Wahlen in der Türkei - Medienversagen? Integrationsversagen?

Hallo liebe LdN-Community…

Hätte da gerne mal Eure Einschätzung zu meinen Gedanken.

Finde es erschreckend, wie wenig in deutschen Medien (einschließlich der LdN) von den Wahlen in der Türkei berichtet wurde. In Deutschland leben knapp 1,5 Millionen Türken. Geht man davon aus, dass die alle Wählen können, wären das fast 1,7% der Wählerstimmen.
Hat man hier eine Chance verpasst, die Grundidee von freiheitlicher Demokratie zu verbreiten? Gibt glaube ich wenige Dinge, welche die Situation im Nahen Osten so positiv beeinflussen könnten, wie ein demokratischer Präsident in der Türkei. Und wir reden hier gerade von wenigen Prozentpunkten die der Opposition gefehlt haben.

Mehr als zwei Drittel aller in Deutschland lebenden Türken haben Erdogan gewählt. Das ist mehr als in der Türkei…

Was sagt das über die Integration aus?
Was sagt es aus, wenn hier im freiheitlichen Europa Menschen in Autokorsos durch die Straßen ziehen und den Sieg eines Autokraten feiern, der die Demokratie abschaffen will.?

Und wir reden hier von DEUTSCHEN! Menschen. Die in dritter Generation hier leben!
Was läuft da falsch? Mich hat das echt schockiert. Ging mir da ähnlich wie mit einigen amerikanischen Freunden, die Trump gewählt haben. Und jetzt das gleiche: Studierte, gebildete Menschen, die Erdogan wählen.

Das verstehe ich nicht.

Bleibt da so wenig hängen? Fühlen diese Leute sich so abgehängt?
Was machen wir da falsch?

Jung&Naiv hatte vor ein paar Tagen Kemal Bozay zu Gast. Der berichtet interessante Aspekte. Eine „einfache“ Antwort gibt es da glaube ich nicht

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Mehr als zwei Drittel aller in Deutschland lebenden Türken, die gewählt haben, haben Erdogan gewählt. Da nur die Hälfte der Türken überhaupt gewählt hat, war es also ein Drittel der Türken, die tatsächlich Erdogan gewählt haben. Und man kann nicht davon ausgehen, dass die Nichtwähler genau so gewählt hätten wie die Wähler, möglicherweise haben gerade die besser integrierten und regierungskritischen Türken nicht gewählt, weil sie nur ungern zum Wählen in die türkische Botschaft gehen. Wenn man bedenkt, wie viel Mühe die Türkei investiert, um Regierungskritiker auch in Deutschland mit geheimdienstlichen Mitteln und Denunziations-Apps aufzuspüren, kann ich mir gut vorstellen, dass gerade Regierungskritiker hier lieber keinen Fuß in die Botschaft setzen, so sehr sie sich auch Änderungen in der Türkei wünschen…

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Wurde in der Lage angesprochen (auch wenn mir das recht unvorbereitet vorkam), gibt auch einen Thread dazu.

Viele, die in dritter Generation hier sind und Erdogan nicht gewählt hätten, können das nicht mehr, weil sie längst Deutsche sind.
Von den anderen hat @Daniel_K ja schon geschrieben, war nur die Hälfte wählen. In einem Podcast hat ein Oppositionspolitiker gesagt, dass beide Lager Busse für Wähler organisieren. Weil die Regierungspartei aber viel mehr Möglichkeiten hat, gibt es für Erdogan-Unterstützer in mehr Städten die Möglichkeit, das zu nutzen.

Mich würde mal die Meinung von Deutschtürken interessieren. Seid ihr der Meinung, dass der Deutschlandfunk oder ein anderer öffentlich-rechtlicher Anbieter einen deutschsprachigen Sender über die Türkei (und andere Länder mit großer Migration nach Deutschland) anbieten sollte?

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Ich weiß nicht wie, ich weiß nicht warum. Aber ich kenne Leute mit türkischem Background die hier geboren wurden, einen deutschen Pass haben, und trotzdem gewählt haben. Ich dachte auch, dass eine doppelte Staatsbürgerschaft grundsätzlich nicht möglich sei. Aber dem scheint nicht so zu sein…

I know… Aber - wie in anderen Medien auch - eher unter „ferner liefen“… Wirkte überall ein bisschen so nach dem Motto „Die Wahl ist eh von vorne bis hinten Fake, daher kann man sich die Berichterstattung auch sparen“

Der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch Geburt setzt voraus, dass mindestens ein Elternteil im Zeitpunkt der Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Besitzt bei einer Geburt im Inland kein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit, wird die deutsche Staatsangehörigkeit neben der ausländischen im Rahmen des Optionsverfahrens zunächst nur „auf Zeit“ erworben.

Wer also türkische Eltern hat, kann eine deutsche Staatsbürgerschaft auf Zeit beantragen.
edit: das meint vermutlich die Fälle, die sich mit 18 dann entscheiden müssen, die können also nicht wählen

Daneben kann in Sonderfällen eine Mehrstaatlichkeit genehmigt werden, zum Beispiel, wenn dadurch im Herkunftsland wirtschaftlicher Schaden droht. Ich nehme mal an, wenn z. B. Grundbesitz besteht, der im Falle der Aufgabe der Staatsbürgerschaft verloren gehen oder nicht mehr, oder nur unter Schwierigkeiten, verkauft/vererbt werden könnte.

Nach der Grundkonzeption dieses Gesetzes ist die doppelte Staatsangehörigkeit, die das Gesetz als Mehrstaatigkeit bezeichnet, daher möglich, aber nicht als Regelfall vorgesehen.

Quelle: Bundesverwaltungsamt
Die Regel ist es wohl nicht, aber wie immer viele Möglichkeiten, um vom Grundsatz abzuweichen.

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Ist dem echt so? Einige Wochen vor der Wahl habe ich in den ÖRR Sendern Berichterstattung über beide Kandidaten gesehen. Die Tagesthemen haben ihr Studio in den Tagen vor der Wahl nach Istanbul verlegt um von dort besser zu berichten. Die typischen Talk Shows haben fast alle mal über die Wahl berichtet, entweder mit Serap Gülrr oder Dennis Yüzel als „Türkei-Experte“ und vereinzelt kamen sogar wählende Deutsch-Türken zu Wort (Hart aber Fair, 15.05.). Die berichteten dann wahlweise davon, dass das deutsche Erdogan Bild viel zu negativ gezeichnet werde und Erdogan das Land erst wieder zur Blüte geführt hätte oder dass die Türkei fast schon zu einem diktatorischen Staat geworden sei.

Wieviel mehr Berichterstattung wäre wohl nötig gewesen? Kann es vielleicht sein, dass Erdogan unter den Deutsch-Türken weniger negativ gesehen wird, als es hier vermittelt wird?

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Eine realistische Deutung ist tatsächlich, anzunehmen, dass die in Deutschland lebenden Türken eher wählen wie die „ländlichen“ Türken und weniger wie die „städtischen“ Türken.

Das Phänomen, dass die Landbevölkerung stets deutlich konservativer (oder anders ausgedrückt: wertekonservativer) wählt, ist ja nichts Neues. Das gilt, wie man z.B. bei der Kommunalwahl 2019 sehen konnte, auch in der Türkei. Auch da hat die AKP auf dem Land weiterhin eine erdrückende Mehrheit geholt, während sie in den Großstädten viele Oberbürgermeisterämter verloren hat.

Die in Deutschland lebende türkische Bevölkerung stammt historisch vor allem aus dem ländlichen Bereich der Türkei - zumindest deutlich mehr als aus dem städtischen. Und dort sind diese Menschen auch bis heute noch verwurzelt, sodass hier über die Familie auch ein großer Einfluss auf die Wahlentscheidung stattfindet.

Daher:
Ja, es ist nicht undenkbar, dass die Herkunft der Gastarbeiter aus der eher ländlichen Türkei sich bis heute darin auswirkt, dass die in Deutschland lebenden Türken konservativer sind als der „Durchschnittstürke“, der eben mehr städtische Bevölkerung enthält. Das ist allerdings nur eine These, die man eventuell mal genauer untersuchen sollte.

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So Leute kenne ich auch. Laut ihrer Auskunft ist es offenbar recht einfach, eine für die Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft abgelegte türkische Staatsbürgerschaft danach wiederzuerlangen; das soll wohl ein schlichtes Antragsverfahren sein. Rechtlich verliert man zwar die deutsche Staatsbürgerschaft automatisch zu dem Zeitpunkt, an dem man eine andere annimmt, aber die Türkei informiert den deutschen Staat anscheinend nicht über diese Fälle (weil sie sich wohl in diesem Verfahren auch gar nicht näher für eventuell bestehende andere Staatsbürgerschaften interessiert), sprich solange es dem deutschen Staat nicht irgendwie auffällt hat man dann beides.

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Zurück zum Thema:

Ich war wählen und ich kann für dich die Leute einordnen die in der Schlange standen in Berlin:

  • 40% normale Leute die man nur schwierig von Biodeutsche unterscheiden könnte, die normal gekleidet sind, ein Buch lesen, oder Sportsachen bei sich haben usw.
  • 40% Leute woran man sehen kann dass sie lieber im Nahost wären
  • 20% Prolls die schwierig einzuordnen sind aber politisch wahrscheinlich eher rechtsaußen zu finden sind

Das ist eine Verteilung die nicht so anders ist als man bei Wahlen hier in Deutschland sieht.

Ich habe mich gerade mal auf die Suche nach Daten begeben, die die Wahlergebnisse nach Bezirken darstellen. Ich bin mit der Türkei nicht sonderlich vertraut und daher verzeiht mir bitte Fehldeutungen von Daten.

Bei meiner Suche bin ich auf die Seite journalistische Seite journeo.com.tr gestoßen. Ich kenne die Seite nicht, daher habe ich mir die Selbstbeschreibung angeschaut.

Journo.com.tr is a bipartisan media organization aiming to enhance quality of journalism practices in Turkey through educational activities and to advocate freedom of speech through opening spaces for unemployed or freelancer journalists who are looking for mediascapes to publish their works.

Klingt nicht so ganz nach Erdogan Fanboys. Daher sind die Ergebnisse wohl eher nicht pro-Erdogan dargestellt. Nun habe ich mir also die Verteilung der Stimmen (erste Wahl, nicht die Stichwahl, da ich die Daten nicht gefunden habe) angeschaut bleibe etwas ratlos zurück.

Offensichtlich ist Erdogan im europäischen Teil der Türkei unbeliebt. In der Stadt Istanbul hingegen liegt er bei 50 % ± 10 % je nach Bezirk. Gleiches Bild in der Region in und um Ankara. Im ländlichen Teil der Zentraltürkei und im Norden hat Erdogan klar eine Machtbasis. Schwach ist er hingegen an der Westküste und den Grenzen des Landes im Osten und Südosten. Spannend finde ich, dass die schwer getroffenen Erdbebenregionen in großer Zahl für ihn gestimmt haben zu scheinen, obwohl im Vorfeld der Wahl in Deutschland viel über dortige Unzufriedenheit mit Erdogan berichtet wurde.

Demgegenüber war Kilicdaroglu stark vor allem in den klassischen Urlaubsgebieten, dem europäischen Teil der Türkei, in der Nähe seines Heimatbezirks (> 80 % in Tuncelli und Umgebung) und in Grenznähe zu Iran und Syrien (hat das vielleicht etwas damit zutun, dass er stets Stimmung gegen Flüchtlinge machte)? In den Großstädten Istanbul, Ankara und Gaziantep hingegen scheint er mir leicht bis deutlich abgeschlagen gewesen zu sein.

Ist die Einteilung des Wahlverhaltens in ländliche und städtische Türken unter diesen Umständen überhaupt realistisch? Ist es nicht eher eine Einteilung in Tourismus-abhängige Orte und solche, die mit vielen Flüchtlingen zu kämpfen haben (Kilicdaroglu) einerseits und Großstädte und die Zentraltürkei andererseits (Erdogan)?

Zur Referenz hier noch die Bevölkerungsdichte nach Regionen:


http://www.geo-ref.net/de/tur.htm

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Das ist schlicht sachlich falsch.
In Deutschland leben ca. 2,9 Millionen „Deutschtürken“. Davon haben 1,5 Millionen eine türkische Staatsangehörigkeit und dürfen an Wahlen in der Türkei teilnehmen. Von diesen haben gut 700.000 tatsächlich gewählt und nicht einmal 500.000 AKP bzw. Erdogan gewählt.
Sprich es sind knapp 32% der Wahlberechtigten und auf die Gesamtpopulation bezogen gut 16 %.

Nun passieren solche sprachlichen Ungenauigkeiten öfters und vermutlich auch häufig unbeabsichtigt - aber gerade wenn ein gesamtes Gedankengebäude („Integrationsversagen?“) auf einer falschen Annahme beruht, sollte man m. E. mal kurz innehalten und nachrechnen.

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Ich bin in Kontakt mit Menschen, die aus Überzeugung Erdogan gewählt haben. Diese Menschen konsumieren deutsche Medien nicht oder nur selten, sondern nur türkische Medien. Sie können teils gar kein Deutsch.

Wenn ich sie damit konfrontiere, dass Erdogan die Demokratie in der Türkei abbaut und Medienschaffende verfolgt, entgegnen sie mit Erdogans Argumenten: Diese Leute sind Terroristen. Und in der Opposition stehen auch alle den Terroristen nah. Erdogan hat also ganze Überzeugungsarbeit geleistet.

Überraschter bin ich jedoch darüber, dass dieselben Menschen in Detaildiskussionen jedoch eine völlig andere Sicht auf die Demokratie offenbaren. Sie sagen, dass mehr Demokratie ja mehr Laizismus bedeute und dann wieder Studentinnen an türkischen Unis kein Kopftuch mehr tragen dürften. So war das tatsächlich vor Erdogan. Sie begreifen aber nicht, wenn ich ihnen erkläre, dass Demokratie nicht gleich Laizismus ist, und dass unabhängige Medien für Demokratie unabdingbar sind.

Denn in ihrer Welt ist Demokratie etwas, was von Staatsgründer Atatürk vor genau 100 Jahren auf das türkische Volk aufgezwungen wurde neben vielen anderen „verwestlichenden“ Aspekten, wie eine neue Schrift (zuvor verwendete man die arabische Schrift). Daher hat das Wort „Demokratie“ eine völlig andere Bedeutung und steht insbesondere - wie in vielen anderen Ländern - eben nicht für die Freiheit, die vom Volke ausgeht, sondern ist ein Symbol von Verwestlichung. Und viele konservative und religiöse Menschen finden daher die Art, wie Erdogan die Macht erhält weniger wichtig als den Umstand, dass er doch bitte an der Macht bleiben solle, sonst wird die Türkei wieder schwach und wird weiter vom Westen unterdrückt.

Ich kann nicht sagen, ob diese Vorstellungen schon vor Erdogan da waren und er sie jetzt nur nutzt, oder ob sie von ihm gezielt geschürt wurden. Aber solche Dinge höre ich.

Ich persönlich kenne mich mit der Politik in der Türkei nicht aus. Ich halte aber generell nichts von politisch unterdrückten Medien oder Einzelpersonen, die länger als 12 Jahre regieren. Aber gleichzeitig sollte ein Volk immer selbst entscheiden, was das Beste für sie ist. Daher verurteile ich diese Meinungen und Sichtweisen nicht, wie einige andere hier. Aber ich teile gerne Erfahrungen, in der Hoffnung, dass sich dadurch insgesamt ein besseres Verständnis ergibt.

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Die Verteilung die man betrachten muss ist diese:

Weiße Türken (türkisch Beyaz Türkler) ist ein in der Türkei gebrauchtes politisches Schlagwort für die urbane republikanische Elite. Weiße Türken stehen in einem gedachten Gegensatz zu den sogenannten Schwarzen Türken (Kara Türkler oder Siyah Türkler), womit islamisch geprägte Türken anatolischer Herkunft bezeichnet werden.

Weiße Türken sind die KK-Wähler und sie sind schon immer eine Minderheit gewesen auch in den Großstädten. Du musst verstehen dass das hier ein Land ist ohne Mittelschicht. Große Teile von Istanbul sind wenig mehr als anatolische Kleinstädten.

Im Osten sind es überwiegend HDP-Wähler die sich mit KK eingelassen haben in der Hoffnung RTE loszuwerden. Sonst würden sie nie so abgewählt haben. Politisch gibt es da kaum Übereinkommen.

Aber warum sprechen wir hier, z. B. in

und auch in den Medien dann immer über ländliche Türken und städtische Türken.

Bei dir liest es sich eher so, als ginge es um die türkische Elite vs. sozial schwächere Türken. Was ist nun richtig?

Ich würde sagen dass eigentlich kaum ein westlicher Kommentator Ahnung hat von der Türkei. Das ist ein absurd komplexes Land und im Fernsehen wird das immer grob vereinfacht.

Städtisch bedeutet sehr wenig wenn man sich die Zusammenstellung von Großstädte wie Adana, Konya, Kayseri, Ankara usw. anguckt. Selbst wenn die für KK gewählt haben, gibt es dort eine große Minderheit von Zugezogenen aus ländlichen Gebieten.

Es stimmt dass die progressivere, gebildete und reichere Leute entweder in den Städten oder im Westen/an den Küsten wohnen. Das bedeutet nicht dass dort keine çomar wohnen.

Das kann man auf der Karte hier gut sehen: Seçim Sonuçları 2023 - 2. Tur Cumhurbaşkanlığı Seçim Sonucu Ve Oy Oranları

Wie gesagt, die Leute im Osten hätten lieber auf der HDP gewählt aber haben strategisch gegen RTE (nicht so sehr für KK) abgestimmt.

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