Wehrloser Sozialstaat

Etwas Medienkritik und Kritik am Umgang mit Medien:

Bislang stützt sich hier übrigens alles auf einen (1) Artikel. An diesem ist evtl. positiv, dass er überhaupt ein solches emotionalisierbares und kampagnenanfälliges Thema mit eigenen Recherchen öffentlich thematisiert. Dem ÖRR wird gern anderes unterstellt (mMn meist zu Unrecht, aber egal).

Natürlich weist er aber Lücken und Schwächen auf:

  • etwas reißerischer Einstieg
  • „In Nordrhein-Westfalen gehen die Behörden davon aus, dass die meisten Personen, die ein dauerhaftes Bleiberecht im Zuge einer missbräuchlichen Vaterschaftsanerkennung erlangt haben, dauerhaft soziale Transferleistungen beziehen.“ wird einfach mal unhinterfragt übernommen, find ich sehr fragwürdig, besonders bei Kindern.
  • Die Kausalkette von der Vaterschaftsanerkennung zu den Kosten für die Sozialkassen wird insgesamt sehr schwammig dargestellt und nicht wirklich transparent. Hieraus könnten sich ja auch weitere Punkte ergeben, an denen die Behörden Hinweise auf Missbräuche erhalten oder intervenieren könnten
  • Wieso erhält der (Schein-)Vater Geld vom Staat, wenn das Kind bei der Mutter lebt? Keine Antwort im Artikel.
  • Den Gesetzentwurf von 2017 aus NRW hätte man ruhig mal verlinken können, damit man die rechtlichen Stellschrauben besser beurteilen kann. Ich finde übrigens nur einen von 2020: BR-Drs 586/20. Hab ich schlecht recherchiert oder die Autoren?
  • Den Verweis darauf, dass die genaue Gesamtsumme staatlicher Leistungen an den Mann aus dem Beispielsfall „aus Datenschutzgründen“ nicht mitgeteilt wird, als wäre das problematisch, hätte man sich sparen können. Eine Größenordnung wurde genannt, das reicht bei einem laufenden Ermittlungsverfahren, hier geht es immer noch um Verdachtsberichterstattung über eine Einzelperson.
  • Es gibt ein Eckpunktepapier des BMJ zum Abstammungsrecht vom 16. Januar, das einen Gesetzentwurf ankündigt (Pkt 6). Wird im Artikel nicht erwähnt, das ist entweder schlecht recherchiert oder unlauter.

Insgesamt schlechte Medienarbeit, finde ich! Auch etwas traurig, dass wir das hier so lange hingenommen haben, aber immerhin sind wir Lai:innen.

In diesem Licht finde ich, dass @Margarete und @TilRq mit der Warnung vor Agendasetting hier nicht so daneben lagen, auch wenn ein sachlicher Kern existiert.

Weitere Quellen:

Wie Tausende Menschen über Schein-Vaterschaften ein Bleiberecht in Deutschland erlangen | rbb24 (gleiche Recherche, gleiche Autoren wie bei der ARD)

Edit, 26.2.: „Verdacht des Agendasettings“ geändert in „Warnung vor Agendasetting“

Investigativ bedeutet nicht zwangsläufig, dass selbst recherchiert wurde. Es kann auch sein, dass dir jemand Exklusiv-Infos für eigen Skandal liefert (manchmal sogar gegen Geld), die der Journalist dann prüfen sollte, bevor er einen Artikel daraus macht. Bei den Hitler-Tagebüchern kann ein Fall an die Öffentlichkeit, wo das augenscheinlich nicht getan wurde.
Der Punkt, wo es zum Skandal wird, ist ja nicht, dass es möglich ist, sondern, dass der Verdacht besteht, dass es exponentiell ausgenutzt wird.
Unsere Kommunen müssen besser vernetzt werden.
Das scheitert oft am Willen, wenn jeder Kommune eigene Software einsetzt, oft auch am Widerstand der Bürger. Mancher fürchtet da sofort Totalüberwachung des Staates.
Warum an das Thema niemand ran ist? Auch Reiche profitieren von dem Gesetz. So kann man nahestehenden Personen über ein anerkanntes Kind große Beträge steuerfrei zukommen lassen.
Nun ist der Fall anders gelagert. Wir sind hier, gerade da es um Kinder geht, im Bereich des Menschenhandels. Denn die Kinder entscheiden das ja nicht selbst. Die Mütter instrumentalisieren sie, um ein Bleiberecht zu erhalten.
Es ist auch naheliegend, dass auf diese Weise Zwangsarbeiter ins Land geschafft werden können, zum Beispiel zur Prostitution. Handeln ist also wichtig.
Das Eckpunktepapier wird auf jeden Fall die nächsten Diskussionen auslösen, wenn die Frage im Raum steht, inwieweit ein leiblicher Vater Kontakt zu seinem Kind haben darf, wenn der Stiefvater das Kind bei der Geburt anerkannt hat.

Dann dürfen wir meines Erachtens in diesem Fall aber auch nicht von Sozialbetrug sprechen sondern von Familienoptimierung.

Man könnte übrigens auch die makroökonomischen Folgen von kreativen Steuer- und Sozial-praktiken vergleichen. Im Steuerfall tagen die Lücken oftmals dazu bei, die Ungleichverteilung der Vermögen zu vergrößern, während im Bereich des Sozialstaats die Ungleichverteilung mutmaßlich reduziert wird.

Leider wird oft nur auf Gerechtigkeit auf gleicher Ebene geschaut. Und dort wirkt sie leider oft als Spaltkeil.

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