauen zu gehen. Da wurden irgendwann mal Qualitätsstandards erarbeitet und deren Einhaltung soll überprüft werden. Wenn die Standards natürlich nicht mit der Realität kompatibel sind, ist das ein Problem, aber das ist dann ein Problem des veralterten / unrealistischen Standards und weniger ein Problem der Bürokratie.

Beim letzten Fall ist das Ziel recht klar die Vermeidung von Korruption. Das Jobcenter fragt sowohl euch, ob der Teilnehmer da war, als auch den Teilnehmer, ob die Maßnahme stattfand, um zu vermeiden, dass hier Leistungen abgerechnet wurden, auf die kein Anspruch besteht. Das ist lästig, aber es geht bei diesen Maßnahmen um relativ große Summen, da will man eben auf Nummer Sicher gehen. Als Anbieter oder Teilnehmer an solchen Maßnahmen würde man sich natürlich Vertrauen wünschen, aber ganz ehrlich, gerade im Bereich der beruflichen Qualifizierung gibt es auch unglaublich viele dunkelgraue Schafe… zu viel Vertrauen mag da auch unangebracht sein, der Skandal, wenn über einen längeren Zeitraum Korruption statt fände, weil nicht genug kontrolliert wurde, wäre jedenfalls riesig.

Von der Intention solcher bürokratischer Dokumentationspflichten ist das sicher so und da gibt oder gab es gute oder zumindest nachvollziehbare Gründe für.

Was halt schräg ist das man viel Zeit in derartige Absicherungs- und Rechtfertigungsdokumentationen steckt, dafür weniger Zeit in die eigentlichen Aufgaben (siehe Beispiel Krankenhaus.
Also man in Zeiten in denen Personal eh knapp ist, wir Fachkräfte damit zusätzlich belaste, und andererseits diskutieren wir über die Anhebung der Regelaltersgrenze zur Rente, der Kürzung des Bürgergeldes oder ähnliche Ideen, um mehr Menschen als Arbeitskräfte zu gewinnen.
Wobei es zu weiterer Bürokratie kommt, um das umzusetzen.

Klar sowas schafft man nicht mal eben ab, aber ich wäre schon begeistert, viele dieser Bürokratie-Hürden regelmäßig zu hinterfragen, ob sie pragmatisch und zielführend sind.
Das Steintafelprinzip des Ewigen ist eher anstrengend.

Digitalisierung spart aber tatsächlich Zeit und Energie.

Als Pädagoge arbeite ich lieber mit einem Menschen als über ihn Formblätter auszufüllen.

Aber ich habe ja durchaus gelernt: nicht gegen das System arbeiten, sondern mit dem System arbeiten. :wink:

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In meiner Erfahrung (als Vater eines Kindes mit schwerer Behinderung habe ich regelmäßig Kontakt zur Pflege-, Kranken-, und Inklusionsbürokratie) gibt es vor allem einen Grund: Niemand will Verantwortung übernehmen und darum werden Regeln geschaffen, auf deren Einhaltung man sich dann berufen kann. Beispiele:

  • Genehmigung einer Schulbegleitung? Kann auch in offensichtlichen Fällen nur nach monatelanger Prüfung durch das Sozialamt erfolgen, da nach Sozialgesetzbuch der Sachbearbeiter auf psychologische und therapeutische Gutachten warten muss.
  • Genehmigung einer Integratiosnmaßnahme? Kann die Sachbearbeiterin nicht nach Aktenlage genehmigen, obwohl das Kind in der Behörde seit 8 Jahren regelmäßig Leistungen beantragt, weil bei jedem Antrag die Fachabteilung eine Bestätigung der Notwendigkeit ausstellen muss.

Ein großer Teil der Bürokratie zwischen Bürger und Behörden (und vermutlich auch innerhalb von Unternehmen) ließe sich vermutlich vermeiden (und damit auch ein großer Teil der latenten Überarbeitung der Behördenmitarbeiter), wenn einfach mal jemand eine Entscheidung treffen würde. Stattdessen wird das so lange zwischen unterschiedlichen Zuständigen hin und her geschoben, bis am Ende jeder sagen kann, dass er/sie nicht verantwortlich ist.

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Zertifizierer prüfen aber doch nur ob entweder Gesetze oder die eigenen Regeln eingehalten werden.

In solch einem Fall wäre es naheliegend, dass entweder ein Gesetz besagt, dass das getan werden muss, oder dass irgendwann mal jemand meinte das in die internen Qualitätsrichtlinien reinzuschreiben und seitdem muss es gemacht werden.

In letzterem Falle gäbe es die Möglichkeit die internen Dokumente zur Qualitätssicherung anzupassen um ein solches Vorgehen zu ersparen.

Edit:
Und bei den Legionellen droht doch kein Durchfall. Gerade bei Kaffee oder Tee nicht, da das Wasser dazu ohnehin hoch erhitzt wird. Sind Legionellen nicht vorwiegend in Duschen ein Problem weil sie durch das Zerstäubte Wasser eingeatmet werden?

Dennoch kenne ich das aus vielen Bereichen, dass Hähne regelmäßig mit warmen Wasser gespült werden müssen.

Speziell für den medizinischen Bereich hab ich nichts, aber zum Wohnungsbau in den USA (meines Erachtens auf D gut übertragbar) und staatlichen Regelungen gab’s eine schöne Episode der Ezra Klein Show. Mir ist als Fazit geblieben, dass man vonseiten derjenigen, die Standards fordern - mit sinnvollen Zielen im Hintergrund, wir alle wollen gewisse Standards und Regelungen - etwas krampfhaft an diesen festhält, auch wenn Abweichungen oder Änderungen in Abwägung sinnvoll wären. Wo hier Standards steht, kann man jedes andere Bürokratie-Instrument einsetzen. Einen Tod muss man manchmal sterben. Sicherheitsbedürfnisse rational einordnen, Entscheidungen treffen, Prioritäten setzen und mit Vernunft und Augenmaß verteidigen (hieße für mich in D beispielsweise auch so etwas wie grundsätzlich erstmal keine neuen Straßen mehr, solange anderes auf diese Ressourcen wartet). Dafür muss man halt entscheiden, d.h. wie hier schon angesprochen, Verantwortung übernehmen.

Ist mir aber bewusst, dass es on the ground kompliziert und viel Arbeit ist.

Stoffstrombilanz in der Landwirtschaft. Früher gabs den Nährstoffvergleich. Eine Gegenüberstellung aller ausgebrachten Nährstoffe (org. Dünger und Mineraldünger) mit den Feldabfuhrten (Ertrag x Inhaltsstoffe - vereinfacht gesagt). Das postive oder negative Ergebnis zeigt eine Über- oder Unterdüngung. Dieses sinnvolle und verständliche Instrument wurde durch die Stoffstrombilanzverordnung abgelöst. In der Theorie soll eingekauftes Saatgut/Pflanzgut mit berücksichtigt werden. Ebenso wie Nährstoffe in zugekauftem oder selbst produziertem Tierfutter. Auf der Abgabenseite sollen die Nährstoffe aus tierischen Erzeugnissen aufgelistet werden. Problem: Für kaum etwas gibt es Zahlen! Kaum etwas wird ausgewiesen. Das führt dazu, dass teilweise veraltete und unpassende Richtwerte verwendet werden. Teilweise gar keine Angaben gemacht werden (müssen). Die Verrechnung ist nicht mehr nachvollziehbar und das Ergebnis nicht aussagekräftig. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte, ob nun zu viele Nährstoffe ausgebracht wurden oder nicht. Das weiß auch die Politik, und hat zur Bedingung gemacht, dass die Bilanz bei einer Prüfung zwar vorliegen muss, das Ergebniss aber nicht bewertet wird. Folglich drohen dem schlechtesten Bauer mit massiver Überdüngung keine Konsequenzen, sofern irgendwelche Zahlen (ob plausibel oder nicht) vorgelegt werden. Ein Fehlen der Bilanz wird jedoch als Ordnungswidrigkeit geahndet.
Das ist Zeitverschwendung, Papierverschwendung und verbaucht wichtige Kapazitäten an anderer Stelle

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Schönes Beispiel, allerdings wieder ein Beispiel aus der Kategorie „Grundsätzlich besteht Bedarf an einer Form von Bürokratie, aber die Vorgaben passen einfach nicht zur Realität“.

Also da Überdüngung grundsätzlich ein massives Problem für die Gewässer ist und wir nicht darauf vertrauen wollen, dass „die Bauern schon angemessen Düngen werden“, besteht ja relativ zweifellos ein Bürokratiebedarf. Denn der Bauer als rationaler wirtschaftlicher Akteur würde sonst im Zweifel lieber zu viel als zu wenig düngen, um seinen Profit auf Kosten der Umwelt zu sichern (u.a. deshalb gab es ja in der Vergangenheit Probleme mit Überdüngung). Grundsätzlich liegt also ein Bedarf an Bürokratie vor.

Die Umsetzung hingegen ist bei solchen komplexen Themen immer tricky. Warum genau der Nährstoffvergleich nicht mehr ausreicht habe ich jetzt auf die Schnelle nicht herausfinden können, aber in dem Bereich scheint gerade eine Menge EU-weitere Vereinheitlichung zu passieren, siehe z.B. die Düngegesetznovelle vom 06.06.2024, die größtenteils der Umsetzung von EU-Recht dient:

Das Problem ist hier möglicherweise tatsächlich, dass wir Probleme auf immer höheren Ebenen (also nicht in der Kommune, sondern landesweit, bundesweit, europaweit…) regeln wollen, es dort aber schwer ist, Regelungen zu erlassen, die auf den unteren Ebenen auch praktikabel sind. Hier haben wir also einfach erhebliche Interessenkonflikte, z.B. zwischen Kleinbauern in der Kommune (die sich wünschen würden, solche Dinge kommunal nach gesundem Menschenverstand klären zu können) und Großbauern (die sich europaweit einheitliche Regeln wünschen, weil das ihr Geschäft vereinfacht), zwischen Bauern (die eher laxe, einfache Regeln wollen) und Umweltschützern (die möglichst strenge, genaue Regeln wollen).

In solchen Fällen gilt mMn wieder, dass man nicht die Bürokratie als Solche verdammen sollte, sondern die konkreten Probleme, bei denen deutlich wird, dass die Bürokratie ihre zulässigen Ziele nicht erreichen kann und deshalb „in’s leere läuft“.

(okay, ihr merkt schon: Ich bin grundsätzlich eher pro-Bürokratie, weil Bürokratie grundsätzlich für einen egalitären Rechtsstaat zwingend notwendig ist. Je weniger ein Beamter aus dem Bauch entscheiden darf und je mehr durch feste, bürokratische Regelungen geklärt ist, desto weniger Willkür ist möglich… das gilt natürlich nur wenn die Bürokratie funktioniert, was nicht immer der Fall ist!)

Absolut, als ehemaliger gesetzlicher Betreuer waren über 80% meiner Arbeitszeit Bürokratie, die Menschen zu sehen war eher die Ausnahme. Gut, das ist auch ein besonders bürokratischer Job. Im Idealfall ist die Bürokratie so auszugestalten, dass sie entweder automatisch erledigt wird (z.B. automatisierte Dokumentationssysteme) oder für die Bürokratie gibt es Verwaltungskräfte, die sie übernehmen, damit nicht die wichtige Arbeitszeit der knappen Fachkräfte darunter leidet. Diesen Grad der Arbeitsteilung und Modernisierung haben wir leider in kaum einem Bereich erreicht.

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Da liegt wohl der Knackpunkt.

Nicht die Bürokratie oder Dokumentationspflichten als solches, sondern die Ausgestaltung im (Arbeits-)Alltag.

Da wird halt oft aus der Behörden-Bubble heraus ein juristisch einwandfreies Formblatt oder Verfahren gebastelt, das dann und die Praxis geht, ohne die dortigen Abläufe wirklich zu kennen.

Also eher fehlende Usability und Praktikabilität.

Vorher mal miteinander reden oder sich das mal angucken und erklären lassen wäre schon ein echter Schritt.

Vorab: Zum Thema Bürokratie empfehle ich folgenden Podcast:

Hier wird klar, dass nicht Bürokratie an sich das Problem ist - die ist sogar notwendig und sinnvoll - sondern „Überbürokratie“.

Ja, wir haben viel Dokumentation zur Haftungsfreistellung (wer mal Verantwortlich für die Haftung des Arbeitgebers für Berufsunfälle war, weiß, wie wertvoll eine gute Dokumentation ist, wenn ein Unfall passiert und die Berufsgenossenschaft kommt). Und viel Dokumentation, weil wir den Verantwortlichen nicht vertrauen, sich an Recht und Gesetz zu halten. Letzteres hat schon deshalb zugenommen, weil wir immer weniger Verantwortliche in Wirtschaft und Verwaltung haben, die eine intrinsische Motivation haben, das Richtige zu tun (Beispiel Lieferkettengesetz). Das sind übrigens die Gleichen, die sich jetzt besonders laut über zu viel Bürokratie beschweren …

Dass es Überbürokratie gibt und davon viel zu viel, will ich überhaupt nicht in Zweifel ziehen. Aber wir müssen aufpassen, dass wir bei dem Versuch, diese wieder abzubauen, nicht das Kind mit dem Bade ausschütten.

Bürokratie ist die Basis dafür, dass alle Bürger durch Behörden gleich behandelt werden (Rechtsstaatlichkeit, Abwesenheit von Willkür). Gute Bürokratie sorgt für effiziente Abläufe und Struktur in Behörden, Unternehmen und sonstigen Organisationen.

Oftmals ist es gar nicht die Bürokratie, sondern die Einstellung der in der Bürokratie arbeitenden Menschen, denen es schlicht an Kunden- oder Bürgerorientierung fehlt. Wir brauchen Mitarbeiter, die die Antrage nicht bearbeiten, um sie schnellstmöglich vom Tisch zu bekommen, sondern die wollen, dass die Probleme der Kunden oder Bürger gelöst werden.

Das ist ein klarer Mangel an Personalführung, in der öffentlichen Verwaltung, oft genug aber auch in Unternehmen. Meist werden diesen Menschen innerhalb der Organisation nicht mit dem Respekt und der Anerkennung begegnet, mit denen sie den Kunden oder Bürgern begegnen sollten.

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Da würde mich ja interessieren, wie der Wechsel der Systematik angeleiert wurde… das Ergebnis kommt Großbetrieben ja sehr gelegen…

Irgendeine Begründung lässt sich schon immer finden. Ich bin persönlich auch eigentlich ein Fan von Bürokratie, denn viele (die meisten?) bürokratischen Regeln dienen ja dem Schutz individueller oder gemeinschaftlicher Rechte (z.B. Umweltschutz) oder vor staatlicher Willkür (klar geregelte Antragsverfahren).

Absurd wird es für meine Begriffe vor allem in jenen Bereichen, in denen Bürokratie sehr offensichtlich zur Kostensenkung und/oder aus ideologischen Gründen eingesetzt wird. Also nicht um Verschwendung und Betrug zu minimieren, sondern um den rechtmäßigen Empfängern bestimmter Leistungen oder Privilegien diese vorzuenthalten.

Zum Beispiel ist es praktisch unmöglich, ohne massive eigene Vorbereitung und den Willen zur juristischen Auseinandersetzung eine „faire“ Beurteilung des Pflegegrads für ein behindertes Kind zu bekommen. Ähnliches habe ich aber auch bei meinem Großvater beobachtet. Da wird das (sehr komplizierte und subjektive) Bewertungsverfahren der Pflegebedürftigkeit durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen meiner Ansicht nach systematisch genutzt, um Menschen in möglichst niedrige Pflegegrade einzuordnen.

Das selbe mit den Verfahren für die Genehmigung von Schulbegleitern: Ein tierischer Aufwand, der praktisch komplett durch die Eltern geleistet werden muss, obwohl es dabei um das Recht auf Schule und Bildung der Kinder und die Arbeitsfähigkeit der Schulen geht.

Und dann werden viele behinderte Kinder natürlich immer noch in das Förderschulsystem gedrängt, obwohl die Rechtslage und der politische Auftrag an die Schulen eigentlich klar ist: möglichst viele Kinder sollten in den Regelschulen unterrichtet werden, weil hier die Lebensergebnisse für die behinderten Kinder besser sind.

Das war ein klassisches „Verschlimmbessern“ seitens der Politik. Der zugrundeliegende Gedanke sämtliche Zu- und Abfuhrten zu bewerten ist ein richtiger. Nur die Umsetzung ist miserabel.

Tatsächlich gibt es neben der Stoffstrombilanzverordnung noch weitere „Kontrollinstrumente“, die eine korrekte Düngung überprüfen.
Die jährlich zu erstellende Anlage 5, die den ausgebrachten Dünger dem ermittelten kulturspezifischen Düngerbedarf gegenüberstellt, zum Beispiel. Es sind zwar deutlich weniger Zahlen, die bilanziert werden, dafür ist das Ergebnis klar und deutlich.
Umso umsinniger scheint die Stoffstrombilanz.

PS: Ob Großbetriebe oder nicht, macht beim Thema Düngung kaum einen Unterschied. Im Gegenteil sind es häufig eher die Großbetriebe, die Dünger als Kosten begreifen und reduzieren. Demgegenüber steht (anekdotisch, aber oftmals erlebt) der 60 jährige Landwirt mit auslaufendem Betrieb, der seine paar Hektar bewirtschaftet, wie es „vor 40 Jahren in der Berufsschule gelehrt wurde“.

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Ich arbeite in einer kleinen Stadt im freiwilligen Bereich.
Man verliert die Lust auf Neues.
Als wir z.B. den Kulturpass einführten, fragte die Finanzabteilung, warum - kostet doch nur Arbeitszeit und im Haushaltssicherungskonzept soll man bei der Kultur doch sparen.
Umsatzsteuer: Hölle der Bürokratie für Kommunen - es freut sich nur der städtische Steuerberater (ob die Bundesregierung beim Gesetzemachen daran gedacht hat?…)
Haushaltsplanung, hier v.a. Trennung investiver/konsumtiver Bereich: Hölle (da muss das Teil dann schon mal mehr kosten, denn für das preiswetere Gerät ist kein Geld da (falscher Topf)
Landes/Bundeszuschüsse kann man teils nicht abrufen, weil die paar Kröten Eigenmittel nicht da sind.

Fakt ist doch, das Leben ist kompliziert.

Menschengruppen größer 100 Personen können sich nicht selbstständig und frei koordinieren: Dafür hat die Menschheit Geschichten erfunden und die Geschichten müssen weiter getragen werden.
Die Geschichten haben sich immer geändert und werden sich immer ändern und seit wir sie auch in Gesetzen, in Regelwerke und Prozesse niederschreiben kann man diese Geschichten gemeinsam und ganz konkret weiterentwickeln.

Die Geschichte um einen ganzen Staat und Staatenbund am Laufen zu halten besteht aus verdammt vielen Einzelgeschichten und keiner kennt sie alle! Geschichten sind auch bewusst unvollständig und im Entstehen, Probleme sind erkannt, aber die Geschichte noch nicht rund.

Ich bin Software Entwickler, für mich sind Geschichten vor allem:

  • Verantwortlichkeiten
  • Schnittstellen (Input, Output)
  • Leitfäden, Checklisten
  • Schulungsmaterial, aktueller Stand

Für mich ist das immer die selbe westliche Leier:

  • „Ich weiß alles besser und ich will es machen, wie ich will.“ vs. Standards, Best Practices
  • „Bestehende Regeln zu ändern ist mir zu anstrengend.“ vs. Prozesse
  • „Das ist nicht mehr mein Verantwortungsbereich.“ vs. Menschen mit dieser Verantwortung zu unterstützten oder selber eingehen.
  • „Ich will die beste Lösung für den kleinsten Preis.“ vs. „Für den Preis würde ich das nie machen.“
  • „Digitalisierung ist uns zu anstrengend.“ vs. Prozess, Schnittstellen, Verantwortlichkeiten überdenken.

Zeit frei machen

  • Nein, sagen üben.
  • Möglichkeiten der Organisation nutzen, z.B. Gewerkschaften und Verbände (Wir haben Arbeitsplatzbeschreibungen, alles andere kann ich erst mal ablehnen.)
  • Grundgesetz, Arbeitsrecht, Sozialrecht einfordern.

Eigene Fähigkeiten erkennen und entwickeln

  • Schulungen
  • Selbsterkenntnis
  • Nicht jeder muss zu allem eine Meinung haben.
  • Nicht jeder muss überall mitreden.
  • Nichts gegen Hinweisgeber.

Einbringen

  • An geeigneter Stelle.
  • In einem Maße, wie man die Rollen auch ausfüllen kann.
  • Zu Bedingungen, die einen Handlungsfähig machen.

Akzeptanz

  • Was nicht funktioniert wird auch wieder abgeschafft.

Ich denke es hapert an den Basics und es klemmt immer mehr.