Warum ist privates Feuerwerk noch erlaubt?

Die Eskalation von Gewalt war ja nur einer von sehr vielen im Ausgangspost aufgezählten Punkten. Gibt es auf dem Land wirklich keine Tiere, keine Umwelt, keine Kriegsflüchtlinge, keine neurodiversen Menschen, keine klammen Finanzen, usw.?

Da beinahe jedes Argument für das weitgehend ungezügelte Abfackeln von Feuerwerk so klingt, als wäre es Tichys Einblick entnommen, scheint es um die Argumente dafür wirklich schlecht zu stehen.

Wenn man wirklich ein sinnvolles Argument pro privates Feuerwerk machen wollte, dann könnte man auf die Notwendigkeit der kathartischen Wirkung insistieren, die die kollektive und temporäre Subversion der geltenden Ordnung mit sich bringt, wenn man allen Menschen Imitationen von Kriegsgerät zur Selbstanwendung an die Hand gibt. Nachdem einmal alle geltenden Ordnungsraster aufgebrochen wurden und der Rausch am Neujahrstag ausgeschlafen wurde, haben dann alle genügend anti-bürgerliche Energien abgegeben, um am 2. Januar wieder regelkonform bei der Arbeit zu erscheinen. Wenn man dann aber darauf verweist, dass diese programmatische und gezielte Suspendierung von Regeln und Normen damit gekontert werden soll, dass „geltendes Recht durchgesetzt wird“, stellt dieser Anspruch das „logische Denken“ vor keine geringe Hürde.

Darüber hinaus würde die „Logik“ darauf insistieren, dass „Verbote“ nicht das Gegenteil von „Eigenverantwortung“ sind. Die Restriktion eines bestimmten Verhaltens oder eines bestimmten Segments der Gesellschaft erlaubt es anderen erst, ihre „Eigenverantwortung“ überhaupt wahrnehmen zu können. Wer etwa durch das Rauchen an geschlossenen öffentlichen Orten vom Besuch derselben ausgeschlossen wurde, dem muss der Hinweis auf „Eigenverantwortung“ notwendigerweise schal und herablassend vorkommen. Man müsste halt die Entscheidung treffen, ob es sich beim weitgehend unreglementierten Abbrennen von Feuerwerk um eine wirtschaftlich und gesellschaftliche so wichtige Sache handelt, dass man sie auch gegen die Position der Mehrheit der Gesellschaft und - for what it’s worth: - die Gewerkschaft der Polizei schützen sollte.

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Hier zeigt sich auch, dass in Ländern mit starker Böller-Tradition wie z.B. Österreich auch Gesetze wie das Verbot des Abfeuern von Pyrotechnik in Städten kaum sinnvoll kontrolliert und durchgesetzt werden kann. Das Problem ist halt: Wenn nur 10% der Bevölkerung sich weigern, dieses Verbot zu akzeptieren, ist die Polizei völlig überfordert, auch nur einen halbwegs sinnvollen Anteil der Straftaten zu verfolgen. Daher: Wenn in Deutschland z.B. 5 Millionen Menschen dennoch weiter ihr im EU-Ausland erworbenes Feuerwerk abfeuern und die Polizei maximal die Kapazität hat, 10.000 Strafanzeigen aufzunehmen, wird sie das Verbot einfach nicht durchsetzen können…

Das man eine Straftat nicht verfolgen kann (bzw. angeschwächt, dass man nicht alle Staftaten verfolgen könnte) war schon immer ein schlechtes Argument gegen ein solches Gesetz.

Einerseits ist das sehr an den Haaren herbeigezogene Spekulation, wie viele Leute da einfach das Gesetz brechen würden, auf der anderen Seite würde ich vermuten, dass sich das „ausschleicht“. Das erste Jahr wird noch viel geböllert, weil noch viel Restbestand im Keller ist, aber nach mehreren Jahren haben sich die allermeisten daran gewöhnt einfach zu marktplatz zu gehen und sich dort das Feuerwerk anzuschauen und betreiben nicht mehr den Aufwand, das im Ausland zu kaufen, illegal über die Grenze zu schmuggeln und dann hier selbst zu verschießen.

Spätestens dann hätte die Polizei gute Chancen die dann noch verübten Straftaten zu verfolgen.

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Ich finde das ebenso ein sehr interessantes Thema.

Grade im Hinblick auf die Angriffe gegenüber Rettungskräfen und der Polizei.

An Silvester werden durch Verletzungen die Krankenhäuser mit einer weiteren Aufgabe belastet, wärend sie sowieso überlastet sind. Zudem kann es dazu kommen, dass durch die voranschreitende Gewalt gegenüber Rettungskräfen noch mehr Retter Ihren Job kündigen.

Ich fände eine Lösung wäre, dass es von Städten organisierte und durch Spezialisten durchgeführe Feuerwerke gäbe. Diese sind sowieso viel schöner, zentral zum anschauen (und damit keine weitflächige Belästigung für Tiere) und sicherer.

Ich fände auch eine juristische Betrachtung hierbei sehr interessant. Ich habe mich mal informiert ob man alkoholisiert Schusswaffen verwenden kann und bin dabei auf eine Entscheidung des BVerwG getroffen. Das Urteil vom 22.10.2014 - 6 C 30.13 besagt:
„Vorsichtig und sachgemäß im Sinne des §5 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b WaffG geht mit Waffen nur um, wer sie in nüchternem Zustand gebraucht und so sicher sein kann, keine alkoholbedingten Ausfallerscheinungen zu erleiden, die zur Gefährdung Dritter führen können.“
Waffen dürfen nicht alkoholisiert benutzt werden, aber Sprengstoff wird an jeden ausgegeben, der alkohol kaufen darf und sehr wahrscheinlich an Silvester konsumiert???

Ich finde Böller sollten hierbei auch unter das WaffG fallen, grade da man sie auch unter Anlage 1 Abschnitt 1 Unterabschnitt 3, 1.4.2 WaffG aufgelistet finde:
„unpatronierte pyrotechnische Munition (Geschosse, die einen pyrotechnischen Satz enthalten)“.

Ist es daher überhaupt juristisch legitim potenziell betrunkenen solche Waffen auszugeben? Zumal hier nicht wie beim Führerschein mit einem Erlaubnisentzug bei alkoholisierter Nutzung zu rechnen ist.
Wie sehr ihr das Ulf und Philip?

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Das Argument dafür ist: Es macht (offensichtlich vielen) Spaß.

Natürlich hat der Spaß seine Grenzen und es mag gute Gründe geben, gerade das Böllern zu verbieten (z.B. wenn es Menschen wie dir damit gesundheitlich schlecht geht oder eine hohe Verletzungsgefahr besteht). Allerdings hat fast alles, was Spaß macht in irgendeiner Form negative Auswirkungen auf irgendwen (allein schon der „unnötige“ Ressourcenverbrauch). Mit der Argumentation könnte man also fast alles verbieten woran Menschen Freude haben. Ganz ohne Spaß wäre das Leben aber auch nicht schön ;). Daher sollte man nicht alles verbieten, was Spaß macht, sondern sich als Gesellschaft überlegen welche Risiken und Nachteile man für den Spaß in Kauf nimmt und wo die Grenze verläuft.

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Fände ich auch eine absolut gute Lösung, wobei man da sicherlich auch Aspekte des Feinstaub und anderer Umweltbelastung bedenken sollte. Auch wird es mMn bei weitem nicht genug Spezialisten dafür geben und wahrscheinlich wird man geprüfter Pyrotechniker auch nicht mal eben durch einen Lehrgang am Wochenende.

[quote=„Christoph_Luh, post:23, topic:17609“]
Ist es daher überhaupt juristisch legitim potenziell betrunkenen solche Waffen auszugeben?
[/quote] am

Potenziell Betrunken trifft wohl auf jeden zu :wink:

Aber vielleicht wäre ein Ansatz wie beim Autofahren denkbar, dass man nicht mit Böller / Feuerwerk hantieren darf, wenn man mehr als 0,x Promille hat. Das wäre bei Missbrauch prüfbar und könnte entsprechend sanktioniert werden. Aber es bleibt die Frage …. Wer soll das alles kontrollieren?

Die Gewalt gegen Rettungskräfte ist richtig schlimm, aber wohl eher nur dem Alkohol und weniger dem Feuerwerk geschuldet.

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Ich plädiere für Feuerwerksvereine. So ein Verein könnte in etwa ein Zwischending zwischen Karnevals- und Schützenverein sein. Damit müsste die Tradition nicht aufgegeben aber in geregelte Bahnen gelenkt werden. Die Gemeinden müssten keine Feuerwerke organisieren bzw. bei der Organisation nur unterstützen und vor allem das Feuerwerk nicht selbst finanzieren. Auf der anderen Seite könnten diejenigen, die Spaß an der Pyrotechnik haben, diesen ausleben, gleichzeitig gäbe es aber auch Regeln zur Aufbewahrung der Sprengstoffe, zur Handhabung (z.B. nicht unter Alkoholeinfluss) und zum Zeitraum, in dem gezündet werden darf, die sich auch viel leichter kontrollieren ließen.

Insgesamt glaube ich, dass dadurch trotz Reduktion der Masse mindestens die gleiche Qualität an Feuerwerk herauskommen könnte. Und schon durch die Konzentration auf weniger Orte würde die Belastung der Menschen und Tiere vermindert sowie die Abfallbeseitigung vereinfacht.

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Ich war gespannt, wie sehr wohl „geböllert“ werden würde. Leider war es ziemlich extrem.
Vor dem Einschlafen dämmerte es mir und ließ mich nicht mehr los.

Wie kann sich großartig empört werden, über elendig teuer gewordene Lebenshaltungskosten und dass der Staat ja nichts oder zu wenig dagegen täte; aber zeitgleich Millionen Euro Umsatz für privates Feuerwerk erzielt werden?

Das passt nicht zusammen und zeigt nur eine weitere Schieflage auf.

Alleine deshalb ist ein Böllerverbot Pflicht. Eigenverantwortung funktioniert nicht überall.

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Das ist ein wirklich interessanter Ansatz. Finde ich gut, den Vorschlag würde ich unterstützen.

An einen Verein kann man dann auch gewisse Kompetenzstandards / Fortbildungspflichten binden, sodass diejenigen, die rechtlich für die Vereinsfeuerwerke verantwortlich sind, auch entsprechend ausgebildet sein müssen.

Dazu ein striktes Alkoholverbot im Umgang mit Pyrotechnik (Böllern oder Saufen - da muss man sich halt entscheiden) und generell klare Verantwortungen, sodass, wenn es zu Bränden und Verletzungen kommt, zumindest ein Verantwortlicher feststeht. Haftung für Schäden sollte dann über eine spezielle Haftpflichtversicherung laufen, an den Kosten der Straßenreinigung sollte man sowohl beim Karneval auch auch beim Feuerwerksverein die Vereine beteiligen (ist leider aktuell bei Karneval oft nicht der Fall, z.B. in Köln, bei Schützenvereinen hingegen schon; aber darüber kann man streiten, ähnlich wie über die Kosten für Polizeieinsätze bei Bundesligaspielen ist das vermutlich sehr umkämpft, daran sollte es daher nicht scheitern…).

Ich denke, die Lösung über Vereine wäre ein guter Kompromiss zwischen völligem Verbot und dem aktuellen Statue Quo.

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Gerade diesen sehr interessantes Beitrag auf Youtube gefunden: Feuerwerk verbieten? Die Rationalität des Knallens! - YouTube

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Danke für den Beitrag (bzw. das Video von Prof. Rieck). Ich halte das Video jedoch hauptsächlich für pseudo-gebildetes Geschwafel, um ein vereinfachtes Diagramm und dessen Aussage zu rechtfertigen - nämlich, dass es nur um die beiden Dimensionen Spaß vs. Sicherheit („Griesgrämigkeit“) ginge.

Aber nagut, ich würde mich dennoch auf eine Diskussion zum Thema „Spaß“ einlassen. Ich bezweifle überhaupt nicht, dass privates Feuerwerk total viel Spaß machen kann. Ich stelle mir eine experimentierfreudige Gruppe von Jugendlichen auf dem Land vor oder eine Familie, die ein paar Raketen abschießt. Mir ging es bei meinem Beitrag aber eher um die gewalttätigen Ausschreitungen in Berlin und hier kann es nicht um denselben Spaß gehen. Hier geht es um Frust und Zerstörung.

In der Tat hat das Thema eine sehr interessante soziale Dimension, denn wie Robert Ide (Tagesspiegel) sagt:Was also hilft ein Böllerverbot, solange wir es nicht für geboten halten, über die Abgehängten in unserer Stadt nachzudenken? Die Ausschreitungen sind Symptome von ungleicher Verteilung, Ausgrenzung und zeigen unsere gesellschaftlichen Probleme auf. Diese Probleme werden durch ein Böllerverbot nicht behoben und müssen ebenfalls aufmerksam behandelt werden. Dennoch halte ich ein allgemeines Verbot von privatem Feuerwerk für ein wichtiges Stück im Puzzle.

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Ich frage mich, warum hier im Forum so oft Dinge vom Rieck gepostet werden. Ich sag’s nochmal: Der Typ war mehrere Jahre lang aktiver Autor bei Tichys Einblick. Der Typ bedient eine ganz klare rechtskonservative Klientel (wenn nicht Schlimmeres…) und alles, was er auf YouTube veröffentlich, schreit seine Agenda heraus.

Um das Ausmaß an schweren Verletzungen, Todesfällen, Bränden und Umweltverschmutzung zu rechtfertigen, müsste schon eine absurde Menge „Spaß“ dabei rumkommen.

Wir müssen langsam mal zu der Erkenntnis kommen, dass es tausende Wege gibt, „Spaß“ zu haben. Manche davon sind schädlicher als andere. Und die umwelt- und sozialschädlichsten Wege um Spaß zu haben müssen eben entsprechend reglementiert werden. Ich sage ganz ehrlich: Ich hätte auch Spaß daran, mal wieder mit einem MG3 zu ballern, wie ich es damals bei der Bundeswehr gemacht habe. Aber ich kann völlig verstehen, dass die Gesellschaft sagt: „Nope, Spaß mit Kriegswaffen gibt’s hier nicht!“.

Wir haben einige toxische Traditionen, daher traditionell geprägte Wege, Spaß zu haben, die große gesellschaftliche und ökologische Kosten erzeugen. Alkohol, Böllern, Fleischessen und Autofahren sind vier Beispiele. Und davon müssen wir weg kommen. Es gibt genügend andere Arten, Spaß zu haben - und wenn wir jetzt aufhören, unsere Kinder an die vier oben genannten „Spaßquellen“ zu gewöhnen, werden sie auch nichts vermissen. Wenn wir hingegen weiter so sozialisiert werden, diese schädlichen Dinge als Spaßquellen wahrzunehmen, wird sich auch nichts ändern.

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Anekdotische Evidenz:

https://twitter.com/s1rko87/status/1610383595872321537

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In Berlin ist es seit Jahren oder Jahrzehnten normal, an Silvester Menschen und Autos mit Raketen und Böllern zu beschmeißen. Ich habe um 2015 einige Silvester in Berlin gefeiert in Gegenden mit geringem Migrationsanteil, und da wurden wir auch angegriffen, Autos wurden beschossen. Das ist auch das, was mir andere erzählt haben. Aber diese Aggressivität wurde lange geduldet, hat mir aber den Spaß an Silvester im Freien verdorben. Das zum Thema Spaß. Die Politik kann das so nicht weiterlaufen lassen. Auch die absurd lauten Böller, die auch in einem Randbezirk von Berlin im 5 Minuten Takt zu hören sind, gehörten zurück gedrängt.

Von daher, eben weil die negativen Folgen zu groß geworden sind und viele der Feiernden mit der „Freiheit“ zu böllern nicht umgehen können, muss das eingeschränkt werden.

Es sind 2 Themen. Zum einen die generell akzeptierte Gewalt zu Silvester. Und dann die komplett aus dem Ruder gelaufene Gewalt, die vor allen bei einigen Nicht Deutschen aufgetreten ist. Was läuft das schief, dass selbst die Anwesenheit der Polizei die nicht zur Besinnung bringt?

Warum nicht? Das wäre doch ein Anfang. Klar können Leute da immer noch anfangen, aus mehreren kleinen einen großen Böller zu basteln, aber es ist nicht mehr so, dass jeder ohne Aufwand dran kommt. Man kann auch nach Lautstärke der Explosion selektieren.

Ist das aktuelle auf den Zeitraum beschränkt? Ich kenne nur die Regel, dass es am 31.12. und 01.01. erlaubt ist, den Rest des Jahres nur mit Erlaubnis- oder Befähigungsschein (Erste Verordnung zum Sprengstoffgesetz (1. SprengV) § 23 Abs. 2 ). Wenn man es zeitlich einschränkt, warum 2300? Meinetwegen 2345 um unterschiedlich laufende Uhren zu berücksichtigen, aber vor Mitternacht knallen ist m. E. unnötig.

Ich würde sagen, das kommt drauf an, wie sich das auf den Umsatz der Industrie auswirkt und ob es einem Berufsausübungsverbot nahe kommt, weil dann keine Nachfrage mehr da ist.

Das ist ja auch in der Cannabisdebatte ein Argument, allerdings bin ich nicht überzeugt, dass es hier zieht. Nen Joint kann ich still und heimlich durchziehen, Feuerwerk zünden nicht.

Ich verstehe Dein Ansinnen und es tut mir leid, dass Du so unter Krach leidest. Aber ich sehe hier beim besten Willen kein Versagen des Rechtsstaates. Zum einen gibt es keine Regel, die das Böllern verbietet (zumindest an den beiden Tagen nicht), zum anderen geschieht es ja nicht mit Verletzungsvorsatz. So wie Du es schilderst, gehe ich davon aus, dass Dir alle lauten Geräusche Schmerzen bereiten. Nach Deiner von mir zitierten Argumentation versagt der Rechtsstaat auch, wenn in Deiner Nachbarschaft ein Presslufthammer zum Einsatz kommt. Das ist dann ja auch eine sehr laute, aber zulässige Aktivität, die geeignet ist, Dich zu verletzen.

Abgesehen von der Lichtverschmutzung (auch ein spannendes Thema, das bis ins All reicht), kann man dem mit Drohnenshows beikommen.

Ah shit, es kann ja sein, dass ich nicht 100% richtig lag in meiner innerlichen Definition des Wortes „Rechtsstaat“ (achtung: Nichtmuttersprachler!). Falls „Rechtsstaat“ tatsächlich nur das betrifft, was der Staat im juristischen Sinne schon beschlossen hat, wäre es meinerseits die falsche Wortwahl. Was ich damit meinte war, dass mein Konzept von einem Staat mit Gesetzen ist, dass diese Gesetze dazu dienen, die Konflikte zwischen den Rechten der Individuen auf gerechte Weise zu regeln, und dass ich es als nicht besonders gerecht beschreiben würde, dass „Spaß haben“ vor „unbeteiligte Personen verletzen“ steht.

Das ist ein sehr interessanter Punkt, und Du hast ja vollkommen recht – solche Sachen sind für mich auch sehr störend. Der Unterschied, würde ich sagen, ist: das dient doch einem (aus der Perspektive des Staates) konstruktiven (oder zumindest konstruktiveren) Zweck, und – viel wichtiger – darf nicht während Ruhestunden passieren. Ich musste schon paarmal bei soetwas die Wohnung verlassen, wusste aber ziemlich sicher, dass ich um 17:00 zurückkehren konnte. Also besser formuliert: ich habe gelernt, wie ich mit dieser Empfindlichkeit halbwegs „normal“ umgehen kann, wenn’s notwendig sein muss. Das erfordert aber einen ziemlich krassen Eingriff in meine Handlungsfähigkeit, und an und um Sylvester wäre das absolut unmöglich gewesen, ohne einfach die Stadt für wenigstens eine Woche zu verlassen. Aber das lenkt von meinem Punkt etwas ab, nähmlich: ich bin der Meinung, dass es aus einer staatlichen Perspektive eigentlich nicht notwendig sein soll, dass ich um Sylvester wirklich gar keine andere Option habe als die Stadt zu verlassen, wenn ich nicht die ganze Woche danach komplett am Arsch sein will, nur damit andere etwas Spaß haben können.

Es ist nicht ganz so relevant zu Deinem obengenannten Punkt, aber wohl trotzdem interessant, also… in meinem Fall ist es ungefähr so: Hintergrundgeräusche zu erkennen und sie dann wiederum rauszufiltern ist ein aktives Verfahren. Genauer gesagt, es ist nicht wirklich so, dass ich mich auf das Rausfiltern konzentrieren muss, eher das Gegenteil: ich muss ein Vordergrundgeräusch haben, auf das ich mich konzentrieren kann, um zu erkennen, dass es überhaupt Hintergrundgeräusche gibt. Sonst sind sie halt Geräusche, und ich nehme sie etwa alle gleich war. Geräusche wie Knalle dringen aber so in meinen Kopf rein, dass sie das ganze komplett unterbrechen. Äußerlich zeigt sich das so, dass ich plötzlich kurz inne halte, aber innerlich erlebe ich es fast wie einen Stromschlag mitten im Kopf. Genau wie ein Stromschlag wird es extrem schnell ausgelöst, lässt aber nur sehr langsam nach. In der Regel, je lauter, je plötzlicher – oder besser gesagt, je unerwarteter oder je erschreckender – desto stärker die „Spannung“ des Stromschlages. Falls es auf Dauer weitergeht, dann bleibt mein Gehirn so übertrieben aktiviert dass ich komplett erschöpft bin, und nach ein paar Stunden bekomme ich Symptome, die den Symptomen meiner letzten paar Gehirnerschütterungen sehr ähnlich sind. Falls es dann immer noch weitergeht, dann, ganz wie bei einer Gehirnerschütterung, bleiben diese Symptome noch mehrere Tage nach der Auslösung. Um das ganze noch schlimmer zu machen, wenn die Knalle dann so krass in meinen Kopf eindringen, heißt das, dass es überhaupt nicht möglich ist bei Knallen einzuschlafen. Bei jedem Knall bin ich wieder hellwach, auch wenn ich 100% fix und fertig bin. An Sylvester z.B. bin ich um etwa 2 Uhr komplett erschöpft endlich ins Bett gegangen, wo ich trotzdem bis 4 Uhr wach lag bis es mit dem Krach aufhörte. Das war eigentlich am allerschlimmsten, ich war wirklich am Limit.

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Zum Thema „Knallerei in ländlichen Gegenden“ mal noch ein paar Links:

Auch hier wird konkreter (nicht nur) finanzieller Schaden durch unbedachtes Feuerwerk angerichtet. Es wird wirklich Zeit, den Umgang mit Sprengstoff den Profis zu überlassen.

So habe ich Dich auch verstanden. Worauf ich hinaus wollte ist, dass die Beeinträchtigung die Du erfährst ja nicht die Regel ist. Gesetze sind abstrakt-generelle Regeln, die das große Ganze betrachten. Aus Deiner Perspektive ist es absolut nachvollziehbar, dass Du das Verbot forderst, aber es ist aus meiner Sicht schwer, darauf die Argumentation pro Verbot zu stützen. Darauf wollte ich hinaus. Im Ergebnis sindwir nicht so weit auseinander, aber der Weg dahin unterscheidet sich.

Danke für die detaillierte Beschreibung, das hilft, Dich zu verstehen.

Solange es andere nicht einschränkt oder sogar gefährdet, bin ich beim Spaß dabei.

Ich hüpfe selbst erst einmal auf der Stelle als Fußgänger, wenn eine Fehlzündung passiert oder ein Motorrad oder sonstiges KFZ mit aufgemotztem Auspuff an mir vorüber fährt. Danach brauche ich Minuten, um mich zu beruhigen.

Ich wohne in der Stadt und in der Vergangenheit bin ich an Silvester sogar aufs Land gefahren, leider war es da auch nicht viel besser.

Und ich kenne noch weit schreckhaftere und lärmempfindliche Menschen, die z.B. auf dem Fahrrad anhalten, wenn ein Motorrad naht, um sich die Ohren zuzuhalten.

Zentrale Feuerwerke halte ich noch für akzeptabel, die sind örtlich und vor allem zeitlich beschränkt. Alles andere ist für mich und viele andere zu anstrengend.

Also ich find diese Argumentation Feuerwerk macht Spaß und deswegen sollten wir es nicht verbieten, weil wenn wir Feuerwerk verbieten können wir auch XY verbieten, hilft nicht viel. Weil die Argumentation könnte man auch umdrehen und sagen, wenn wir Feuerwerk erlauben, dann können wir ja auch Heroin erlauben, macht bestimmt auch ne Menge Spaß und schadet sogar noch weniger andere Menschen/Tiere als ein Feuerwerk.

Was ich aber denke ein Punkt ist, den man nicht ignorieren sollte, ist die Tradition die hinter dem Sylvesterfeurwerk steckt. Viele Menschen sind mit dem Feuerwerk aufgewachsen und es ist Teil ihrer jährlichen Tradition/ ein Teil ihrer Kultur und deswegen haben sie eine emotionale Bindung dazu. Und das kann Leute echt aufbringen, wenn man ihnen sowas verbieten will. Ein Kommentar den ich dazu gehört hatte war: „Ich hab mir dieses Jahr extra viele Knaller gekauft, die wollen uns ja alles verbieten“.

Das mit den Knallern ist z.B. was anderes als beim Tempolimitsdiskussion. Da steckt keine Tradition in der Form dahinter, daher halte ich die gesellschaftlichen Kosten dort für geringer.

Ich will damit nicht sagen, dass man das Feuerwerk behalten sollte, nur weil es Tradition ist. Eher will ich sagen, dass man in der Diskussion mit beachten sollte, dass Feuerwerke eine Tradition haben und es nicht so ist, als gäbe es kein Argument für Feuerwerke.

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Ich denke, den Punkt mit der Tradition haben wir hier schon recht ausführlich behandelt.

Daher würde ich mich auch dem Vorschlag mit den Feuerwerks-Vereinen anschließen - dann kann jeder, dem diese Traditionspflege wichtig ist, in einem besser kontrollierbaren, sichereren, etwas professionelleren Rahmen damit weitermachen.

Ich würde nie sagen, dass Tradition ein Argument „für“ etwas ist, es ist kein Argument auf der Nutzen-Seite, sondern auf der Kosten-Seite der Diskussion.

Antisemitismus, Hass gegen Homosexuelle, Abwertung der Frauen - das sind alles Dinge mit langer Traditionen in der westlich-christlichen Gesellschaft (und auch im Islam und in den meisten asiatischen und vielen afrikanischen Kulturen). Nur, weil etwas über Jahrhunderte Normalität war und ganz selbstverständlich gemacht wurde, ist das kein Argument dafür, es beizubehalten. Und diese Traditionen einzuschränken hat bis heute einen hohen gesellschaftlichen Preis (siehe die Diskussionen über „Cancel Culture“, angeblich mangelnde Meinungsfreiheit usw.)

Das ist letztlich der Kern-Unterschied zwischen Konservativen und Progressiven. Für den Konservativen ist Tradition um ihrer Selbst willen schützenswert, weshalb Tradition selbst bei schädlichen Ergebnissen kaum hinterfragt wird (siehe Alkohol…), bei Progressiven ist Tradition schlicht eine lange eingeübte Verhaltensweise, die so wie jede andere Verhaltensweise auch stets reflektiert und überdacht werden muss - und wenn das Ergebnis negativ ist, muss die Tradition halt weichen.

Den gesellschaftlichen Preis (an gesellschaftlichem Frieden), den es hat, eine Tradition einzuschränken, sollte man daher definitiv berücksichtigen, aber das ist kein Argument für das schädliche Verhalten, welches hinter der Tradition steht.

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